Verkehrssicherungspflicht
Ein Praxis­in­ha­ber oder ‑betrei­ber steht in der Pflicht zur Siche­rung mögli­cher Gefah­ren­quel­len in seiner Praxis. Bild: Jean Paul Chasse­net | Dreamstime.com

Verkehrs­si­che­rungs­pflicht – was ist das?

Die Pflicht zur Siche­rung von Gefah­ren­quel­len wird als Verkehrs­si­che­rungs­pflicht bezeich­net. Verkehrs­si­che­rungs­pflich­ten sind nicht gesetz­lich geregelt, sie wurden von der Recht­spre­chung entwi­ckelt – es handelt sich somit um eine allge­meine Rechts­pflicht. Jeder, der Gefah­ren­quel­len schafft oder unter­hält, muss entspre­chende Vorkeh­run­gen zum Schutz Dritter ergrei­fen. Voraus­set­zung für die Annahme einer Verkehrs­si­che­rungs­pflicht ist, dass sich voraus­schau­end für ein sachkun­di­ges Urteil die nahelie­gende Möglich­keit einer Schädi­gung von Rechts­gü­tern (beispiels­weise Eigen­tum, Leben, körper­li­che Unver­sehrt­heit) anderer ergibt.

Für einen Betrei­ber einer Arztpra­xis kann der Verstoß gegen diese Pflicht zivil- oder auch straf­recht­li­che Folgen nach sich ziehen. Da es keine pauschale Summen­be­gren­zung für Schadens­er­satz­an­sprü­che gibt, kann hierdurch bedingt schnell der Fortbe­stand der Praxis auf dem Spiel stehen bzw. bei Einzel­un­ter­neh­mern oder Freibe­ruf­lern das Privat­ver­mö­gen.

Was bedeu­tet dies für Sie als Praxis­in­ha­ber bzw. ‑betrei­ber?

Neben der Pflicht zur ordnungs­ge­mä­ßen Behand­lung treffen Sie auch Schutz­pflich­ten. Aus dem Umstand, dass Sie eine Arzt- oder anders gelagerte Praxis betrei­ben, haben Sie eine „Gefah­ren­quelle“ eröff­net. Sie trifft somit die Pflicht, Schäden von Patien­ten durch fehler­hafte Beschaf­fen­heit der Praxis­räume – seien es die Fußbo­den­be­läge oder das Inven­tar – zu vermei­den.

Der Betrei­ber einer Praxis ist grund­sätz­lich verpflich­tet, dafür Sorge zu tragen, dass sich Perso­nen sowohl in den Praxis­räu­men als auch auf dem Weg dorthin sicher bewegen können und keinen unerwar­te­ten Gefah­ren ausge­setzt sind. Eine vollkom­mene Verkehrs­si­cher­heit, die jeden Unfall ausschließt, lässt sich indes­sen nicht errei­chen.

Es sind daher von Ihnen nur dieje­ni­gen Vorkeh­run­gen zu treffen, die nach den Sicher­heits­er­war­tun­gen des jewei­li­gen Verkehrs (hier: Perso­nen­ver­kehr in Ihrer Praxis, Frequen­tie­rung Ihrer Praxis, Gesund­heits­zu­stand der jewei­li­gen Patien­ten, vorge­nom­mene Behand­lun­gen, Narkose etc.) geeig­net sind. Zudem sind Gefah­ren von Patien­ten oder anderen Besuchern der Praxis tunlichst abzuwen­den, die bei bestim­mungs­ge­mä­ßem und nicht ganz fernlie­gen­dem bestim­mungs­wid­ri­gen Gebrauch drohen. Die Grenzen der Verkehrs­si­che­rungs­pflicht sind demnach bei solchen Gefah­ren zu sehen, denen Ihr Patient auch bei Anwen­dung zumut­ba­rer eigener Vorsicht nicht zuver­läs­sig begeg­nen kann.

Sie als Praxis­in­ha­ber können in diesem Zusam­men­hang auch Organi­sa­ti­ons­pflich­ten treffen. So können beispiels­weise durch Anwei­sun­gen an das Perso­nal einzelne Aufga­ben auf diese übertra­gen werden. Die Übertra­gung von Verkehrs­si­che­rungs­pflich­ten auf Dritte ist somit möglich. Dies ist oftmals bei der Übertra­gung von Räum- und Streu­pflich­ten im Winter der Fall (Parkplatz, Treppen­stu­fen zur Praxis etc.). Sie als Eigen­tü­mer bzw. Betrei­ber der Praxis sind jedoch vorran­gig verkehrs­si­che­rungs­pflich­tig. Vor Übertra­gung der Verkehrs­si­che­rungs­pflicht müssen Sie sich davon überzeu­gen, dass derje­nige, der den Auftrag ausführt, hierzu willens und auch in der Lage ist.

