18. November 2021. Als die 95jährige Patientin um 9:52 Uhr in der Notaufnahme des Klinikum I. eingeliefert wird, trägt sie Kleidung, Accessoires, Bargeld und Hilfsmittel im Gesamtwert von 4.839,71 Euro an ihrem Körper.
Keine zweieinhalb Stunden später, um 12:15 Uhr, ist davon nur noch ihre Leibwäsche im Wert von 100 Euro übrig. Alles andere ist verschwunden.
Letzte Spur: Notaufnahme
Die hochbetagte Dame war wegen Atembeschwerden auf Anweisung ihrer Hausärztin mit dem Rettungswagen in das Klinikum eingeliefert worden. Dort hatte sie in der Notaufnahme zunächst einen Teil ihrer Wertsachen abgelegt und sich im Laufe der Untersuchungen bis auf die Leibwäsche entkleidet. Auch ihre Hörgeräte hatte sie zu diesem Zweck herausgenommen und in ihrer Geldbörse verstaut.
Vom Klinikum wurde der Patientin derweil ein Nachthemd zur Verfügung gestellt und ihre persönlichen Sachen in Taschen verpackt und mit Namensaufklebern versehen.
Auf dem Weg zwischen EKG, Röntgen und der Verlegung auf die Station 2C sind die persönlichen Sachen schließlich abhandengekommen. Die hilfsbedürftige Patientin, die liegend auf einer Trage innerhalb des Klinikums transportiert wurde, hatte keine Möglichkeit, ihr Eigentum an sich zu nehmen oder auch nur im Auge zu behalten.
Eigentum zur Verwahrung übergeben
Als die Patienten am nächsten Tag einen schriftlichen Behandlungsvertrag mit dem Klinikum schließt, ist der Verbleib der verschwundenen Sachen weiter unklar. Ein Passus zur Haftungsbeschränkung des Krankenhausträgers vermittelt der Dame augenscheinlich Sicherheit:
„Für den Verlust oder die Beschädigung von eingebrachten Sachen, die in der Obhut des Patienten bleiben, oder von Fahrzeugen des Patienten, die auf dem Krankenhausgrundstück oder auf einem vom Krankenhaus bereitgestellten Parkplatz abgestellt sind, haftet der Krankenhausträger nicht; das gleiche gilt bei Verlust von Geld und Wertsachen, die nicht der Verwaltung zur Verwahrung übergeben wurden.“
Dem Notfall geschuldet und ihrem schlechten Zustand entsprechend, steht für die Patientin außer Zweifel, dass die verschwundenen Wertsachen am Vortag rechtmäßig in die Obhut der Verwaltung übergegangen sind. Um dem Verlust der eingebrachten Sachen auf den Grund zu gehen, suchen Familienangehörige der 95-Jährigen das Gespräch mit Klinik-Mitarbeiterinnen und erhalten teilweise unterschiedliche Auskünfte.
Rechnung abgewiesen
Am 22. Dezember 2021 teilt eine dieser Mitarbeiterinnen im Namen des Klinikums schriftlich mit, dass der Haftpflichtversicherer nach der Verlustanzeige zum jetzigen Zeitpunkt keine haftungsrechtliche Verantwortung des Klinikums sieht. Sie räumt in dem Schreiben aber ein, dass die „von Ihnen eingebrachten Gegenstände verpackt und mit den Patientenaufklebern versehen“ wurden und „auf dem Transport innerhalb des Hauses abhandengekommen“ sind. Es sei hier nicht völlig auszuschließen, dass von dritter Seite ein Diebstahl begangen wurde.
Auf ein anwaltliches Schreiben vom 4. Januar 2022 antwortet das Klinikum am 18. Januar erneut, dass man dem Grunde nach weiterhin keinen Anspruch sehe. Zudem wird die Höhe des Anspruchs von mehr als 5.000 Euro bestritten, der sich aus den nachfolgenden Angaben zu Verlust beziehungsweise Neubeschaffung und Zusatzkosten der Patientin ergibt:
Schlussendlich verweist das Klinikum auf den Klageweg und so landet der Fall vor Gericht.
Erste Instanz
Das Landgericht Detmold gibt der Klage nach Anhörung und Beweisaufnahme teilweise statt und verurteilt das Klinikum am 20. Dezember 2022 wegen unzureichender Verwahrung und der Verletzung einer Nebenpflicht zu einer Zahlung von 1.955,97 Euro (Az.: 4 O 84/22). Diese Schadensersatzsumme beruht auf folgender Grundlage:
Mit dem Urteil geben sich weder die alte Dame noch die beklagte Trägerin des Klinikums zufrieden. Beide Parteien gehen in Berufung.
