Wundversorgung
Gabriele Stern leitet seit 2007 ein ambulan­tes Thera­pie-Zentrum in Bocholt.

Mehr Quali­tät in der Wundver­sor­gung?

Rechts­de­pe­sche: Die neue HKP-Richt­li­nie und in Ergän­zung dazu die Rahmen­emp­feh­lun­gen nach §132a Absatz 1 SGB V verspre­chen eine höhere Quali­tät bei der Versor­gung von chroni­schen und schwer­hei­len­den Wunden. Schauen wir uns die Quali­tät der bislang erbrach­ten Wundver­sor­gung an, stellt sich die Frage, ob eine neue Quali­täts­in­itia­tive überhaupt notwen­dig war.

Gabriele Stern: Notwen­dig schon, weil damit eine einheit­li­che Quali­tät gesichert werden soll. Vorher konnten Pflege­per­son – auch ohne spezi­elle Ausbil­dung – sich den Wundpa­ti­en­ten anneh­men, was dann nicht immer ganz so optimal lief, weil einfach das Fachwis­sen fehlte. Ob die Quali­täts­in­itia­tive aller­dings in der Art notwen­dig war, wie sie jetzt umgesetzt wurde, weiß ich nicht. Wir haben jetzt andere riesige Probleme.

Rechts­de­pe­sche: Zu den Proble­men wollen wir gleich kommen. Häufig wird eine Ausgren­zung durch die neue HKP-Richt­li­nie beklagt: Die auf Länder­ebene bestehende zweijäh­rige Alten­pfle­ge­hil­fe­aus­bil­dung reicht jetzt nicht mehr, um chroni­sche oder schwer­hei­lende Wunden zu versor­gen. Auch medizi­ni­sche Fachan­ge­stellte dürfen die Leistung nicht mehr erbrin­gen. Ist das gerecht?

Stern: Ach, wenn man das so hört, klingt das erst mal immer so böse. Mit Sicher­heit gibt es auch nicht quali­fi­zier­tes Perso­nal, das eine gute Wundver­sor­gung leisten kann, aber das Gros eben nicht. Deshalb finde ich die neuen Anfor­de­run­gen eigent­lich schon gerecht­fer­tigt. Und da muss ich leider sagen, dass bestimmte Berufs­grup­pen nun mal ausgren­zen werden müssen.

Wenn es auch dort einzelne Perso­nen geben mag, die das drauf haben. Generell muss man aber davon ausge­hen, dass der Wissens­stand nicht der gleiche ist. Ich bin schließ­lich auch kein Arzt, deshalb darf ich nicht einfach einen Patien­ten nehmen und eine Bein-OP durch­füh­ren.

Rechts­de­pe­sche: Beson­ders die 84 Unter­richts­ein­hei­ten und die jährli­che Weiter­bil­dung von jeweils 10 Unter­richts­ein­hei­ten, die absol­viert werden müssen, um eine entspre­chende Quali­fi­ka­tion zu erlan­gen, gelten als zu viel. Wie schät­zen sie diese Anfor­de­rung ein?

„Es fehlt prakti­sche Übung“

Stern: Ich finde es wichtig, dass man viele Unter­richts­ein­hei­ten macht. Meiner Meinung nach könnten es noch mehr sein. Was bei den Pflege­fach­per­so­nen viel mehr fehlt, ist prakti­sche Übung – nicht so sehr das Fachwis­sen. Viele lassen sich aber gar nicht auf das Thema Wundver­sor­gung richtig ein. Die machen die Spezia­li­sie­rung nur, damit sie diese Leistung erbrin­gen dürfen und haben am Ende trotz­dem keine Ahnung, wie man eine schwer­hei­lende Wunden praktisch richtig versorgt.

Rechts­de­pe­sche: Wie sehen denn weitere konkrete Probleme aus, vor denen sie stehen?

