Defizite im Rechtssystem bei Vollmachtmissbrauch
Rechtsdepesche: In unserem ersten Gesprächsteil haben sie erschreckende Beispiele von Vollmachtmissbrauchsfällen gegen Seniorinnen und Senioren benannt. Wenden wir nun unseren Blick auf die gesetzliche Betreuung. Welche Erfahrungen haben Sie hierzu in Ihrem Verein gemacht? Besteht auch hier die Gefahr des Vollmachtmissbrauchs?
Winnebeck: Es ist bedauerlich, aber auch unter den Betreuern gibt es schwarze Schafe, die ja eigentlich den Vollmachtmissbrauch verhindern sollen. In den Tageszeitungen finden sich – auch über betreuungsbeauftragte Anwälte – immer mehr Artikel, in denen beschrieben wird, wie die zur Vermögenssorge bestellten Betreuer das Vermögen ihrer Schützlinge haben verschwinden lassen und sich selbst reichlich bedient haben.
Und das, vor den Augen der Betreuungsrichter. Die sind nämlich verpflichtet , die Ausübung der Betreuung zu überwachen. Das funktioniert leider nicht immer so, wie vom Gesetzgeber gewünscht. Dahinter verbirgt sich das menschliche Problem des Eingeständnisses von Fehlern, denn immerhin ist der Betreuer vom Betreuungsrichter ausgewählt und eingesetzt worden.
Der Richter müsste dann eingestehen, dass er den Falschen beauftragt und das womöglich erst zu spät gemerkt hat. Die vornehmste Aufgabe des Richters, nämlich die Meinung zu ändern, wenn er neue Tatsachen findet, kommt dann zu kurz. Ich gehe von einer sehr hohen Dunkelziffer an Missbräuchen in Betreuungsverhältnissen aus, die dann nicht aufgeklärt werden, wenn die Gerichte nicht hinsehen.
Eine Betreuungsanwältin berichtet mir kürzlich, dass gerade in den Betreuungen die Ausplünderei erst recht losginge. Auch hier hat sich der Gesetzgeber in Prävention versucht und die Betreuer zur Auskunft an Angehörige verpflichtet. Dennoch verweigert mancher Betreuer diese Auskunft und das teilweise mit Wissen der Betreuungsgerichte. Da klaffen der gesetzliche Anspruch und die Wirklichkeit weit auseinander.
Rechtsdepesche: Das neue Betreuungsrecht räumt dem Willen der Betroffenen seit dem 1. Januar 2023 einen deutlich höheren Stellenwert ein. Was halten Sie davon? Wird die Realität diesem Anspruch gerecht?
Winnebeck: Davon halte ich eigentlich sehr viel. Die neue Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts war ja gut gemeint, indem auf die Stärkung der Selbstbestimmung und Autonomie unterstützungsbedürftiger Menschen gesetzt worden ist. Die Betreuung und Vollmachtausübung soll sich seither am Willen der betreuten Person orientieren. Damit sollte verhindert werden, dass Betreuer und Bevollmächtigte ihren eigenen Willen dem Betroffenen aufzwingen.
Jetzt ist das gesamte Spektrum der Bedürfnisse dieses betreuten Menschen zu sehen. Es ist nicht Sinn und Zweck einer Vollmacht oder Betreuung dafür zu sorgen, dass jemand einfach nur etwas zu essen, zu trinken und ein Bett hat, also „versorgt“ ist. Das greift zu kurz. Die Menschen sind unterschiedlich. Und dies muss durch den Willen der Betreuten respektiert werden. Wird dieser nicht klar etwa in der Vollmacht formuliert, muss der Wille biografisch ermittelt werden. Hierbei sind die Lebensweise, frühere Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen, sonstige persönliche Wertvorstellungen, die soziale Stellung und das Umfeld des Betreuten zu berücksichtigen.
