Die Konzertierte Aktion Pflege (KAP) will nicht alles, aber vieles besser machen. So soll in der Ambulanten Pflege der Umstieg auf eine Zeitvergütung Druck von den Pflegekräften nehmen. In einem Interview hat die Redaktion der Rechtsdepesche den Pflegeexperten Dr. Jan Basche dazu befragt. Der Geschäftsführer mehrerer ambulanter Pflegedienste ist überzeugt: Wenn man ein solches Projekt übers Knie bricht, beschleunigt das nur die Deprofessionalisierung der Ambulanten Pflege, ändert nichts an der Sandwich-Position der Pflegefachkräfte und führt zu noch mehr Minutenpflege als vorher.
Rechtsdepesche: Sie haben vor einigen Tagen in einem Artikel die wesentlichen Inhalte aus der Konzertierten Aktion Pflege zur Digitalisierung vorgestellt und bewertet. Ein spannendes Thema der KAP ist die Idee einer Zeitvergütung für Pflegeleistungen. Was ist Ihre Position dazu?
Dr. Jan Basche: Zu einem derart breit aufgestellten Gremium wie der KAP gehört, dass jeder Beteiligte seine Lieblingsideen einbringen darf. So findet man tatsächlich auch die Zeitvergütung unter den Maßnahmen 6 und 7 zum Thema „Pflegerische Versorgung auf Basis des pflegewissenschaftlich fundierten Verständnisses von personenzentrierter Pflege“ der Arbeitsgruppe 3. Das hört sich zunächst gut an, nicht wahr? Es droht aber, wenn man nicht aufpasst, ein weiterer Schritt zur Deprofessionalisierung der Ambulanten Pflege zu werden. Personenzentrierte Versorgung kennen wir schon lange aus der Eingliederungshilfe und der Jugendhilfe. Niemand käme dort auf die Idee, die Sozialarbeiter einfach mit einem Zeitkontingent auf die Klienten loszulassen. Niemand bestellt ja auch einen Physiotherapeuten oder einen Handwerker pauschal für 30 Minuten nach Hause. Bei jeder Dienstleistung ist vor dem Auftrag klar, was erledigt werden muss. Nur für die Pflege soll das nicht gelten. Sie soll wieder für alles und nichts zuständig sein.
Rechtsdepesche: Führt denn die Zeitvergütung zwangsläufig zu einer Deprofessionalisierung?
Basche: Solche Ideen entstehen nicht im luftleeren Raum. Die Ambulante Pflege steht schon seit einigen Jahren von mehreren Seiten unter Druck. Bereits 2013 wurden Betreuungsdienste nach § 125 SGB XI als neuer Leistungstyp initiiert. Das erfolgte zunächst im Rahmen eines Modellprojekts. Die Ergebnisse der Begleitforschung liegen inzwischen vor. Anfang 2017 wurde im Zuge der Pflegestärkungsgesetze mit dem neuen § 45a SGB XI vom Gesetzgeber festgelegt, dass fast die Hälfte der Sachleistungsbudgets zur Verfügung steht für eine Umwandlung in niedrigschwellige Entlastungsangebote. Damit wurde den Pflegediensten potenziell ein erheblicher Teil ihrer Umsätze entzogen.
Die neuen Versorgungsformen haben signifikant niedrigere Qualitätsanforderungen und damit einen echten Wettbewerbsvorteil gegenüber Pflegediensten, auch wenn für die Betreuungsdienste geplant ist, dass es mit einem neuen § 71 Absatz 1a SGB XI eine weitgehende Angleichung an die Pflegedienste geben soll. Die Kostenträger argumentieren, das alles erfolge im Interesse der Versicherten, die dank der geringeren Anforderungen und der damit auch geringeren Kosten mehr Leistungen für das gleiche Geld beauftragen könnten.
Rechtsdepesche: Das sind Beispiele aus der Pflegeversicherung. Trifft das auch zu auf die Leistungen der Krankenversicherung?
