Von Gesundheits-Apps bis hin zur elektronischen Patientenakte
Die Digitalisierung ist eines der Handlungsfelder, mit denen sich in der Pflege innerhalb kurzer Zeit vieles zum Besseren wenden lassen könnte. So überrascht es nicht, dass auch Minister Jens Spahn sich dem Thema widmet. Nun macht unser Gesundheitsminister zwar nicht alles richtig, aber er macht immerhin sehr viel, und langweilig wird es nie mit ihm.
Auch jetzt hat er wieder eine gute Idee: Gesundheits-Apps, von denen bereits eine Vielzahl zur Marktreife gelangt sind, sollen künftig von den Krankenkassen bezahlt werden. An den Kosten scheitert nämlich bisher häufig die Marktdurchdringung, also die Verbreitung.
Hoffen wir, dass der Minister damit weiter kommt als mit dem berühmt-berüchtigten § 105 Absatz 2 SGB XI. Dieser bestimmt eigentlich, dass „bis zum 1. Januar 2018 die Einzelheiten für eine elektronische Datenübertragung“ der Abrechnung pflegerischer Leistungen vorliegen sollten. Wer heute diese Einzelheiten sucht, muss beim Blick auf den Kalender allerdings zu der Einsicht kommen, dass der Gesetzgeber manchmal besser auf Fristsetzungen verzichtet, als sich mit ihnen vor den Augen der interessierten Öffentlichkeit zu blamieren.
Davon abgesehen passiert tatsächlich gerade viel. Mit dem TSVG, dem Terminservice- und Versorgungsgesetz, soll bis spätestens 2021 endlich die ePA vorliegen, also die elektronische Patientenakte. Mit ihr sollen sowohl die Versicherten als auch die medizinischen Dienstleister rasch und sicher auf Behandlungsdaten zugreifen können, um Transparenz herzustellen und so die Behandlungssicherheit zu erhöhen. Der Zugriff soll dabei mit allen Endgeräten möglich sein, auch mit Smartphone und Tablet. Ob die Kassen das schaffen, steht in den Sternen. Bis heute waren die Kostenträger nicht einmal in der Lage, Angebote für die Digitalisierung der sehr viel einfacheren Leistungsabrechnung aufzubauen. Um hier den seit Jahren frustrierenden Entwicklungsstau aufzulösen, hat der Bund nun die Mehrheit an der Gematik übernommen, jener Gesellschaft, die in naher Zukunft die Telematik-Infrastruktur gewährleisten soll. Ordnungsrechtlich ist das problematisch, zumal der Staat bei Infrastrukturprojekten nicht gerade für innovative Lösungen bekannt ist. Pragmatisch sinnvoll aber ist diese Lösung allemal – schlimmer konnte es kaum noch kommen.
Keine andere Wahl: Ärzte müssen bei Digitalisierung mitmachen
Neben der Idee, die Krankenkassen für Gesundheits-Apps zahlen zu lassen, gehört zum neuesten Gesetzesvorhaben weitaus mehr. Mit dem DGV, also dem Digitale-Versorgung-Gesetz, will der Minister die Ärzte zwingen, bei der Digitalisierung mitzumachen. Wer nicht will, dem droht ab 2020 eine Honorarkürzung um 2,5 Prozent. Bisher gibt es nämlich Tausende Praxen, die sich dem aus unterschiedlichsten Gründen verweigern. Wenn man der Kassenärztlichen Bundesvereinigung glauben will, ist alles ganz einfach (YouTube: Das Sichere Netz für Ärzte und Psychotherapeuten).
Die Wirklichkeit ist aber deutlich komplexer als das Erklärvideo. Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) empfohlenen Konnektoren schaffen zwar Sicherheit für das Telematik-Netz, machen jedoch gleichzeitig Software-Updates für die sonstigen notwendigen IT-Programme oder selbst Online-Terminvereinbarungen für Patienten unmöglich. Auch dazu gibt es inzwischen von den betroffenen Ärzten Videos im Netz.