Der Gesetzgeber wollte damit verhindern, dass den Menschen die einheitliche Kappe einer Minimalversorgung übergestülpt wird. Leider sehen wir davon wenig. Es scheint, dass noch immer der Bevollmächtigte oder Betreuer ungehindert willkürlich entscheiden kann, wie der Betroffene zu leben hat. Problematisch ist es aber auch, dass mit dieser Regel der Willensbeachtung auch dem Vollmachtmissbrauch Vorschub geleistet werden kann. Gerade bei der Erstellung von (Neu-)Vollmachten in vulnerablen Situationen, ist es sehr leicht, den Willen des alten Menschen manipulativ zu beugen und ihm hinterlistig eine Unterschrift zu entlocken, deren Auswirkungen er kaum überschauen kann und die vielleicht gerade nicht seinem Willen entsprechen.
Zur Rolle des Pflegepersonals
Rechtsdepesche: Sehen Sie denn auch das Personal in den stationären Pflegeeinrichtungen zur Obhut über die Vermögen ihrer Bewohner mit Vorsorgevollmacht in der Pflicht?
Winnebeck: Grundsätzlich sind die Beschäftigten in den Pflegeeinrichtungen natürlich nicht zuständig für die Verwaltung des Vermögens ihrer Bewohner. Aber: wenn in den Pflegeeinrichtungen die typischen Elemente des Vollmachtmissbrauchs angewandt und durchgesetzt werden, dann wird es kritisch. Wir erleben regelmäßig, dass Angehörige in Pflegeeinrichtungen der Besuch der verwandten Bewohner untersagt wird.
Meist unter fadenscheinigen Ausreden. Und hier muss unmissverständlich gesagt werden, dass sich die Pflegenden nicht zum Handlanger derjenigen machen dürfen, die unbedingt abschotten wollen. Es ist wichtig, dass in den Heimen ein Klima der Offenheit herrscht. Und wenn wir über Vollmachtmissbrauch sprechen, müssen wir uns vor Augen halten, dass diejenigen, die einen alten Menschen unter der Maßgabe von Besuchsverboten und gegen seinen Willen in ein Heim gebracht haben, oftmals nicht an dessen Wohl interessiert sind.
Manche Pflegeeinrichtungen gehorchen allzu bereitwillig den Weisungen, denn so haben sie freie Hand im Umgang mit dem Bewohner. Der Täter ist ohnehin nicht am Schicksal interessiert. Auch das ist nicht erlaubt und wird dennoch so praktiziert. Ich kenne einen Fall indem es ausgereicht hat, dass der Sohn behauptet hat, seine Schwester sei nicht bevollmächtigt und mit dieser Vorspiegelung ein Besuchsverbot gegen sie durchgesetzt hat. Erst nach dem Tod erfuhr die Tochter, dass die Mutter ihre Vollmacht nie widerrief und immer auf ihre Hilfe gewartet hat. Das Gericht sah auch hier keinen Grund einzuschreiten. Das ist eine Tragödie.
Was Angehörige tun können
Rechtsdepesche: Können Sie Tipps zum Abfassen einer rechtssicheren Vorsorgevollmacht geben?
Winnebeck: Ja. Das große Einfallstor ist immer die Abschottung. Aus meiner Sicht kann dem wirksam begegnet werden, wenn zwei Bevollmächtigte einsetzt werden, die sich gegenseitig kontrollieren müssen. Werden die Abschottungsmöglichkeiten aufgebrochen und dadurch die Sachverhalte transparent, wirkt dies als Abschreckung. Es ebnet den Gang zum Betreuungsgericht und die Ahndung strafrechtlich relevanter Missbräuche werden leichter.
Je präziser und belastbarer die Beschreibung der Verfehlungen ausfällt, desto höher sind die Erfolgsaussichten bei der Justiz. Die gegenseitige Kontrolle der Vorsorgebevollmächtigten trägt auch zur Vermeidung von unrechtmäßigen Vermögensverschiebungen bei. Müssen im Innenverhältnis Ausgaben und Verfügungen abgesprochen werden, kann nicht einer allein das Vermögen verschleudern. Er würde sich strafbar machen.