Zu beach­ten ist, dass eine vollstän­dige Übertra­gung der Verkehrs­si­che­rungs­pflicht auf eine dritte Person von vornher­ein grund­sätz­lich ausschei­det. Der Betrei­ber der Praxis bleibt hier neben dem Dritten für den gefahr­lo­sen Zustand sowohl der Praxis­räume als auch des direk­ten Zuwegs zur Praxis verkehrs­si­che­rungs­pflich­tig. Sie trifft hier eine Kontroll- als auch Überwa­chungs­pflicht dahin­ge­hend, dass derje­nige, dem Sie die Aufgabe übertra­gen haben, diese auch tatsäch­lich und ordnungs­ge­mäß ausführt.

Im Berufs­all­tag wird hiervon auch oft bei der Delegie­rung des Reini­gens des Eingangs- oder Anmel­de­be­reichs der Praxis im Winter bzw. gänzlich bei Schmud­del­wet­ter Gebrauch gemacht. Es ist anzura­ten, die jewei­lige Übertra­gung von Aufga­ben an Angestellte bzw. Dritte (täglich) zu proto­kol­lie­ren. Auf diese Weise kann für den Fall, dass es bei Einhal­tung der Verkehrs­si­che­rungs­pflicht dennoch zu einem Schaden­fall gekom­men ist, der Entlas­tungs­be­weis geführt werden.

Beispiele aus der Schaden­pra­xis: Verfah­ren vor dem AG Hagen

Sachver­halt

Die Kläge­rin ist seit zwei Jahrzehn­ten in ständi­ger Behand­lung bei dem Beklag­ten. Bereits vor Jahren wurde der Kläge­rin eine Wärme­be­hand­lung verord­net, welche der Beklagte durch­ge­führt hat. Aus der Vergan­gen­heit kannte die Beklagte daher den Ablauf. Nach Aufruf durch die Arzthel­fe­rin setzte sich die Kläge­rin auf einen Hocker, an dem rechts und links Griffe bzw. Lehnen vorhan­den sind. Ein Rücken­teil ist nicht vorhan­den, da von dort die Wärme­be­hand­lung vorge­nom­men wird. Der Hocker ist auf Rollen montiert. Über die Beendi­gung der Wärme­be­hand­lung wurde die Kläge­rin durch Zuruf der Arzthel­fe­rin infor­miert. Der Kläge­rin wurde beim Aufste­hen nicht gehol­fen. Hervor­zu­he­ben ist, dass die Kläge­rin die Arzthel­fe­rin auch nicht um Unter­stüt­zung beim Aufste­hen gebeten hatte. Als sich die Kläge­rin erheben wollte, rutschte bzw. rollte der Stuhl nach hinten weg. Hierdurch bedingt verlor die Kläge­rin den Halt und fiel rücklings mit dem Kopf gegen den Heizkör­per, wobei sie sich einen circa 7 cm langen Riss am Hinter­kopf zugezo­gen hat. Beim Versuch, sich abzustüt­zen, brach das rechte Handge­lenk. Seit dem Vorfall klagt die Patien­tin über ständi­gen Schwin­del sowie Kopfschmer­zen.

Recht­li­che Beurtei­lung

Eine Haftung des Arztes ist sowohl unter vertrags­recht­li­chen als auch delikts­recht­li­chen Gesichts­punk­ten zu prüfen. Eine schuld­hafte Verlet­zung der dem Arzt oblie­gen­den Verkehrs­si­che­rungs­pflich­ten ist grund­sätz­lich geeig­net, um sowohl einen Schadens­er­satz­an­spruch aus positi­ver Vertrags­ver­let­zung nach § 280 BGB (hier: Behand­lungs­ver­trag) als auch einen delikt­i­schen Anspruch nach § 823 BGB zu begrün­den.

Das Gericht geht von einer Pflicht­ver­let­zung des Beklag­ten aus, da er auch für Organi­sa­ti­ons­feh­ler haftet. Der Arzt hat die Behand­lungs­ab­läufe sachge­recht zu organi­sie­ren. Ihn trifft insofern eine erhöhte Obhut­s­pflicht, dass Patien­ten seinen Behand­lungs­raum körper­lich unver­sehrt verlas­sen. Der Praxis­be­trieb muss daher so organi­siert sein, dass der Patient vor, während und nach der Behand­lung nicht gefähr­det wird.

