Rechtsdepesche: Herr Dr. Basche, Sie sind pflegepolitisch stark engagiert. Was halten Sie von einer Pflegekammer?
Dr. Jan Basche: Sehr wenig. Ich halte allerdings grundsätzlich wenig von Kammern. Mit wem auch immer ich spreche: Ärzte, Apotheker, Architekten, Steuerberater – niemand ist glücklich mit seiner Standesvertretung. Hinzu kommt, dass die Pflege gar kein freier Beruf ist und deshalb denkbar ungeeignet für eine Verkammerung. Pflegekräfte arbeiten laut den letzten vorliegenden Zahlen der Bundesagentur für Arbeit nur zu etwa 1 Prozent als Selbstständige, also fast ausschließlich als Angestellte. Wie soll unter dem Direktionsrecht eines Krankenhauses, Pflegeheims oder Pflegedienstes auch nur die Idee einer Freiberuflichkeit entstehen? Das bleibt mir ein Rätsel.
Rechtsdepesche: Würde aber eine Kammer nicht die Position der Pflegekräfte bei Verhandlungen stärken?
Basche: Das erwarte ich nicht. Ich erwarte vielmehr, dass Pflegekammern einen Keil in die Teams treiben. Man darf ja nicht vergessen, dass die vielen hunderttausenden Pflegehelferinnen, Hauswirtschafterinnen und Betreuungskräfte gar nicht in eine Pflegekammer hinein dürfen. Deren Zugangsvoraussetzung ist das Examen. Damit schließt man über 45 Prozent aller in der Altenpflege Tätigen von vornherein aus der Kammer aus. Das ist eine offensichtliche strukturelle Diskriminierung und würde erheblich den Frieden in den Einrichtungen stören.
Ich möchte auch ausdrücklich darauf hinweisen, dass Pflegekammern kein Selbstläufer sind. In Hessen hat es gerade eine durch das zuständige Landesministerium organisierte Befragung gegeben, die wenigstens halbwegs dem notwendigen Anspruch an Repräsentativität genügen konnte, und da gab es durch die Pflegekräfte eine schallende Ohrfeige für die Idee einer Pflegekammer.
Rechtsdepesche: Also von Ihnen ein klares Nein zur Pflegekammer?
Basche: So einfach ist es nicht. Die Pflege in Deutschland braucht ja tatsächlich eine stärkere Stimme und an vielen Stellen sympathischere Gesichter. Ich glaube nur nicht, dass eine Pflegekammer diese Probleme lösen wird. Ein Beispiel von vielen: Die Pflegekräfte wollen höhere Löhne, und sie verdienen es auch, mehr zu verdienen. Das kann aber keine Pflegekammer leisten. Dafür gibt es in der Theorie Gewerkschaften. In der Praxis gibt es jedoch außer in Krankenhausbetrieben und großen Konzernen der Langzeitpflege kaum Gewerkschaften in der Pflege.
Es ist bezeichnend, dass jetzt über die Pflegekammern versucht wird, Einfluss zu nehmen, und tatsächlich sitzen im siebenköpfigen Vorstand der Pflegekammer Niedersachen zwei ver.di-Mitglieder. Übrigens ist unter den sieben Mitgliedern nur ein einziger Altenpfleger. Auch im neunköpfigen Vorstand der Pflegekammer Rheinland-Pfalz gibt es nur einen einzigen Altenpfleger. Ich sehe dort bisher kaum jemanden, mit dem sich etwa die Kolleginnen der Ambulanten Pflege identifizieren könnten.
Auch beim neben einer deutlich höheren Entlohnung anderen großen Thema, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, kann eine Pflegekammer nichts wuppen. Es wird ja immer wieder auf die hohe Teilzeitquote in der Pflege hingewiesen. Dann wird so getan, als ob das an den Arbeitgebern liegt, und mal eben Marktversagen behauptet. Das ist natürlich Unsinn. Der Personalmangel in der Pflege ist so dramatisch, dass jeder vernünftige Arbeitgeber jede Mitarbeiterin Vollzeit arbeiten lässt, wenn sie es sich wünscht. Sie wünscht es sich aber nicht.