Der Bundesgerichtshof hat in diesem Jahr entschieden, dass bei dem Verstoß gegen eine solche Absprachepflicht die Vollmacht entzogen werden kann. Leider haben wir aber auch hier Betreuungsrichter erlebt, die es schlichtweg ignorieren, wenn ein Bevollmächtigter sämtliche Entscheidungen im Alleingang trifft und den Mitbevollmächtigten ausschließt. Damit haben sich dann neben dem Bevollmächtigten auch noch die Richter über den Willen des Betroffenen hinweggesetzt. Das vom Betroffenen sicher aus gutem Grund gewollte Vier-Augen-Prinzip zur Absicherung gegen Missbrauch der Vollmacht wird damit ausgehebelt statt durchgesetzt. Dann hat das Gericht den Bock zum Gärtner werden lassen und genau die Situation geschaffen, die der Betroffene vermeiden wollte. Der Wille des Vulnerablen ist eben nur so viel wert, wie der Richter willens ist, ihm zur Wirkung zu verhelfen.
Rechtsdepesche: Das Unrecht der Betroffenen wiegt schwer. Wie reagieren die Missbrauchsopfer?
Winnebeck: Am Ende gibt es mehrere Opfer und Geschädigte. Für die Betroffenen selbst ist das natürlich ein Desaster. Oft wird ihr gesamtes Lebenswerk und ihr Lebensentwurf unwiederbringlich zerstört. Viele haben für einen angenehmen Lebensabend oder Ruhestand vorgesorgt, der sich nach den Vermögensverschiebungen ganz anders darstellen kann. In nahezu allen Fällen gab es zwischen den Bevollmächtigten und Vollmachtgebern eine vertrauensvolle Vorbeziehung.
Die Erkenntnis, dass dieses Vertrauen zutiefst erschüttert ist, fällt vielen alten Menschen schwer und stürzt sie in tiefe Krisen, aus denen sie sich nicht mehr befreien können. Entweder werden sie zum hilflosen Pflegefall oder verarmen. Einspringen müssen die gleich mit betrogenen Kindern, die das fehlende Geld für die Sorge aufbringen müssen und am Ende die Sozialkassen. Das ganze Thema hat insoweit auch eine gewichtige volkswirtschaftliche Komponente, wenn Menschen ohne Not und gegen ihren Willen in Heime gebracht werden, die dann aus Mitteln der Sozialkassen finanziert werden müssen.
Und dann sind da die Angehörigen, die unsäglich darunter leiden, dass sie auf einmal durch die Abschottung ihre Liebsten – meist sind es die Eltern, Großeltern, die Tante oder der Onkel – nicht mehr erreichen können. Sie ahnen, dass sie in eine Falle geraten sind. Fast immer werden sie von den Tätern mit Diffamierungen überzogen. Sie verausgaben sich mental und finanziell durch schier unendliche Gerichtsverfahren, um ihre Angehörigen aus einer solchen Falle zu holen und scheitern an der „Aktenlage“.
Vom Gericht werden sie oft erst gar nicht beteiligt, zumal wenn sie keine Vollmacht mehr besitzen. Dabei sehen die Verfahrensvorschriften Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit diese auf Antrag ausdrücklich vor. Das muss man sich einmal vorstellen! Wir kennen einige Fälle, in denen die Gerichte es immer wieder abgelehnt haben einzuschreiten. Irgendwann haben die Kinder dann durch Dritte erfahren, dass ihre Eltern verstorben, eingeäschert und irgendwo begraben sind und dass sie selbstverständlich enterbt wurden. Weitere Informationen hat der Bevollmächtigte untersagt. Die Kinder müssen dann damit klarkommen, nie zu erfahren, ob ihre Eltern nicht einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind. Oft zerbrechen sie daran.
