Die Sozialgesetzgebung gleicht einer Dauerbaustelle. Die Flut der Gesetzesentwürfe ist nur schwer zu überschauen. Mitunter treten auch Widersprüchlichkeiten zu Tage. Was verbirgt sich hinter den gegenläufigen Definitionen von Verbandmitteln im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) und dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV). Wieso hierdurch die adäquate Versorgung der Patienten gefährdet sein kann, erklärt Rechtsanwalt Prof. Dr. Volker Großkopf im Gespräch.
Rechtsdepesche: Was halten Sie von der Definition für Verbandmittel, die durch das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz über § 31 Absatz 1a SGB V in das Recht der gesetzlichen Krankenversicherungen eingeführt worden ist?
Prof. Dr. Volker Großkopf: Die gesetzliche Klärung der Fragestellung, welche Produkte zur Wundversorgung per Definition den Verbandmitteln zugerechnet werden können, halte ich im Prinzip für zielführend. Immerhin wird hierdurch Rechtssicherheit im Versorgungsbereich „Wunde“ geschaffen.
Problematisch ist jedoch, dass der Gesetzgeber mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitet. Diese müssen erst durch Auslegung konkretisiert werden. Der erste Blick richtet sich dabei auf die Historie der Gesetzesentwicklung, sprich der Wille des Gesetzgebers ist zu erforschen: Hiernach gehören zur regelhaften Verbandmittelversorgung alle Produkte, deren Hauptwirkung darin besteht, oberflächengeschädigte Körperteile zu bedecken, Körperflüssigkeiten von oberflächengeschädigten Körperteilen aufzusaugen oder beides zu erfüllen. Damit hat der Gesetzgeber ganz bewusst Raum gelassen. Und zwar für solche Verbandmittel, die über ergänzende Wirkungen verfügen, die die Wundheilung zusätzlich unterstützen.
Dies ergibt sich zum einen aus der Gesetzesbegründung und zum anderen auch aus der Stellungnahme der Bundesregierung zum damaligen Änderungsentwurf des Bundesrates, in welchem dieser gefordert hat, die Verbandmitteldefinition noch klarer zu fassen. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zum HHVG gefordert, den Gesetzeswortlaut hinsichtlich der weiteren Wirkungen, welche für eine Verbandmitteleigenschaft unschädlich sind, konkreter zu fassen, um die in der Begründung zum Gesetzentwurf als Motivation für die Neuregelung genannte Rechtssicherheit zu erreichen. Hierzu hatte der Bundesrat folgende Formulierung des § 31 Absatz 1a Satz 2 SGB V vorgeschlagen:
„Die Eigenschaft als Verbandmittel entfällt insbesondere nicht, wenn ein Gegenstand ergänzend weitere Wirkungen hat, die der Wundheilung dienen, beispielsweise eine Wunde feucht hält, reinigt oder geruchsbindend, antimikrobiell oder proteasenmodulierend wirkt.“
Eine solche gesetzliche Klarstellung sah die Bundesregierung seinerzeit vor dem Hintergrund der Ausführungen in der Gesetzesbegründung jedoch als nicht notwendig an.
Daraus folgte: Solange der bedeckende oder aufsaugende Effekt der Wundauflage im Vordergrund steht, sollte es nach geltender Gesetzeslage überhaupt keine Rolle spielen, ob die Wundheilung durch physikalische oder nicht-physikalische Mechanismen unterstützt wird. Ohne Bedeutung ist es im Übrigen auch, ob diese Reaktionen in der Wunde oder Wundauflage stattfinden.
Auf Basis dieser Gesetzeslage sollte der Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA) in Ergänzung der Arzneimittelrichtlinie eine Abgrenzung zwischen verordnungsfähigen Verbandmitteln und den sogenannten „sonstigen Produkten zur Wundbehandlung“ vornehmen. Diese sonstigen Produkte sind nur dann verordnungsfähig, wenn durch Studien höchstmöglicher Evidenz ein Nutzennachweis dargelegt worden ist. Der G‑BA hat in der Folge eine Eingrenzung des Verbandmittelbegriffs vorgenommen: Er bschränkte diesen auf Produkte, deren ergänzende Eigenschaft sich ausschließlich auf physikalischen Weg entfaltet. Das würde bedeuten, dass beispielsweise all jene Produkte aus der regelhaften Verordnungsfähigkeit fallen, die über eine antimikrobielle Zusatzwirkung verfügen, die auf eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkweise zurückgeht. Diese enge Interpretation hat dann ja auch zum Streit mit dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) geführt, welcher auf dem Richtertisch des LSG Berlin-Brandenburg gelandet ist.
Rechtsdepesche: Entsteht aus Ihrer Perspektive durch die Einengung des Verbandmittelbegriffs eine Versorgungslücke, die auch juristische Probleme hervorrufen könnte?
Großkopf: Nun ja, als Jurist kann ich an dieser Stelle nicht wirklich dazu Stellung beziehen, ob beispielsweise die antimikrobielle Wirkung, die der Gesetzgeber ja sozusagen als Nebenwirkung festgesetzt hat, auf einem anderen Wege als durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung erfolgen kann. Für mich stellt sich das Ganze so dar, als ob der G‑BA in seinem Beschluss vom 19. April 2018 einen radikalen Schnitt machen wollte, indem er pauschal alle Produkte mit antimikrobieller Wirkung aus der regelhaften Verordnung auszuklammern versuchte. Betroffen wären davon alle Verbandmittel, die in eine Interaktion mit der Wunde eintreten.