Basche: Dort setzt sich die Deprofessionalisierung unter anderem darin fort, dass mehr und mehr Leistungen aus dem Katalog der Häuslichen Krankenpflege, also der HKP-Richtlinie des G‑BA, für Helferinnen geöffnet werden. Offenbar versorgungspolitisch gewollt sinkt damit das Qualitätsniveau. So wird aber nur Druck aus dem Kessel genommen. Und nebenbei wird auch der Leitsatz ambulant vor stationär ausgehöhlt. Niemand käme doch auf die Idee, für ein Krankenhaus light oder ein Pflegeheim light zu plädieren. Entscheidend ist, dass nach wie vor ein echtes Gegenangebot für die Pflegefachkräfte fehlt. Allen Initiativen zur Aufwertung des Pflegeberufes zum Trotz erleben diese in der Realität einen schleichenden Bedeutungsverlust. Die Fachkräfte sitzen in der Sandwich-Falle: von oben geben die ärztlichen Berufe keine Aufgaben ab, von unten übernehmen die Hilfskräfte immer mehr Aufgaben. Dadurch sind jedenfalls in der Ambulanten Pflege die Fachkräfte in fast jeder Hinsicht nicht Gewinner, sondern Opfer der vielen Pflegereformen der vergangenen Jahre.
Rechtsdepesche: Blicken wir noch einmal auf die Pflegebedürftigen. Könnte eine Zeitvergütung für diese nicht zu mehr Selbstbestimmung führen, wenn sie dann freier entscheiden dürften, welche Leistungen sie in Anspruch nehmen?
Basche: Die KAP selbst macht hier nur erstaunlich unpräzise Vorschläge. Genannt werden einzig „Anleitung und Beratung von Pflegebedürftigen und Angehörigen“ in Maßnahme 6, und die gibt es schon längst, zum Beispiel im Rahmen der individuellen Schulungen nach § 45 SGB XI. Dafür braucht man weder eine Konzertierte Aktion noch eine Zeitvergütung.
Dass die Zeitvergütung eine riesige Verbesserung für alle Beteiligten wäre, also Pflegebedürftige, Pflegedienste und Pflegekassen, wird ja immer wieder behauptet. Da wird dann Wingenfeld zitiert und eine „flexible, passgenaue und individuell bedarfsgerechte Versorgung“ prophezeit. Ich glaube nicht an diese Erwartung. Seit Einführung der Möglichkeit einer Zeitvergütung mit dem PNG Ende 2012 sind bereits über sechs Jahre vergangen, ohne dass sich die Idee bundesweit durchgesetzt hätte. Sechs Jahre sind in der Sozialgesetzgebung eine halbe Ewigkeit. Könnte man vom § 89 Absatz 3 SGB XI wirklich ein Win-Win-Win erwarten, wären wir schon weiter.
Rechtsdepesche: Die Zeitvergütung würde also nicht zu mehr Selbstbestimmung für die Pflegebedürftigen führen?
Basche: Nehmen wir noch einmal die Formulierung von Wingenfeld. Wirklich flexibel kann die Leistungserbringung spätestens dann nicht mehr sein, wenn der Träger der Sozialhilfe, also das Sozialamt, als Kostenträger beteiligt ist. Das ist in den armen Großstädten, in denen viele Menschen mit niedrigen Renten oder sogar nur Grundsicherung leben, regelmäßig der Fall. Da das Sozialamt nach dem Bedarfsdeckungsprinzip entscheidet, ist der Pflegebedürftige gerade nicht mehr frei und flexibel in seiner Wahl, was genau er beim Pflegedienst beauftragt, und hat einen nur sehr geringen Einfluss auf die Entscheidung, welche Leistungen erbracht werden und welche nicht. Sobald das Sozialamt auch nur mit einem Euro an der Finanzierung der Pflege beteiligt ist, nimmt es dem Pflegebedürftigen den gesamten Leistungsanspruch aus dem Pflegegrad zur Aufrechnung aus der Hand. Sowohl der Pflegebedürftige als auch der Pflegedienst stehen dann vor vollendeten Tatsachen, denn nur die wenigsten Pflegebedürftigen haben den Mut, gegen einen Bescheid des Sozialamts Widerspruch einzulegen oder gar Klage einzureichen.
Rechtsdepesche: Offenbar haben diesen Umstand die wenigsten vor Augen, wenn sie über Zeitvergütung sprechen.
