Mehr Qualität in der Wundversorgung?
Rechtsdepesche: Die neue HKP-Richtlinie und in Ergänzung dazu die Rahmenempfehlungen nach §132a Absatz 1 SGB V versprechen eine höhere Qualität bei der Versorgung von chronischen und schwerheilenden Wunden. Schauen wir uns die Qualität der bislang erbrachten Wundversorgung an, stellt sich die Frage, ob eine neue Qualitätsinitiative überhaupt notwendig war.
Gabriele Stern: Notwendig schon, weil damit eine einheitliche Qualität gesichert werden soll. Vorher konnten Pflegeperson – auch ohne spezielle Ausbildung – sich den Wundpatienten annehmen, was dann nicht immer ganz so optimal lief, weil einfach das Fachwissen fehlte. Ob die Qualitätsinitiative allerdings in der Art notwendig war, wie sie jetzt umgesetzt wurde, weiß ich nicht. Wir haben jetzt andere riesige Probleme.
Rechtsdepesche: Zu den Problemen wollen wir gleich kommen. Häufig wird eine Ausgrenzung durch die neue HKP-Richtlinie beklagt: Die auf Länderebene bestehende zweijährige Altenpflegehilfeausbildung reicht jetzt nicht mehr, um chronische oder schwerheilende Wunden zu versorgen. Auch medizinische Fachangestellte dürfen die Leistung nicht mehr erbringen. Ist das gerecht?
Stern: Ach, wenn man das so hört, klingt das erst mal immer so böse. Mit Sicherheit gibt es auch nicht qualifiziertes Personal, das eine gute Wundversorgung leisten kann, aber das Gros eben nicht. Deshalb finde ich die neuen Anforderungen eigentlich schon gerechtfertigt. Und da muss ich leider sagen, dass bestimmte Berufsgruppen nun mal ausgrenzen werden müssen.
Wenn es auch dort einzelne Personen geben mag, die das drauf haben. Generell muss man aber davon ausgehen, dass der Wissensstand nicht der gleiche ist. Ich bin schließlich auch kein Arzt, deshalb darf ich nicht einfach einen Patienten nehmen und eine Bein-OP durchführen.
Rechtsdepesche: Besonders die 84 Unterrichtseinheiten und die jährliche Weiterbildung von jeweils 10 Unterrichtseinheiten, die absolviert werden müssen, um eine entsprechende Qualifikation zu erlangen, gelten als zu viel. Wie schätzen sie diese Anforderung ein?
„Es fehlt praktische Übung“
Stern: Ich finde es wichtig, dass man viele Unterrichtseinheiten macht. Meiner Meinung nach könnten es noch mehr sein. Was bei den Pflegefachpersonen viel mehr fehlt, ist praktische Übung – nicht so sehr das Fachwissen. Viele lassen sich aber gar nicht auf das Thema Wundversorgung richtig ein. Die machen die Spezialisierung nur, damit sie diese Leistung erbringen dürfen und haben am Ende trotzdem keine Ahnung, wie man eine schwerheilende Wunden praktisch richtig versorgt.
Rechtsdepesche: Wie sehen denn weitere konkrete Probleme aus, vor denen sie stehen?
Stern: Schauen wir mal auf die BWL-Seite des Themas, denn ich bin ja auch Unternehmerin. Für manche Pflegedienste refinanziert sich diese zusätzliche Spezialisierung einfach nicht. Die finanziellen Probleme kommen nicht daher, weil die Kursgebühren für die Unterrichtseinheiten zu hoch sind, sondern weil die Vergütung em Ende nicht ausreicht. Es kursieren aktuell unterschiedliche Preise für die gleiche Leistung auf dem Markt.
Rechtsdepesche: Das heißt die spezialisierten Einrichtungen können nicht in Konkurrenz treten mit Anbietern, die es auch für weniger Geld machen?
Das große Problem: Vergütung
Stern: Ich habe mal Folgendes ausgerechnet: Damit ein Verbandswechsel bei chronischen und schwerheilenden Wunden lukrativ für uns ist, müssten wir die Gebühr bei 120 Euro ansetzen. Das wird aber nicht passieren, weil es immer Leute gibt, die das unterbieten und den Markt damit schwächen. Jeder kocht aktuell sein Süppchen, dabei müsste man sich überregional organisieren und absprechen. Sonst kommen eben diese unterschiedlichen Preise ans Tageslicht, die ganz ehrlich nicht realistisch sind.
Ich habe von Verbandwechseln für 40 Euro gehört. Kein Handwerker würde für 40 Euro rausfahren und Ihnen eine Waschmaschine anschließen. Und wir sitzen da mit komplexen Wunden von Menschen, die Bedürfnisse haben. Der Spagat zwischen Empathie, Fachlichkeit und Vergütung ist hier das ganz große Problem. Da verstehe ich auch die Krankenkassen, wenn die sagen: „Ich bekomme die Leistung auch für weniger Geld, mich interessiert nicht wie die Qualität dahinter aussieht“. Am Ende geht es sowieso immer nur ums Geld.
