Wir sind umgeben von Fitnesstips, Modediäten wie Atkins oder Low-Carb und Ernährungstrends wie dem „Intervallfasten“ oder einer festen Zahl von Mahlzeiten pro Tag. Manche zählen Punkte oder Kalorien, essen vegetarisch oder vegan, bio oder makrobiotisch – und erlauben sich Regelbrüche lediglich zu ihren definierten „Cheat Days“, oder bei der ungeplanten abendlichen Attacke auf die Kühlschrank-Vorräte.
Spezialsortimente etwa an gluten- oder laktosefrei beworbenen Lebensmitteln dominieren mittlerweile ganze Supermarkt-Regalreihen – weit über den Bedarf der tatsächlich von einer solchen Allergie oder Unverträglichkeit Betroffenen hinaus. Und rund 85 Prozent der Bundesbürger, so das Ergebnis der Studie „So is(s)t Deutschland“ des Meinungsforschungsinstituts Allensbach im Auftrag von Nestlé, würden sich gerne anders ernähren, als sie es derzeit tun: Das Phänomen der Orthorexie, der zwanghaften Fixierung auf „gesundes“ Essen und das Befolgen von Ernährungsregeln, hat die Gesellschaft fest im Griff – davon sind auch Margrit Hasselmann und Irena Rasimus überzeugt.
„Wir machen uns ständig Gedanken über Ernährung, probieren neue Diäten aus und richten uns an unrealistischen Vorbildern aus“, so Hasselmann. Und die Coronapandemie habe auch hier alles noch schlimmer gemacht. „Ein Effekt durch Corona war die stärkere Konzentration auf die Selbstoptimierung. Denn das war eines der wenigen Themen, die man noch selbst kontrollieren konnte, während um einen herum viele gewohnte Strukturen wegfielen.“
Die Pädagogin, Referentin für Suchtprävention und systemische Therapeutin aus Bremen ist Gründerin des „Instituts für Veränderung“, in dem sie Trainings, Coachings, Supervisionen, Präventionsprojekte und Werkstätten durchführt. Bis 2018 gehörte sie dem Expertengremium zu Essstörungen des Bundes-Gesundheitsministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) an.
Zusammen mit der Kommunikationsdesignerin und Fachjournalistin Irina Rasimus hat sie ihr Buch „Das eigene Maß – Zwischen Essen, Hungern und Idealen“ vorgelegt. „Der Titel bezieht sich darauf, dass man sich nicht von sich selbst entfremden sollte, um irgendwelchen Ernährungs-Päpsten hinterherzulaufen“, erläutert Rasimus.
Wenn Pandemie-geschädigte Jugendliche auf durchtrainierte Influencer treffen…
Das knapp 250-seitige Werk beginnt mit eine Bestandsaufnahme des Schlamassels: Von den Gründen und Motiven, warum wir essen, über die großen Versuchungen des Marktes mitsamt seiner aufbereiteten und verarbeiteten Lebensmittel, dem Überangebot in den Läden, dem zunehmenden Stress und Erfolgsdruck in der Gesellschaft, der zu zusätzlichem Essen – oder dem glatten Gegenteil – führen kann, bis zur unheilvollen Rolle der sozialen Medien.
„Gerade Instagram & Co. haben ihren Beitrag dazu, dass jüngere Menschen in eine Essstörung abgleiten“, ist Rasimus überzeugt. „Denn die durch die Pandemie ohnehin schon geschädigten Jugendlichen treffen dort auf top-gestylte und durchtrainierte Influencerinnen und Influencer, denen es scheinbar immer bestens geht.“
Dass die Essensproblematik bereits im Jugendalter eine Rolle spielt, und gerade Corona die Lage massiv verschlimmert hat, belegen mehrere Studien: Laut des Kinder- und Jugendberichts 10/2022 des gesetzlichen Krankenversicherers DAK habe es im Jahr 2021 bei 15- bis 17-jährigen Mädchen mehr als 50 Prozent mehr Fälle von diagnostizierten Essstörungen als noch 2019 gegeben, bei 10- bis 14-jährigen Mädchen immerhin noch ein Drittel mehr.
Bei Jungen seien deutlich häufiger Adipositas-Fälle zu beobachten. Übergewicht wiederum steigert die Wahrscheinlichkeit, an Depressionen zu erkranken. Hierunter leiden laut der Untersuchung bereits 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen – also mehr als jede und jeder Vierte!
Gesunde Verhaltensweisen können sich von selbst einstellen
Im weiteren Verlauf des Buches gehen die beiden auf die Formen von Essstörungen ein, die speziellen Einflüsse von Geschlecht und Alter, räumen mit verbreiteten Ernährungs-Irrtümern auf – bis zum großen, namensgebenden Schlusskapitel „Das eigene Maß“, das einem dabei hilft, eine eigene, gesunde Beziehung zur Ernährung aufzubauen und worauf man dabei alles achten sollte.
Knapp zwei Jahre haben die beiden an ihrem Werk geschrieben, auch beeinflusst durch die Pandemie. Ein entspanntes Verhältnis zum Essen und Trinken zahle sich schnell aus, so Rasimus. „Wenn eine gewisse Körperzufriedenheit da ist, ist es wahrscheinlich, dass sich gesunde Verhaltensweisen von selbst einstellen.“
Margrit Hasselmann / Irina Rasimus: „Das eigene Maß. Zwischen Essen, Hungern und Idealen.“ Edigo-Verlag, Köln. 1. Auflage 2022. ISBN: 978–3‑949104–02‑2.