Basche: Ja, offenbar. Noch schwerer wiegt, dass der Konflikt darüber, was in der vereinbarten Zeit tatsächlich geleistet werden soll, auf dem Rücken der Pflegekräfte ausgetragen wird. Wenn eine halbe Stunde Pflege eingekauft wird, hat jeder Pflegebedürftige und übrigens auch jedes Sozialamt eine andere Vorstellung davon, wie viel in dieser halben Stunde im Haushalt zu schaffen ist. Das führt unvermeidlich zu Konflikten vor Ort. Noch mehr Stress brauchen die Pflegekräfte aber wirklich nicht. Und setzt man feste Werte an, etwa 30 Minuten fürs Duschen, bleibt die Frage unbeantwortet, was passiert, wenn das Duschen länger dauert, weil es dem Pflegebedürftigen an dem Tag gerade nicht gut geht und er sich langsamer als sonst bewegt.
Rechtsdepesche: Wie wahrscheinlich sind in der Ambulanten Pflege solche Konflikte vor Ort?
Basche: Sie dürfen mir glauben, dass ich da nicht am grünen Tisch sitze. Ich sehe meine Pflegekräfte jeden Tag. Dass die Pflegebedürftigen versuchen werden, gerade in der Hauswirtschaft so viel wie möglich aus einer halben oder einer vollen Stunde heraus zu holen, kann man ihnen nicht verübeln. Auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums steht unter den Informationen zur KAP zwar als bisher unerreichtes Ziel, dass „eine finanzielle Überlastung der Pflegebedürftigen durch steigende Eigenanteile zu verhindern ist“. Es geht aber nicht nur um Eigenanteile. Wir erleben seit Jahren, dass die für höhere Löhne der Pflegekräfte notwendigen Vergütungserhöhungen natürlich auch Preiserhöhungen bedeuten. Da der Finanzierungsanspruch aus den Pflegegraden seit ihrer Einführung Anfang 2017 nicht erhöht wurde, können sich die Pflegebedürftigen mit jedem Jahr immer weniger Pflege leisten. Das ist nichts anderes, als ob im Supermarkt jedes Jahr die Preise erhöht werden, aber die Renten nicht steigen.
Rechtsdepesche: Unter welchen Umständen könnte eine Zeitvergütung überhaupt eine Verbesserung sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegekräfte bedeuten?
Basche: Eine Zeitvergütung für die Pflege ist dann sinnvoll, wenn die Pflegebedürftigen tatsächlich frei sind in ihrer Entscheidung darüber, welche Leistungen sie beim Pflegedienst beauftragen, und diese Entscheidung nicht einem Kostenträger überlassen müssen. Sie ist dann sinnvoll, wenn zwischen Pflegebedürftigen und Pflegediensten von Anfang an klar vereinbart werden kann, welche Leistungen innerhalb des Zeitkontingents realistisch zu erbringen sind und wie mit situativ notwendigen Änderungen umgegangen wird – Pflege ist jeden Tag anders. Und sie ist dann sinnvoll, wenn es über Formen und Fachlichkeit der Pflege vor Ort keinen Streit gibt. Das alles ist nicht selbstverständlich. So legt etwa der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ganz richtig einen starken Akzent auf Kommunikation. Wingenfeld nennt hier insbesondere Beratung, die „Erweiterung der Selbstpflegekompetenz“ sowie einen pflegefachlichen „Diskussions- und Aushandlungsprozess“. Die Erfahrung zeigt, dass die wenigsten Pflegebedürftigen bereit sein dürften, solche Kommunikation aus ihrem Pflegebudget zu bezahlen.
Es wird gern behauptet, die Zeitvergütung würde Druck von den Pflegekräften nehmen und ein Ende der Minutenpflege bedeuten. Das ist Unsinn. Zeitvergütung bedeutet Minutenpflege zum Quadrat. Niemand liebt die tayloristisch durchnummerierten Leistungskomplexe. Aber im System der Leistungskomplexe mit ihren pauschalen Zeitkorridoren muss sich keine Pflegekraft dafür rechtfertigen, warum sie in einer halben Stunde weniger schafft als die Kollegin am Vortag.
So richtig es ist, dass die Gehälter der Pflegekräfte steigen müssen und das nicht ohne Preiserhöhungen für die Pflegeleistungen finanziert werden kann, und so richtig es ist, dass das nicht zulasten der Pflegebedürftigen gehen darf, so falsch ist es, dass an diesem Punkt die meisten Beteiligten leider aufhören weiter zu denken. Verbesserungen für Pflegebedürftige dürfen genauso wenig zulasten der Pflegekräfte gehen. Wenn es Fortschritte in der Pflege für die einen nur auf Kosten der anderen gibt, versagt das System.