Vor 20 Jahren, am 1. Januar 1995, wurde die Soziale Pflegeversicherung als Elftes Buch (SGB XI) in den Kanon der Sozialversicherung aufgenommen. Seitdem mühte sich die Legislative – wie bei jedem großen Gesetzeswerk – um dessen Änderung und Anpassung, sei es beispielsweise durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (2008), dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz (2012/2013) oder zuletzt durch das Erste Pflegestärkungsgesetz (2014/2015).
Die langersehnte „ganz große Änderung“ – die Modernisierung des vielfach kritisierten Pflegebedürftigkeitsbegriffs sowie der damit verbundenen Pflegestufen – blieb jedoch bislang aus. Das soll nun mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II), dass die Bundesregierung nun beschlossen hat, nachgeholt werden.
Langersehnt: Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff
Kritiker führen Defizite bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen regelmäßig auf die ihrer Ansicht nach zu enge, zu sehr somatisch ausgerichtete und zu sehr auf Verrichtungen abgestellte Definition der Pflegebedürftigkeit (vgl. § 14 SGB XI) zurück. Als Ergebnis würden wesentliche Aspekte, wie der Bedarf an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung, insbesondere bei Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, zu wenig berücksichtigt.
Nach der nun vorgesehenen Neudefinition gelten Personen als pflegebedürftig, wenn sie gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb auf eine Unterstützung durch andere angewiesen sind. Maßgeblich dafür sind Beeinträchtigungen in den sechs Bereichen:
- Mobilität,
- kognitive und kommunikative Fähigkeiten,
- Verhaltensweisen und psychische Problemlagen,
- Selbstversorgung,
- Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen,
- Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
Entscheidend für die Feststellung, wie pflegebedürftig jemand ist, wird also der Grad der Selbständigkeit sein. Unverändert gilt: Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, bestehen.
Pflegegrade statt Pflegestufen: Aus drei mach fünf
In enger Verbindung zum gegenwärtigen Pflegebedürftigkeitsbegriff stehen die sogenannten Pflegestufen (vgl. § 15 SGB XI). Diese beschreiben den Umfang des notwendigen Hilfebedarfs des Pflegebedürftigen mittels der Ausprägungen „erheblich“ (Stufe I), „schwer“ (Stufe II) und „schwerste“ (Stufe III). Je nach Pflegestufe unterscheidet sich auch die Höhe der Leistungen.
Die für die Pflegestufen herangezogenen Definitionskriterien gelten seit jeher als unzureichend. So fallen Bedürftige, bei denen beispielsweise ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege zu erkennen ist, regelmäßig durch das Raster, wenn der Umfang der von ihnen benötigten Hilfe nicht mindestens als „erheblich“ eingestuft wird. Gleiches gilt auch für Personen, bei denen ein Betreuungsbedarf ohne Bezug auf die im Pflegebedürftigkeitsbegriff beschriebenen Verrichtungen besteht, wie es zum Beispiel bei Menschen mit Demenz häufig der Fall ist.
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz sieht statt der drei Pflegestufen nunmehr fünf Pflegegrade vor. Die Zuweisung zu den jeweiligen Pflegegraden erfolgt mittels des ebenfalls „Neuen Begutachtungsassessment“ (NBA). Mit diesem Instrument, dass bereits auf seine Praxistauglichkeit hin überprüft worden ist, zukünftig möglich sein, Einschränkungen im Alltag differenzierter zu beurteilen und leistungsmäßig abzubilden. Gegenüber dem jetzigen Beurteilungsverfahren wird dabei stärker geschaut, ob Menschen kognitiv oder psychisch beeinträchtigt sind. „Auch die geistige Beeinträchtigung wird zum Gegenstand der Begutachtung“, so Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. „Das spielt eine große Rolle bei Demenz. Denn viele Menschen sind zu alltäglichen Verrichtungen in der Lage, müssen aber vielleicht regelmäßig daran erinnert werden.“
Wer bereits Leistungen der Pflegeversicherung erhält, wird ohne erneute Begutachtung in das neue System übergeleitet. Dabei soll keiner der bisherigen Leistungsbezieher schlechter gestellt werden.
Bessere Absicherung für Pflegepersonen
Für alle Pflegepersonen – bislang galt dies nur für Angehörige – wird mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz eine Pflichtversicherung in der Arbeitslosenversicherung eingeführt. Für Pflegepersonen, die aus dem Beruf aussteigen, um sich um pflegebedürftige Angehörige zu kümmern, bezahlt die Pflegeversicherung künftig die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für die gesamte Dauer der Pflegetätigkeit. Die Pflegepersonen haben damit Anspruch auf Arbeitslosengeld und Leistungen der aktiven Arbeitsförderung, falls ein nahtloser Einstieg in eine Beschäftigung nach Ende der Pflegetätigkeit nicht gelingt. Gleiches gilt für Personen, die für die Pflege den Leistungsbezug aus der Arbeitslosenversicherung unterbrechen.
Künftig zahlt die Pflegeversicherung zudem Rentenbeiträge für alle Pflegepersonen, die einen Pflegebedürftigen im Pflegegrad 2 bis 5 mindestens zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf mindestens zwei Tage, zu Hause pflegen. Die Rentenbeiträge steigen mit zunehmender Pflegebedürftigkeit. Wer einen Angehörigen mit außerordentlich hohem Unterstützungsbedarf (Pflegegrad 5) pflegt, erhält um 25 Prozent höhere Rentenbeiträge als bisher. Außerdem werden mehr Menschen unterstützt. Denn auch Angehörige, die einen ausschließlich demenzkranken Pflegebedürftigen betreuen, werden über die Rentenversicherung abgesichert.
Weitere Regelungen des Pflegestärkungsgesetzes
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz sieht weiterhin vor, dass Versicherte, die sich in stationären Pflegeeinrichtungen befinden, künftig Anspruch auf zusätzliche Betreuungsangebote haben. Die Einrichtungen sollen deshalb mit den Pflegekassen entsprechende Vereinbarungen schließen und zusätzliche Betreuungskräfte einstellen.
Des Weiteren stärkt das Gesetz den Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“. Zu diesem Zweck wird der Medizinische Dienst zur Anwendung eines bundesweit einheitlichen, strukturierten Verfahrens für die Empfehlung von Rehabilitationsleistungen verpflichtet.
Weiterhin sieht das Gesetz die grundlegende Überarbeitung der die Regelungen und Entscheidungsstrukturen zur Qualitätssicherung, ‑prüfung und ‑darstellung vor. Unter anderem soll die Schiedsstelle Qualitätssicherung nach § 113b SGB XI zu einem Qualitätsausschuss umgebildet werden. Zu den Aufgaben des Ausschuss zählen dann beispielsweise die Neukonzipierung eines Verfahrens zur Qualitätsdarstellung (der sogenannte „Pflege-TÜV“).
Finanzielles
Um die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes und die damit verbundenen Leistungsverbesserungen zu finanzieren, steigt der Betragssatz der Pflegeversicherung zum 1. Januar 2017 um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent bzw. 2,8 Prozent für Kinderlose.