Rechtsdepesche: Wie schätzen Sie denn aktuell die Situation mit den Krankenkassen ein. Haben die einen Blick dafür, wie aufwendig so eine Wundversorgung ist und sind die dann bereit entsprechend zu zahlen?
Stern: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube tatsächlich, dass da irgendwelche Leute vor ihren Flipcharts sitzen und einfach alles abschmettern. Aber wie gesagt, dadurch, dass wir so unterschiedlich sind, keine Lobby und keine Verbandsarbeit haben, sagen sich die Kassen: „ist doch gut, wenn es Pflegedienste gibt, die Verbände für 40 Euro wechseln“. Ich glaube die Kassen werden erst dann aufhorchen, wenn die Patienten auf die Barrikaden gehen und sagen, sie werden nicht anständig versorgt.
Aber nicht nur das Finanzielle spielt hier eine Rolle, sondern auch die Tatsache, dass es einfach zu wenig Personal gibt. Auch die Arztpraxen, die eigentlich ebenfalls Wundversorgung vornehmen müssten, haben keine Zeit mehr dafür. Also mein Hausarzt arbeitet bis 23 Uhr nachts. Seine Praxis ist brechend voll und für die Wundpatienten muss durchgängig ein Raum blockiert werden. Das geht doch nicht.
Versorgung der Patienten droht einzubrechen
Rechtsdepesche: Jetzt haben sie schon das fehlende Personal angesprochen. Die HKP-Richtlinie hat die zusätzlichen Qualifikationsanforderungen für die Versorgung von schwerheilenden Wunden nicht zwingend verpflichtend gemacht, sondern sich ein Hintertürchen mit einer „soll“ Formulierung gelassen. Zum Glück muss man sagen, denn spezialisiertes Personal gibt es auch über zwei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Regelung noch zu wenig. Wird sich das in den nächsten Jahren ändern?
Stern: Nein, ich denke nicht. Ich habe bei neun Pflegediensten hier aus der Region um Bocholt nachgefragt, wie sie mit den neuen Vorgaben umgehen. Von diesen neun kannten drei die HKP-Richtlinie nicht. Das muss man sich mal überlegen. Der größte dieser Pflegedienste meint, sie hätten mal einen Testlauf gemacht, der aber aus organisatorischen Gründen nicht geklappt hat.
Ein anderer Pflegedienst, der an die Caritas angebunden ist, hatte zu diesem Thema eine Sitzung einberufen. Die hatten sich aktiv gegen diese zusätzliche Spezialisierung ausgesprochen, weil es monetär einfach nicht machbar ist. Der Umkehrschluss ist, dass Bocholt jetzt eine dramatische Lücke bei der Versorgung von chronischen und schwerheilenden Wunden hat. Und das ist nach meiner Ansicht auch ein überregionales Problem.
Rechtsdepeschen: Mit den ganzen Problemen, die sie genannt haben: Für wie wirksam halten Sie die neue Qualitätsinitiative? Konnte die Wundversorgung in der Gesamtschau trotz allem zumindest etwas verbessert werden?
„An der Gesamtsituation hat sich nichts getan“
Stern: Also es gibt mit Sicherheit vereinzelt Pflegedienste, die sich spezialisieren. Aber für mein Verständnis hat sich gar nichts an der Gesamtsituation getan. Und ich frage mich ernsthaft, ob diese neue Qualitätsinitiative in Zukunft überhaupt noch weiterverfolgt werden wird oder ob es nicht doch eher Absprachen mit den Krankenkassen über die Vergütung geben sollte.
Rechtsdepesche: Was sind die großen Hürden, die es in der spezialisierten Versorgung gibt, die überwunden werden müssen?
Stern: Also die erste Hürde ist die Politik – eindeutig. Wir haben keine Lobby. Aber davor kommt eigentlich noch die mangelnde Bereitschaft von den Versorgern selbst, sich zu vereinigen. Aktuell werden eben privat Termine mit den Krankenkassen gemacht und dann Verträge für einen bestimmten Betrag geschlossen, für den andere nicht mal rausfahren würden. Solange wir das nicht unter einen Hut bekommen, sehe ich schwarz. Irgendwann wird dann jemand zur HKP-Richtlinie sagen: „na ja, es hat halt nicht geklappt“. Und die Qualität wird sinken, das weiß ich jetzt schon.
Zur Person: Gabriele Stern ist examinierte Krankenschwester und Stoma-Therapeutin. Seit 2007 ist sie Inhaberin eines ambulanten Therapie-Zentrums in Bocholt, das unter anderem qualifizierte Leistungen für die Wundversorgung anbietet. Dazu gehört das Monitoring und die Durchführung der Wundversorgung, aber auch die Schulung von Pflegediensten sowie Patienten und Angehörigen. 2011 hat Stern ein Master-Studium im Wundmanagement an der Universität Salzburg abgeschlossen. Außerdem ist sie Fachkrankenschwester für Psychiatrie.