Verordnung auf Empfehlungsbasis: Nachdem seit vielen Jahren Studien und Gutachten vergeblich auf die Notwendigkeit einer neuen Aufgabenverteilung im Gesundheitswesen hinweisen und die zur Verfügung stehenden Versorgungsmöglichkeiten nur sehr schwerfällig an die demografischen Realitäten angepasst wurden, hat der Gesetzgeber ein erweitertes Kompetenzprofil für Pflegefachkräfte anerkannt und kurz vor dem Ende der 14. Legislaturperiode nun doch noch einen Meilenstein für eine bemerkenswerte und nachhaltige Besserung der Rahmenbedingungen für die pflegerische Leistungserbringung gesetzt.
Das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) startete als politisch relativ unkritisches Sammelgesetz, dem im Laufe des parlamentarischen Verfahrens einige gewichtige Punkte hinzugefügt worden sind.
Verordnung durch Empfehlung
Seit geraumer Zeit werden in den Beratungen des Strategieprozesses zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheits- und Pflegebereich, der auf Grundlage der Vereinbarungen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) gestartet wurde, Themen wie die Verordnungskompetenz von Pflegefachkräften, aber auch die inhaltliche Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege oder des Wundmanagements diskutiert.
Durch die GVWG-Verkündung am 11. Juli 2021 im Bundesgesetzblatt ist dies niedergeschlagen: erstmalig sind für Pflegefachkräfte eigene Verordnungsbefugnisse im gesetzlichen System der Leistungserbringer im Gesundheitsdienst installiert worden. § 40 Absatz 6 SGB XI fixiert nunmehr, dass Pflegefachkräfte „konkrete Empfehlungen zur Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelversorgung“ abgeben dürfen.
Für die interprofessionelle Zusammenarbeit Arzt/Pflege gilt in diesem Zusammenhang ab sofort, dass die konkrete pflegerische Empfehlung eines Hilfsmittels oder Pflegehilfsmittels der ärztlichen Verordnung vorgeht, denn diese ist ausweislich des Gesetzestextes bei dem Vorliegen einer Empfehlung mit Pflegeexpertise entbehrlich.
Folgerichtig entfaltet daher die konkrete Versorgungsempfehlung gegenüber den Sozialversicherungsträgern auch eine hohe Bindungswirkung. Der Gesetzgeber hat dies klar zum Ausdruck gebracht, indem er die Genehmigungsvoraussetzungen der Erforderlichkeit, bzw. Notwendigkeit der empfohlenen Leistung vermutet.
Ist die Pflege- oder Krankenkasse anderer Auffassung, muss diese innerhalb von 3 Wochen substantiiert begründen werden (bei Einschaltung des Medizinischen Dienstes: 5 Wochen). Unterlässt die Pflege‑, bzw. Krankenkasse dieses und gibt keinen hinreichenden Grund für die Verzögerung an, gilt die Leistung als genehmigt (§ 40 Absatz 7 Satz 2 SGB XI).
Der nächste Schritt
Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen ist als zentrale Interessenvertretung der Kranken- und Pflegekassen unter Fristsetzung bis zum 31. Dezember 2021 beauftragt, den Katalog der Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel festzulegen, die sich für das Verfahren eignen.
Berücksichtigt werden sollen auf jeden Fall bestimmte „doppelfunktionale Hilfsmittel“, die Qualitätsanforderungen der betreffenden Produktuntergruppen/Produktarten des Hilfs- bzw. Pflegehilfsmittelverzeichnisses erfüllen (zum Beispiel Lagerungshilfen, Mobilitätshilfen, Krankenpflegeartikel). Welche Produkte darüber hinaus vom „Empfehlungsrecht“ erfasst werden und ob auch Produkte zur Versorgung von chronischen Wunden beinhaltet sind, bleibt abzuwarten.
