Ein Fallbeispiel: Eine hochbetagte Frau wird per Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Sie ist kaum ansprechbar, völlig abgemagert und dehydriert. Ihr Körper weist großflächig Druckgeschwüre auf. Offenbar war die pflegebedürftige und demenzkranke Frau, die daheim von Angehörigen versorgt wird, zu selten bewegt worden, um ein Wundliegen zu verhindern. Der zuständige Arzt alarmiert die Polizei. Obgleich die Frau kurz darauf stirbt, werden die Ermittlungen schon bald eingestellt. In Anbetracht der zahlreichen Krankheiten, an denen die Patientin litt, ist es schwierig festzustellen, inwieweit Fremdverschulden den Tod beeinflusst hat.
Manchmal werden Pflegende zu Tätern. Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf, wird Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen kaum öffentlich diskutiert. Erhebungen zufolge berichtet jedoch jeder zehnte Senior von Übergriffen in seinem direkten Umfeld – wobei von einer großen Dunkelziffer auszugehen ist. Mag der Grund Überforderung, Unwissenheit oder Zeitmangel sein – Hilfsbedürftige müssen besser geschützt werden. So widmet sich derzeit die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) der Frage, welche Rolle Mediziner dabei spielen können, Gewalt gegen ältere Menschen schneller aufzudecken oder dieser vorzubeugen.
„Der oben geschilderte Fall zeigt ganz gut, wie kompliziert es ist, Gewalt gegen Ältere zu identifizieren und zu verhindern“, sagt Dr. Barbara Hanussek, Ärztin für Innere Medizin und Geriatrie. „Weder Hausarzt noch Nachbarn oder Bekannte sind rechtzeitig aufmerksam geworden. Denn Gewalt bedeutet weit mehr als nur blaue Flecke“ weiß die Altersmedizinerin, die derzeit für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen arbeitet.
Speziell pflegebedürftige Menschen sind von anderen abhängig und dadurch gefährdet, Opfer von Gewalt sowohl im häuslichen Bereich als auch in Institutionen wie Altenheimen zu werden. Zu den Risikofaktoren gehören unter anderem soziale Isolation, körperliche Behinderungen und die Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten, zum Beispiel durch Demenz. „Häufig zählen die Täter zu den Bezugspersonen ihres Opfers. Das können Familienangehörige, aber auch professionelle Pflegekräfte sein“, weiß Dr. Barbara Hanussek. „Durch die persönliche Beziehung ist es aber besonders schwierig, Gewalttaten aufzudecken.“
Zumal die Täter nicht pauschal kriminalisiert werden sollten. Gerade im Rahmen häuslicher Pflege, wenn Ehepartner oder Kinder die Betreuung übernehmen, können die Gewalttaten auch Folge von Überforderung sein. Umso wichtiger ist es, rechtzeitig einzugreifen und Hilfe anzubieten, um eine Situation zum Vorteil aller Beteiligten zu deeskalieren.