„Die Fälle müssen von Politik und Justiz ernstgenommen werden“
Rechtsdepesche: Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern?
Winnebeck: Wir von der Initiative gegen Vollmachtmissbrauch wünschen uns, dass die Fälle von der Politik und der Justiz ernst genommen werden. Die Schäden für die Beteiligten und auch für die Allgemeinheit sind enorm. Es handelt sich auch keinesfalls um Einzelfälle, nur weil so wenige Fälle aufgeklärt werden. Wir sehen, dass im Ausland der Manipulation und der Ausnutzung von Vulnerablen rechtzeitig der Riegel durch die Androhung scharfer strafrechtlicher Konsequenzen vorgeschoben wird.
In Frankreich ist beispielsweise mit dem Artikel „abus de faiblesse“ die Ausnutzung von Schwäche, insbesondere bei schutzbedürftigen Menschen unter strenge Strafen gestellt. „Undue influence“ und „Exploitation and elder abuse“ sind ähnliche Konstrukte im amerikanischen Recht, die auf die Verhinderung einer unangemessenen Beeinflussung zur finanziellen Ausbeutung älterer und vulnerabler Menschen abzielen.
In vielen Ländern wird schon weit vor der Geschäftsunfähigkeit geschaut, auf welche Art und Weise jemand einen alten Menschen entweder in Abhängigkeit bringt oder dessen Schwäche ausnutzt. Das würde ich mir für Deutschland auch wünschen.
Natürlich ist in Deutschland auch die Justiz gefordert, denn sehr oft könnte dem Vollmachtmissbrauch durch rechtzeitiges Eingreifen jeglicher Boden entzogen werden. Leider dauern die Verfahren in Deutschland viel zu lange, so dass das Opfer eine Entscheidung meist nicht mehr erleben und bis dahin nicht nur der finanziellen Ausbeutung, sondern auch körperlicher und seelischer Gewalt ungeschützt ausgesetzt ist. Mit dem Tod wird die Akte geschlossen. Das ist natürlich nicht Sinn und Zweck des Betreuungsrechts.
Im Betreuungsrecht gilt die Amtsermittlungspflicht. Der viel zitierten richterlichen Unabhängigkeit sind hier vom Gesetzgeber Grenzen gesetzt worden. Der Betroffene hat einen Justizgewährungsanspruch, der sich aus dem Grundgesetz und der europäischen Menschenrechtskonvention ableitet, wenn das Gericht rechtsfürsorgend tätig wird. Das heißt, dass Gericht hat in betreuungsrechtlichen Fällen eigenständig zu ermitteln und dafür Sorge zu tragen, dass dem Willen des Betroffenen durch eine umfassende Sachverhaltsfeststellung und entsprechende Entscheidung Rechnung getragen wird.
Dennoch bürden die Gerichte immer wieder den Angehörigen eine Beweislast auf, die sie kaum erfüllen können, wenn sie selbst vom Betreuten fern gehalten werden sind oder sie gar vom Verfahren ausgeschlossen sind. Wir wünschen uns die Einführung von echten Eilverfahren und echte Amtsermittlungen in diesen Fällen, damit der Schutz der Senioren keine leere Gesetzeshülle ist.
Rechtsdepesche: Ich denke, dass wir ein wichtiges Schlaglicht in eine dunkle Ecke des Rechts geworfen haben. Sehr geehrte Frau Winnebeck, herzlichen Dank für die klaren und wichtigen Worte.
Zur Person: Hildegard Winnebeck hat in Trier, Regensburg und Montreal studiert. Das Rechtswissenschaftsstudium hat sie mit dem zweiten Staatsexamen in München abgeschlossen und ist als Rechtsanwältin zugelassen. Nach Stationen in Mexiko und Kanada ist sie seit vielen Jahren im internationalen Finanzgeschäft in verschiedenen Positionen zu Hause.