Und warum? Weil sie gar nicht Vollzeit arbeiten kann. Weil wir in der Pflege in Deutschland kein Marktversagen erleben, sondern die Folgen eines Staatsversagens. Versuchen Sie einmal in Berlin, Ihren Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz umzusetzen. Dieser Rechtsanspruch ist nichts wert. Und versuchen Sie einmal irgendwo in Deutschland, eine Kita zu finden, die am Wochenende geöffnet hat. Das sind staatlich verantwortete Rahmenbedingungen, die es den Pflegekräften noch viel zu oft unmöglich machen, in Vollzeit zu arbeiten. Die Pflege ist nun einmal bis heute ein Frauenberuf für sieben Tage in der Woche in drei Schichten.
Rechtsdepesche: Passiert denn in diesem Bereich gar nichts?
Basche: In der Konzertierten Aktion Pflege der Bundesministerien für Gesundheit, für Familie und für Soziales steht das Thema am Rand. Und im jüngsten Gute-KiTa-Gesetz stehen zwar unter den zehn Handlungsfeldern die „Bedarfsgerechten Angebote“ gleich an erster Stelle. Ob aber die Länder aus den vielen Milliarden Euro tatsächlich obligatorische Angebote auch für die Kita-Versorgung am Wochenende machen, steht in den Sternen. Mit den für 2019 angekündigten Mitteln aus dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Pflegeberuf, die ohnehin nur ein paar Tausend Euro je Einrichtung betragen sollen, kann sich jedenfalls keine Pflegekraft eine Tagesmutter für die Wochenenden leisten, an denen man sie eigentlich bei den Pflegebedürftigen braucht.
Hier vermisse ich den großen Wurf. Ich würde gar nicht steuerlich ansetzen: Für spürbare Entlastungen in der Lohnsteuer verdienen gerade die Pflegehelferinnen noch zu wenig. Ich würde mir wünschen, dass die Politik Mut zeigt und zum Beispiel den Pflegekräften den Arbeitnehmeranteil der Sozialversicherungsbeiträge auf sämtliche Wochenendzuschläge erlässt. Da würde wirklich etwas im Portemonnaie ankommen, und die Pflegekräfte würden dafür entschädigt, dass sich in ihrer Branche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon aus strukturellen Gründen kaum herstellen lässt. Ich sage nur am Rande, dass es so etwas natürlich auch für Polizisten geben sollte. Damit muss man keine neuen Stellen bei den Kassen oder den Finanzämtern schaffen. Das schafft jeder Pflegedienst mit einem Update seiner Buchhaltungssoftware.
Rechtsdepesche: Wenn nicht über die Kammern – woher sollen dann die Gesichter der Pflege kommen?
Basche: Die Physio- und Ergotherapeuten haben es uns vorgemacht. Die haben sich mit dem SHV, dem Spitzenverband der Heilmittelerbringer, eine einheitliche Stimme geschaffen. Die gibt es in der Pflege bisher nicht. Als der SHV vor ein paar Wochen mit dem Gesundheitsminister zusammensaß, gab es anschließend konkrete Ergebnisse: Nicht nur eine deutlich bessere Vergütung der Leistungen und eine Entkoppelung von der Grundlohnsummensteigerung, sondern das Blankorezept. Das wäre wirklich eine kleine Revolution, wenn es denn gelingt. Das Blankorezept überlässt dem Arzt die Entscheidung, ob eine Therapie notwendig ist, aber den Fachleuten, also den Therapeuten selbst, wie sie durchgeführt wird.