Ebenso muss das Augenmerk darauf gerichtet werden, welche Eignung der Spitzenverband den „empfehlenden“ Pflegefachkräften abverlangt. Ausweislich des Berichts des Gesundheitsausschusses vom 10.6.2021 (BT-Drucksache 19/30560, Seite 61) soll in der Regel die Qualifikation als Pflegefachkraft nach dem Pflegeberufegesetz (PflBG) einschließlich der Personen mit Abschlüssen nach dem bisherigen Krankenpflegegesetz und Altenpflegegesetz als ausreichend angesehen werden.
Gut zu wissen:
- Pflegefachkräfte können im Rahmen der häuslichen Krankenpflege, der außerklinischen Intensivpflege sowie der Beratungsbesuche pflegender Angehöriger konkrete Empfehlungen zur Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelversorgung abgeben.
- Bei Vorliegen einer Versorgungsempfehlung durch eine Pflegefachkraft bedarf es keiner ärztlichen Verordnung.
- Die Pflegekasse hat innerhalb von 3 Wochen über die Verordnungsempfehlung zu entscheiden. Wird diese Frist unbegründet versäumt, gilt die Leistung als genehmigt.
- Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen legt den Katalog der Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittel der empfehlungsfähigen Hilfs- und Pflegehilfsmittel bis zum 31.12.2021 fest.
Ausblick
Rechtshistorisch knüpft die Verordnungsempfehlung an die Regelung für Modellvorhaben gemäß § 63 Absatz 3b SGB V an, durch die Angehörige der im Pflegeberufegesetz, Krankenpflegegesetz und Altenpflegegesetz geregelten Berufe mit der Verordnungsbefugnis für Verbandmittel und Pflegehilfsmittel ausgestattet werden sollen. Vor dem Hintergrund der bereits damals bestehenden problematischen Versorgungslage wurde diese kompetenzerweiterende Option durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Mai 2008 in das Sozialversicherungsrecht eingefügt.
Da derartige Leistungsmodelle allerdings von den Krankenkassen nicht, bzw. äußerst zurückhaltend in spezialisierten Leistungsbereichen initiiert worden sind, wurden mit den Jahren die Stimmen immer lauter, die die Erweiterung der pflegerischen Leistungskompetenzen in die Regelversorgung einführen wollen – mit oder ohne Modellvorhaben. In diesem Sinne sollte sich die Zusammenstellung der „empfehlungsfähigen“ Produkte nun am wirklichen Bedarf der pflegetatsächlichen Versorgungsbedarfe orientieren.
Für eine umfassende Ausgestaltung spricht zudem die neue korrespondierende Verordnungsmöglichkeit für qualifizierte Pflegefachpersonen in geeigneten Leistungsbereichen der häuslichen Krankenpflege im Recht der gesetzlichen Krankenversicherungen. Gemäß § 37 Absatz 8 SGB V können gut ausgebildete Pflegefachkräfte innerhalb eines vertragsärztlich festgelegten Verordnungsrahmens für Leistungen der häuslichen Krankenpflege selbst über die erforderliche Häufigkeit und Dauer bestimmter Maßnahmen bestimmen.
In diesem Zusammenhang ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA) aufgerufen, die per „Blankoverordnung“ auszugestaltenden Versorgungsbereiche zusammenzustellen. Zur Vermeidung von Justierungsfehler durch die Zuständigkeitsdiskrepanz von GKV-Spitzenverbandes und des G‑BA sollten die oberen Selbstverwaltungsgremien ihre inhaltlichen Ausgestaltungspläne aufeinander abstimmen.
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnungskompetenz auf Empfehlungsbasis nur dann sinnhaft erscheint, wenn die entsprechend qualifizierten Pflegefachkräfte über die erforderliche Häufigkeit und Dauer ihrer Leistungen und verordnungsfähigen Maßnahmen tatsächlich auch selbst bestimmen können.
Sofern beispielsweise Dekubitusbehandlungen, das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfe oder der Wechsel von Kompressionsverbänden eigenständig durch Pflegefachpersonal wahrgenommen werden sollen, sollten die hierfür benötigten Materialien sinnhafter Weise auch direkt vom Pflegefachpersonal für den Patienten von der Krankenkasse gefordert werden dürfen – ohne bürokratische Einbindung des Arztes.
Von Prof. Dr. Volker Großkopf und Michael Schanz