Man fragt sich natürlich, wie das Gesundheitsministerium die Ärzte mit diesen Fragen allein lassen kann. Das ist, als ob das Verkehrsministerium Pendler zwingt, ausnahmslos vom Auto auf die Schiene umzusteigen, und nur mit den Schultern zuckt, wenn der Zug ausfällt. Da künftig auch die Pflege in die Telematik-Infrastruktur eingebunden sein soll, muss hier darauf geachtet werden, dass das System unter hoher Last wirklich stabil funktioniert.
Zudem muss darauf geachtet werden, dass es zur Einbindung der Pflege tatsächlich kommt. Einigermaßen sicher ist gemäß dem Referentenentwurf bisher nämlich nur ein Modellprogramm zur Nutzung der Telematik-Infrastruktur in der Altenpflege, das bis 2022 laufen soll, also noch nicht ein Regelangebot in dauerhafter Struktur. Wir brauchen aber neben den im DGV geplanten Doc-2-Doc-Konferenzen, also ärztlichen Online-Konsilen, solche digitalen Kommunikationswege auch Doc-2-Nurse, also zwischen Arzt und Pflegefachkräften. Die Pflegedienste und Pflegeheime müssen an dieses Netz angeschlossen werden. Im Gegensatz zu vielen Kassen ist die Pflege ja längst fit für die Digitalisierung. Und fit sind übrigens auch die Patienten, selbst die Hochaltrigen. Wer Muße hat, möge sich auf YouTube einmal ansehen, wie Oma und Opa online daddeln und dabei riesigen Spaß haben.
„Pflegekräfte sollen nicht nur mehr können, sondern auch mehr dürfen“
Es gibt aber einen ernsteren Grund, warum es mit der Digitalisierung der Pflege dringend vorangehen muss. Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung hatte im Juni 2018, also vor ziemlich genau einem Jahr, erhebliches Aufsehen erregt mit einigen unorthodoxen, aber von der Sachkenntnis des Praktikers zeugenden Vorschlägen für eine rasche und spürbare Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs. Unter den „Fünf Vorschlägen für eine gute und verlässliche Pflege“ von Andreas Westerfellhaus fanden sich sowohl mit Blick auf den Pflegenotstand angemessen großzügige Rückkehrprämien für Pflegekräfte als auch Maßnahmen für mehr „Freude am Beruf“. Allein dafür, an diese notwendige Freude gedacht zu haben, gebührt ihm Applaus. Zu ihr gehört zweifellos eine deutliche Ausweitung des Kompetenzspektrums durch Übertragung heilberuflicher Tätigkeiten.
Pflegekräfte sollen nicht nur mehr können, sondern auch mehr dürfen. Die Einschränkung der pflegerischen Kompetenzen gegenüber jenen der Ärzte in Deutschland ist mit Blick auf den Rest der entwickelten Welt völlig anachronistisch. Bei Diabetikern etwa sind die Pflegekräfte durch ihre täglichen Einsätze viel näher an der Lebenswirklichkeit der Patienten als Ärzte und könnten enorm zur Optimierung der Versorgung beitragen.
Leider ist bisher keiner der fünf Vorschläge umgesetzt worden. Ob es nun daran liegt, dass der Pflegebeauftragte keine Hausmacht hat im Gesundheitsministerium, oder daran, dass er einfach zu schnell und zu innovativ ist für die immer noch zwischen Bonn und Berlin geteilte Verwaltung: Es muss etwas geschehen, und zwar mehr als bisher. Die paar Tausend Euro pro Pflegedienst und Pflegeheim aus dem TSVG sind nicht der notwendige große Schritt nach vorn. Dieser gelingt nur, wenn in die Telematik-Infrastruktur wirklich alle Player vom Versicherten bis zu Kassen, Pflegedienstleistern, Ärzten, Kliniken, Reha-Einrichtungen, Apotheken, Therapeuten und Sanitätshäusern eingebunden werden. Es ist allen Beteiligten zu wünschen, dass die politisch Verantwortlichen auf ihrem langen Marsch bis zur digitalen Datenautobahn nicht der Mut verlässt.