Stern: Schauen wir mal auf die BWL-Seite des Themas, denn ich bin ja auch Unter­neh­me­rin. Für manche Pflege­dienste refinan­ziert sich diese zusätz­li­che Spezia­li­sie­rung einfach nicht. Die finan­zi­el­len Probleme kommen nicht daher, weil die Kursge­büh­ren für die Unter­richts­ein­hei­ten zu hoch sind, sondern weil die Vergü­tung em Ende nicht ausreicht. Es kursie­ren aktuell unter­schied­li­che Preise für die gleiche Leistung auf dem Markt.

Rechts­de­pe­sche: Das heißt die spezia­li­sier­ten Einrich­tun­gen können nicht in Konkur­renz treten mit Anbie­tern, die es auch für weniger Geld machen?

Das große Problem: Vergü­tung

Stern: Ich habe mal Folgen­des ausge­rech­net: Damit ein Verbands­wech­sel bei chroni­schen und schwer­hei­len­den Wunden lukra­tiv für uns ist, müssten wir die Gebühr bei 120 Euro anset­zen. Das wird aber nicht passie­ren, weil es immer Leute gibt, die das unter­bie­ten und den Markt damit schwä­chen. Jeder kocht aktuell sein Süppchen, dabei müsste man sich überre­gio­nal organi­sie­ren und abspre­chen. Sonst kommen eben diese unter­schied­li­chen Preise ans Tages­licht, die ganz ehrlich nicht realis­tisch sind.

Ich habe von Verband­wech­seln für 40 Euro gehört. Kein Handwer­ker würde für 40 Euro rausfah­ren und Ihnen eine Wasch­ma­schine anschlie­ßen. Und wir sitzen da mit komple­xen Wunden von Menschen, die Bedürf­nisse haben. Der Spagat zwischen Empathie, Fachlich­keit und Vergü­tung ist hier das ganz große Problem. Da verstehe ich auch die Kranken­kas­sen, wenn die sagen: „Ich bekomme die Leistung auch für weniger Geld, mich inter­es­siert nicht wie die Quali­tät dahin­ter aussieht“. Am Ende geht es sowieso immer nur ums Geld.

Rechts­de­pe­sche: Wie schät­zen Sie denn aktuell die Situa­tion mit den Kranken­kas­sen ein. Haben die einen Blick dafür, wie aufwen­dig so eine Wundver­sor­gung ist und sind die dann bereit entspre­chend zu zahlen?

Stern: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube tatsäch­lich, dass da irgend­wel­che Leute vor ihren Flipcharts sitzen und einfach alles abschmet­tern. Aber wie gesagt, dadurch, dass wir so unter­schied­lich sind, keine Lobby und keine Verbands­ar­beit haben, sagen sich die Kassen: „ist doch gut, wenn es Pflege­dienste gibt, die Verbände für 40 Euro wechseln“. Ich glaube die Kassen werden erst dann aufhor­chen, wenn die Patien­ten auf die Barri­ka­den gehen und sagen, sie werden nicht anstän­dig versorgt.

Aber nicht nur das Finan­zi­elle spielt hier eine Rolle, sondern auch die Tatsa­che, dass es einfach zu wenig Perso­nal gibt. Auch die Arztpra­xen, die eigent­lich ebenfalls Wundver­sor­gung vorneh­men müssten, haben keine Zeit mehr dafür. Also mein Hausarzt arbei­tet bis 23 Uhr nachts. Seine Praxis ist brechend voll und für die Wundpa­ti­en­ten muss durch­gän­gig ein Raum blockiert werden. Das geht doch nicht.

Versor­gung der Patien­ten droht einzu­bre­chen

Rechts­de­pe­sche: Jetzt haben sie schon das fehlende Perso­nal angespro­chen. Die HKP-Richt­li­nie hat die zusätz­li­chen Quali­fi­ka­ti­ons­an­for­de­run­gen für die Versor­gung von schwer­hei­len­den Wunden nicht zwingend verpflich­tend gemacht, sondern sich ein Hinter­tür­chen mit einer „soll“ Formu­lie­rung gelas­sen. Zum Glück muss man sagen, denn spezia­li­sier­tes Perso­nal gibt es auch über zwei Jahre nach Inkraft­tre­ten der neuen Regelung noch zu wenig. Wird sich das in den nächs­ten Jahren ändern?

Stern: Nein, ich denke nicht. Ich habe bei neun Pflege­diens­ten hier aus der Region um Bocholt nachge­fragt, wie sie mit den neuen Vorga­ben umgehen. Von diesen neun kannten drei die HKP-Richt­li­nie nicht. Das muss man sich mal überle­gen. Der größte dieser Pflege­dienste meint, sie hätten mal einen Testlauf gemacht, der aber aus organi­sa­to­ri­schen Gründen nicht geklappt hat.

Ein anderer Pflege­dienst, der an die Caritas angebun­den ist, hatte zu diesem Thema eine Sitzung einbe­ru­fen. Die hatten sich aktiv gegen diese zusätz­li­che Spezia­li­sie­rung ausge­spro­chen, weil es monetär einfach nicht machbar ist. Der Umkehr­schluss ist, dass Bocholt jetzt eine drama­ti­sche Lücke bei der Versor­gung von chroni­schen und schwer­hei­len­den Wunden hat. Und das ist nach meiner Ansicht auch ein überre­gio­na­les Problem.

Rechts­de­pe­schen: Mit den ganzen Proble­men, die sie genannt haben: Für wie wirksam halten Sie die neue Quali­täts­in­itia­tive? Konnte die Wundver­sor­gung in der Gesamt­schau trotz allem zumin­dest etwas verbes­sert werden?

„An der Gesamt­si­tua­tion hat sich nichts getan“

Stern: Also es gibt mit Sicher­heit verein­zelt Pflege­dienste, die sich spezia­li­sie­ren. Aber für mein Verständ­nis hat sich gar nichts an der Gesamt­si­tua­tion getan. Und ich frage mich ernst­haft, ob diese neue Quali­täts­in­itia­tive in Zukunft überhaupt noch weiter­ver­folgt werden wird oder ob es nicht doch eher Abspra­chen mit den Kranken­kas­sen über die Vergü­tung geben sollte.

Rechts­de­pe­sche: Was sind die großen Hürden, die es in der spezia­li­sier­ten Versor­gung gibt, die überwun­den werden müssen?

Stern: Also die erste Hürde ist die Politik – eindeu­tig. Wir haben keine Lobby. Aber davor kommt eigent­lich noch die mangelnde Bereit­schaft von den Versor­gern selbst, sich zu verei­ni­gen. Aktuell werden eben privat Termine mit den Kranken­kas­sen gemacht und dann Verträge für einen bestimm­ten Betrag geschlos­sen, für den andere nicht mal rausfah­ren würden. Solange wir das nicht unter einen Hut bekom­men, sehe ich schwarz. Irgend­wann wird dann jemand zur HKP-Richt­li­nie sagen: „na ja, es hat halt nicht geklappt“. Und die Quali­tät wird sinken, das weiß ich jetzt schon.

Zur Person: Gabriele Stern ist exami­nierte Kranken­schwes­ter und Stoma-Thera­peu­tin. Seit 2007 ist sie Inhabe­rin eines ambulan­ten Thera­pie-Zentrums in Bocholt, das unter anderem quali­fi­zierte Leistun­gen für die Wundver­sor­gung anbie­tet. Dazu gehört das Monito­ring und die Durch­füh­rung der Wundver­sor­gung, aber auch die Schulung von Pflege­diens­ten sowie Patien­ten und Angehö­ri­gen. 2011 hat Stern ein Master-Studium im Wundma­nage­ment an der Univer­si­tät Salzburg abgeschlos­sen. Außer­dem ist sie Fachkran­ken­schwes­ter für Psych­ia­trie.