Diesen Anfor­de­run­gen hat der Arzt im zur Diskus­sion stehen­den Fall nicht genügt, da ihm bekannt gewesen ist, dass die Patien­tin auf einen Rolla­tor angewie­sen war. Die Patien­tin wurde im vorlie­gen­den Fall zuvor auch bei den Unter­su­chun­gen von der Sprech­stun­den­hilfe unter­stützt.

Es oblag dem Arzt, sicher­zu­stel­len, dass die Patien­tin nach der Behand­lung von dem Hocker ohne Rücken­teil und mit fünf nicht feststell­ba­ren Rollen nicht alleine aufsteht. Eine solche Hilfe­stel­lung wurde der Patien­tin jedoch nicht angebo­ten.

Aller­dings musste vorlie­gend auch berück­sich­tigt werden, dass die Patien­tin ihre körper­li­chen Beein­träch­ti­gun­gen, die ein Aufste­hen von dem Hocker erschwer­ten, kannte und ebenso aus den in der Vergan­gen­heit erfolg­ten Behand­lun­gen wusste, dass ihr nach der Wärme­be­hand­lung nicht von dem Perso­nal des Arztes aufge­hol­fen wird. Hierdurch bedingt begrün­det sich eine Mithaf­tung der Verletz­ten nach § 254 BGB, welche das Gericht mit einem Drittel bemes­sen hat.

Ein weite­rer Sachver­halt (Klärung noch offen)

In einem weite­ren Fall steht die Frage der Beurtei­lung der Haftungs­frage noch aus. Der Versi­che­rungs­neh­mer betreibt eine Massa­ge­pra­xis. Nach dem Praxis­be­trieb werden die Räumlich­kei­ten von der Mitar­bei­te­rin einer Gebäu­de­rei­ni­gungs­firma gerei­nigt. Die Reini­gungs­kraft war erstmals in den Räumlich­kei­ten des Versi­che­rungs­neh­mers tätig. Offen­bar hatte sich ein Putztuch unter einer Massa­ge­liege verfan­gen. Die Reini­gungs­kraft begab sich unter die Liege, um das Putztuch heraus­zu­ho­len. Hierbei kam die Reini­gungs­kraft offen­bar unbeab­sich­tigt auf den Auslö­ser der Hydrau­lik, welche das Herun­ter­fah­ren der Liege zur Folge hatte und die Reini­gungs­kraft tödlich verletzte.

Recht­li­che Beurtei­lung

Es wird nunmehr zu klären sein, ob und ggf. in welchem Umfang der Betrei­ber der Massa­ge­pra­xis etwaige Verkehrs­si­che­rungs­pflich­ten verletzt hat und inwie­fern diese für den Tod der Reini­gungs­kraft (mit-)ursächlich waren. Weiter­hin wird zu prüfen sein, ob auch der Arbeit­ge­ber der Reini­gungs­kraft seiner Verpflich­tung nachge­kom­men ist, seine Angestellte vor Aufnahme der Tätig­keit in den Räumlich­kei­ten der Massa­ge­pra­xis über die Gefah­ren, die von Geräten in Praxis­räum­lich­kei­ten ausge­hen, aufzu­klä­ren. Auch die Frage, ob ein Produkt­man­gel (Funktio­na­li­tät der Mecha­nis­men zum Hoch- bzw. Herun­ter­fah­ren der Liege) mitur­säch­lich gewesen ist, wird zu klären sein.

Fazit

Die Aufgabe Ihres Haftpflicht­ver­si­che­rers besteht mithin nicht allein in der Befrie­di­gung berech­tig­ter Ansprü­che, sondern vielmehr auch in der Prüfung, ob und gegebe­nen­falls in welchem Umfang Sie für den einge­tre­te­nen Schaden haftbar gemacht werden können. Bei Abschluss einer Haftpflicht­ver­si­che­rung sind Sie gegen finan­zi­elle Ansprü­che abgesi­chert. Das Leben einer getöte­ten Person kann der Haftpflicht­ver­si­che­rer jedoch nicht erset­zen.

Seien Sie somit im Umgang mit Verkehrs­si­che­rungs­pflich­ten ebenso sorgsam, wie Sie es auch bei der unmit­tel­ba­ren Behand­lung Ihrer Patien­ten sind.

Von Hanno Weber, HDI Versi­che­rungs AG, Köln