Würde sich die Ansicht des G‑BA durchsetzen, wären diese Verbandmittel und auch noch weitere derzeit verwendete Produkte aus der Verschreibungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen hinauskatapultiert, bis ein entsprechender Nutzennachweis geführt worden sein sollte. Können die Verbandmittel, die ihre antimikrobielle Zusatzwirkung etwa über Silber‑, Polihexanid- oder Jod-haltige Wundkontaktschichten erzielen, ihre Wirksamkeit nicht belegen, werden sie aus der Verordnungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen.
Gleiches gilt natürlich auch für andere Produkte, deren ergänzende klinische Wirkweise möglicherweise auch als pharmakologisch einzustufen wäre, obwohl hierfür sogar teilweise entsprechende doppelt verblindete randomisierte Studien vorliegen. Diese Zäsur wirft Fragen auf. Zunächst zur Thematik antimikrobiell: Stehen andere, gleichwertige Methoden zur Verfügung, um das Infektionsgeschehen und die Keimbelastungen in der Wunde zu beherrschen? Bietet der systemische Einsatz von Antibiotika vor dem Hintergrund des Zehn-Punkte-Planes des Bundesgesundheitsministeriums zur Bekämpfung resistenter Erreger überhaupt eine Alternative? Und die nächste Frage wäre: Welche Anforderungen werden an den Wirksamkeitsnachweise gestellt? Ist überhaupt ein Studiendesign denkbar, mit dem die Hersteller den geforderten Wirksamkeitsnachweis erbringen können? Oder verlangt der G‑BA von den Herstellern von Verbandmitteln am Ende etwas Unmögliches? Alles in allem: Ja, ich habe Sorge um die langfristige Versorgungsqualität für Patienten mit chronischen Wunden. Aus juristischer Sicht verschärft das ganze Thema die ohnehin schwierige Gemengelage zwischen dem Sozialrecht und dem Zivilrecht.
Der vertrags- und haftungsrechtliche Sorgfaltsmaßstab des Bürgerlichen Gesetzbuches richtet sich an dem anerkannten Stand der pflegerischen und medizinischen Wissenschaft und Forschung aus. Das Sozialrecht unterliegt demgegenüber dem Regime der Wirtschaftlichkeit. Ist die Finanzierung der medizinisch-pflegerischen Standards jedoch nicht mehr gesichert, stellt sich die weitere Frage, ob über das Deliktsrecht Maßnahmen verlangt werden können, die nicht liquidationsfähig sind. Auch im Bereich der Wundversorgung dürfen wir weder den Ärzten, den Pflegenden noch den Patienten die Auflösung dieser unklaren Situation zumuten. Der G‑BA sieht das offensichtlich anders.
Rechtsdepesche: Der Gesetzgeber könnte aber doch nachjustieren?
Großkopf: Das hat er ja auch getan. Merkwürdiger Weise sind in Sachen „Verbandmitteldefinition“ verschiedene Gesetzesinitiativen parallel gelaufen, die den Streit zwischen BMG und G‑BA befrieden sollten: Wir haben auf der einen Seite das TSVG, initiiert durch den Bundesrat, und auf der anderen Seite das GSAV der Bundesregierung. Beide Gesetzesinitiativen beinhalten eine Definition des Begriffes „Verbandmittel“.
Die Definition des TSVG greift weiter und würde tatsächlich deutlich mehr Klarheit in den Verordnungsbereich bringen. Denn hier wird eindeutig auf die metabolische, pharmakologische und proteasenmodulierende Wirkung abgestellt, wordurch sich kein Widerspruch mit der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention ergäbe. Zwar wurde das TSVG von der Bundesregierung aufgrund des zu diesem Zeitpunkt ebenfalls veröffentlichten Referentenentwurfs zum GSAV, welcher auch eine Modifikation der Verbandmitteldefinition enthielt, als zielführend angesehen. Allerdings nahm das Kabinett dann in Abweichung zu diesem Entwurf der GSAV-Definition eine abermalige Änderung von § 31 Absatz 1a Satz 2 SGB V vor. Diese Rolle rückwärts führte zu größeren Rechtsunsicherheiten.
Im Übrigen würde das Inkrafttreten des derzeitigen Kabinettsentwurf auch gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen. Denn es ergibt sich das Problem der Feststellung, ob eine Wundauflage beispielsweise eine pharmakologische Wirkweise entfaltet. Schaut man sich die Formulierungen im GSAV-Entwurf genau an, offenbart sich eine weitere Merkwürdigkeit: Den Herstellern wird aufgebürdet einen Nicht-Zustand zu beweisen. Dies kommt quasi einem nicht zu akzeptierendem Ausforschungsbeweis gleich. Darüber hinaus wird der ursprüngliche Wille des Gesetzgebers konterkariert sowie die vollumfängliche Versorgung des Patienten mit adäquaten Wundauflagen gefährdet. Das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung wird insoweit seinem Titel nicht gerecht. Und es führt uns in Sachen Verbandmittel keinen Schritt weiter.