Weiterer Schadensersatz vs. Klageabweisung
Die geschasste Patientin fordert weiteren Schadensersatz für ihre vorlorengegangenen Wertsachen in Höhe von 3.150,74 Euro. Die Forderung ergibt sich vor allem aus den Kosten für die Hörgeräte, deren Verlust auf dem Gebiet der Klinik vom Landgericht Detmold nicht sicher festgestellt werden konnte. Darüber hinaus ist sie mit den Abzügen, die vor dem Grundsatz „neu für alt“ bei ihrer Brille und anderen Schadenpositionen angesetzt wurden, nicht einverstanden.
Die beklagte Klinikträgerin fordert in der Anschlussberufung dagegen eine vollständige Klageabweisung. Sie bestreitet weiterhin die grundsätzliche Haftbarkeit in diesem Fall und bemängelt den festgesetzten Schadensersatzanspruch, der nach ihrer Auffassung zu hoch angesetzt ist.
Entscheidung OLG: Pflicht zur Obhut
Mit seiner Entscheidung (26 U 4/23) vom 21. Juli 2023 gibt das Oberlandgericht Hamm der Patientin Recht, die gemäß §§ 249 ff. BGB einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt 5.106,78 Euro hat. Die beklagte Klinikträgerin muss somit den Differenzbetrag von 3.150,74 Euro wegen Pflichtverletzung gemäß §§ 280 Absatz 1, 241 Absatz 2 und 630a BGB an die Klägerin zahlen.
Die nach § 31 BGB beziehungsweise § 278 BGB zuzurechnenden Beschäftigten der Beklagten haben im Rahmen der vertragstypischen Pflichten beim Behandlungsvertrag gemäß § 630a BGB demnach eine Nebenpflicht verletzt.
Nach § 241 Absatz 2 BGB hat sich nämlich jeder Teil bei der Abwicklung eines Schuldverhältnisses so zu verhalten hat, dass Person, Eigentum und sonstige Rechtsgüter des anderen Teils nicht verletzt werden. Daraus ergibt sich eine Obhutspflicht der beklagten Klinikträgerin und die Pflicht, für den ordnungsgemäßen Transport des Patienteneigentums innerhalb des Klinikums zu sorgen – zumal sich die 95-jährige Patientin in einer Notsituation befunden hat und nicht erwartbar in der Lage war, auf ihre Wertsachen aufzupassen.
Darüber hinaus hat das Klinikpersonal – trotz offenkundiger Organisationsmängel und fehlender Regelungen – durch eigenes Handeln bereits die Obhut übernommen, als es das Eigentum in Taschen verpackt und mit dem Namen der Patientin versehen hat.
Schadensersatzanspruch für Wertsachen ohne Abzüge
Den Verlust der mit 2.799,80 Euro zu Buche schlagenden Hörgeräte im Herrschaftsbereich der Klinik sieht das OLG im Gegensatz zur ersten Instanz als bewiesen an. Der mitunter „lebensfremden“ Argumentation der Gegenseite, nach der die Patientin bereits ohne Hörgeräte in der Notaufnahme eingetroffen sein könnte, konnte der Senat nach erneuter Beweisaufnahme nicht folgen.
Was die Brille anbelangt, so fehlt es bereits an einer messbaren Vermögensmehrung und entsprechend abzuschöpfenden Bereicherung durch die Klägerin, da sie sich durch den Ersatz nicht besserstellt. Die Gläser der verschwundenen Brille waren erst 1 Jahr alt, das Gestell noch älter. Der Abzug von 280 Euro vor dem Grundsatz „neu für alt“ kann daher nicht angenommen werden.
Darüber hinaus werden nach Entscheidung des OLG die Schadenpositionen „Geldbörse“ und „City-Tasche“ dem Klageantrag entsprechend um 4,95 Euro beziehungsweise 29,99 Euro angepasst. Die 36 Euro für das Schloss zur Wohnungstür, welche in erster Instanz offenbar vergessen wurden, fließen nun ebenfalls in den Anspruch ein. Da der Vermieter der alten Dame die Kosten für die neue Schließanlage nur anteilig mit 284,10 Euro in Rechnung gestellt hat, wird weiterhin nur dieser Betrag als ersatzfähig angesehen.
Komplett unstreitig bleibt in der zweiten Instanz dagegen die Leibwäsche, denn die war der Patientin schließlich nie abhandengekommen.
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