In einem Altenheim wurde Herr M. aufgenommen, der unheilbar an Lungenkrebs erkrankt war. Sein Zustand verschlechterte sich täglich. Sein Arzt bewertete seinen Gesundheitszustand als präfinal und rechnete mit seinem Ableben in den nächsten Stunden und Tagen. Der Arzt ordnete eine Versorgung mit fünf Milligramm Morphin an, die maximal alle vier Stunden erfolgen sollte, wenn andere schmerzlindernde Medikamente nicht mehr die gewünschte Wirkung erzielten.
Wie wirkt Morphin?
Bei Krebspatientinnen oder ‑patienten sind Dosen Morphin zwischen fünf und 30 Milligramm in einem zeitlichen Abstand von vier bis sechs Stunden regelkonform. Morphin wirkt nach etwa 20 Minuten schmerzlindernd. Es beruhigt, bewirkt bei dem Schwerkranken eine gewisse Entspannung, führt aber auch zu einer Verflachung der Atmung bis hin zu Atemaussetzern.
Wie ärztlich angeordnet verabreichte der zuständige Pfleger Herrn M. erstmals eine Morphin-Dosis von fünf Milligramm, was der Pfleger so auch dokumentierte. Kurz vor Ende seiner Schicht gegen sechs Uhr morgens schaute der Pfleger erneut nach dem Patienten und fragte ihn, ob er Schmerzen habe. Dies bejahte der Patient. Angesichts der scheinbaren Qualen, die Herr M. wegen der Schmerzen erlitt, entschied sich der Pfleger dazu, die doppelte Menge – also zehn Milligramm – Morphin zu verabreichen.
Dass der Pfleger keinen Arzt zu Rate zog, sondern eigenmächtig handelte, hing wohl damit zusammen, dass er sich in eine ungelernte Pflegefachkraft verliebt hatte – unerwidert – und diese mit seiner Tatkraft beeindrucken wollte. Ihr gegenüber sagte er, dass sie ihn nicht verpetzen solle und er den Patienten nun „weggespritzt“ habe. Der Pfleger dokumentiert allerdings nicht die doppelte Dosis Morphin, sondern nur die vom Arzt angeordneten fünf Milligramm. Um 9:30 Uhr desselben Morgens verstarb der Patient. Die Morphininjektion war nicht todesursächlich.
Injektion einer Überdosis Morphin durch Altenpfleger
Ein ähnlicher Fall ereignete sich in einer Seniorenresidenz. Eine dort arbeitende Pflegefachkraft verabreichte einem im Sterben liegenden Patienten eine Überdosis Morphin, um ihn vor quälenden Schmerzen zu bewahren. Wie kam es dazu?
Der Patient Herr R. wurde mit Darmkrebs in der angesprochenen Seniorenresidenz aufgenommen. Zuvor hatte der 84-Jährige eine Patientenverfügung errichtet, in der er bestimmt hatte, dass im „unabwendbaren unmittelbaren Sterbeprozess“ aufgrund einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr ergriffen werden sollten. Für diesen Fall hatte er den Wunsch geäußert, dass ihm „bei Schmerzen, Erstickungsängsten und Atemnot, Übelkeit, Angst sowie anderen qualvollen Zuständen und belastenden Symptomen Medikamente verabreicht werden“ die ihn „von Schmerzen und größeren Belastungen befreien, selbst wenn dadurch sein Tod voraussichtlich früher eintreten“ werde.
Der Zustand von Herr R. verschlechterte sich über Wochen. Eine Ärztin stellte bei dem Patienten schließlich einen veränderten Atemrhythmus und eine Marmorierung der Haut fest. Dies wertete sie als Anzeichen eines bevorstehenden Todes. Sie ging davon aus, dass der Patient noch am selben Tag in der Nacht sterben werde. Sie ordnete an, dem Patienten alle vier Stunden fünf Milligramm Morphin zu verabreichen. Alle anderen Medikamente wurden abgesetzt. Die angeklagte Pflegefachkraft führte die Anordnung wie besagt durch, bis der Patient in der Nacht wieder anfing zu stöhnen und offensichtlich Schmerzen hatte. