Früher hatte der Facharzt für Chirurgie oder Orthopädie ein sehr abwechslungsreiches OP- und Behandlungsspektrum und behandelte alle anstehenden Erkrankungen seines Fachgebietes. Das bot ein sehr breites und interessantes Behandlungsfeld und immer wieder neue und spannende Fälle. Dabei gab es neben der Allgemeinen Chirurgie auch schon Spezialgebiete wie Gelenkchirurgie, Gefäßchirurgie, Viszeralchirurgie, Kinderchirurgie etc.
Analog der Forderung nach bestimmten Mindest-Fallzahlen in Krankenhäusern zur Qualitätsverbesserung werden zwischenzeitlich auch im ambulanten Bereich Stimmen laut, die eine zunehmende Spezialisierung befürworten. Ohne Zweifel reagiert ein Arzt, der einen Eingriff schon x‑fach gemacht hat, auf seltene oder unvorhersehbare Zwischenfälle routinierter und ruhiger als ein Arzt, der diese Behandlung selten durchführt und damit auch bei Schwierigkeiten eher ins Schleudern gerät.
Die Spezialisierung ist überall dort möglich, wo wir es mit planbaren Operationen zu tun haben, bei denen der Patient wochenlang im Voraus weiß, was auf ihn zukommt und sich so ganz bewusst für einen Operateur entscheiden kann. Aufgrund der zunehmend hohen Mobilität nehmen Patienten für die Reise zu „ihrem“ Operateur durchaus auch größere Wegstrecken in Kauf.
Trend in Privatpraxen
Im Bereich großer Privatpraxen entwickelt sich der Trend noch extremer. So geht die Spezialisierung so weit, dass sich diese Profis sogar innerhalb der Gelenkchirurgie nur auf ein Gelenk, z.B. Knie, Hüfte, Schulter etc. festlegen. Auch die Hand- und Fußchirurgie ist so diffizil, dass eine Spezialisierung sinnvoll ist und sich qualitativ niederschlägt. Die Bewertungen dieser Ärzte und ihr Renommee sind meist exzellent, da die Spezialisierung auch ein hohes Maß an Qualität bewirkt.
Bei der Bewertung von Ultraschall- oder Röntgenbildern führt eine hohe Fallzahl ebenfalls zu einer Zunahme der Diagnosesicherheit. So gibt es in großen Radiologie-Zentren inzwischen auch Spezialisierungen auf Brust, Thorax etc.
Jede Medaille hat zwei Seiten
Die Kehrseite der Medaille ist, dass sich die Ärzte dann nur noch in einem Spezialgebiet auskennen und die Spezialisierung häufig schon zu so einem frühen Stadium der Weiterbildung beginnt, sodass das Fach sich für junge Ärzte unattraktiv darstellt, da die Vielschichtigkeit fehlt. Zudem gestaltet sich die Vertretung eines ausgefallenen Kollegen aufgrund der Spezialisierungsgrade innerhalb der Fachbereiche wesentlich schwieriger.
Die Medizin benötigt auf jeden Fall auch weiterhin den Generalisten, der sich in mehreren Bereichen auskennt und sowohl im Rahmen der nicht im Voraus geplanten operativen Versorgung, der Notfallbehandlung, bei Unfällen als auch bei nicht eindeutig einer Körperregion zuordenbaren Erkrankungen agieren kann.
So ist es durchaus zu begrüßen, wenn niedergelassene Ärzte planbare Operationen, die sie selten machen an einen Spezialisten überweisen statt sich an wenigen Patienten „zu versuchen“. Insbesondere schwierige Operationen mit hohen Risiken für den Patienten gehören in die Hand eines routinierten Operateurs. Und es zeugt von Größe und hilft durchaus dauerhaft in der Patientenbindung, an einen guten und spezialisierten Kollegen zu verweisen.
Eine vergleichbare Situation gibt es auch bei den Allgemeinmedizinern, die nur unregelmäßig intraartikuläre oder gar wirbelsäulennahe Injektionen durchführen. Uns erreicht dann häufig die Frage: „Der Arzt macht das aber ganz selten, führt das nicht zu einer Prämienreduktion aufgrund des geringeren Risikos?“ Diese Frage kann man schnell beantworten, wenn man sich in die Position des Patienten versetzt und sich selbst die Frage stellt: „Von wem möchte ich lieber behandelt werden? Von einem Arzt, der diese OP/die Behandlung aus dem ff kennt und regelmäßig ausführt und somit auch unvorhergesehene Ereignisse im Griff hat oder von einem Arzt, der diesen Eingriff nur 2x pro Jahr macht?“
Hinzu kommt, dass die Erwartungshaltung der Menschen trotz hohen Alters gestiegen ist. Jeder möchte mobil und agil bleiben, so dass ein suboptimales Ergebnis auch nicht hingenommen wird. Und spätestens bei der Gutachterwahl für eine vermeintlich missglückte Behandlung wird auf jeden Fall der Spezialist zu Rate gezogen.
Tendenz über alle Fachgebiete
Der Trend zur Spezialisierung ist kein spezielles Phänomen der Chirurgie oder Orthopädie sondern greift vielmehr auch bei anderen Fachgebieten wie Gynäkologie, Augenheilkunde und vor allem auch in der Inneren Medizin. Hier haben sich die meisten Diversifikationen entwickelt. Es gibt den Spezialisten für die Onkologie, Rheumatologie, Diabetes, Gastroenterologie etc. Innerhalb der Fachabteilung für Innere im Krankenhaus finden sich extrem viele Spezialgebiete nebeneinander und auch im niedergelassenen Bereich setzen sich diese Konzentrationen fort.
Die zunehmende Bildung größerer Praxen mit mehreren Ärzten eines Fachgebietes, bei dem dann jeder seinen Schwerpunkt und sein „Lieblingsgebiet“ hat, in der er sich weiterentwickelt, verstärkt die Möglichkeiten einer Spezialisierung, so dass der Patient kompetent in einer Praxis betreut wird.
Fazit
Der Königsweg liegt vermutlich in der Parallelität von Spezialist und Generalist, die im besten Fall sogar die jeweiligen Vorteile des anderen nutzen können.
Der Generalist ist notwendig zur allgemeinen Versorgung, für die ganzheitliche Betrachtung des Patienten, für übergreifende Thematiken und Erkrankungen, zur Sicherstellung der ärztlichen Gesamtversorgung, im Bereich der Leitungsfunktion für diverse (kleinere) Spezialabteilungen, in der Weiterbildung und auch zur Weiterentwicklung des Fachbereiches.
Der Spezialist ist sinnvoll sowohl bei speziellen und sehr seltenen Eingriffen sowie bei weit im Voraus planbaren Operationen.
Quelle: Annette Dörr, HDI Vertriebs AG, Saarbrücken