Ich wünsche den Kollegen da alles Gute. Wir in der Pflege lesen uns seit Jahren gegenseitig den § 63 Absatz 3c SGB V vor, der das Kompetenzspektrum der Pflegefachkräfte für ärztliche Tätigkeiten öffnen sollte, und sehen, dass nichts passiert ist. Natürlich kann angestellten Pflegefachkräften in Pflegediensten oder Heimen keine Budgetverantwortung übertragen werden. Die haben auch die angestellten Krankenhausärzte nicht. Aber Pflegefachkräfte könnten durchaus anstelle des Arztes entscheiden, ob jemand eine Therapie braucht oder nicht, und zwar nicht in Delegation, sondern in Substitution. Das würde eine spürbare Aufwertung ihrer Professionalität bedeuten. Und das genau ist es, was wir neben deutlich höheren Löhnen brauchen, um die Attraktivität des Pflegeberufs zu steigern. Bisher dürfen in kaum einem führenden Industrieland Krankenschwestern so wenig selbst entscheiden wie in Deutschland.
Rechtsdepesche: Da braucht man offensichtlich einen sehr langen Atem. Deshalb zum Schluss: Was würden Sie tun, wenn Sie einen Tag Bundesgesundheitsminister wären?
Basche: Unser Gesundheitssystem gehört so umgekrempelt, dass dafür ein Tag nicht reicht, und ein Minister macht keine Gesetze. Ich hätte da über den Alltag der Pflegekräfte hinaus viele Ideen. Wenn ich aber allein auf unsere Mitarbeiterinnen schaue: Ich würde gleich am Morgen Gott bitten, dass er den Heiligen Geist in die Pflegemindestlohnkommission fahren lässt und diese eine Erhöhung für Helferinnen auf Euro 15 je Stunde und für Fachkräfte auf Euro 20 je Stunde beschließt. Selbst damit würde übrigens eine Pflegefachkraft immer noch nicht mehr verdienen als ein Facharbeiter in der Metallindustrie. Im entsprechenden Umfang müssten auch die Vergütungen für die Leistungen steigen sowie, damit das nicht alles auf dem Rücken der Pflegebedürftigen ausgetragen wird, die Ansprüche aus den Pflegegraden. Das wäre durch bereits erfolgte Gesetzesänderungen, die die Pflege- und Krankenkassen in die Pflicht nehmen, und durch Berechnungsroutinen aus den Vergütungsverhandlungen inzwischen machbar. Wir könnten so auch die überflüssige Debatte über einen bundeseinheitlichen Tarifvertrag beenden.
Am Mittag würde der Bundestag eine Änderung des SGB V beschließen, nach der die Übertragung ausgesuchter ärztlicher Tätigkeiten auf examinierte Pflegekräfte endlich Wirklichkeit würde. Wir hatten ja schon darüber gesprochen, warum das wichtig ist. Außerdem würde der Bundestag beschließen, dass die zu Anfang 2017 erfolgten Kürzungen in der Förderung der berufsbegleitenden Ausbildung zur Pflegefachkraft zurückgenommen werden. Am Nachmittag würde das BMG unter dem Motto „Helden des Alltags“ eine Millionen schwere Imagekampagne zur Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung des Pflegeberufs starten. Bisher ist diese Wahrnehmung ja leider fast ausschließlich durch Skandalisierungen geprägt, obwohl es kaum ein erfüllenderes Arbeiten als die Pflege gibt. Und am Abend wäre ich – erschöpft, aber glücklich – Schirmherr des ersten Balls der Pflegenden.
Rechtsdepesche: Das ist für einen Tag eine ganze Menge. Da bleibt nur noch zu wünschen, dass Herr Spahn unser Interview liest. Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen alles Gute weiterhin und vielen Dank für das spannende Interview.
Basche: Sehr gerne. Auch Ihnen und Ihrer Redaktion alles Gute.
Das Gespräch führte Michael Schanz, Chefredakteur der Rechtsdepesche-Fachzeitschrift.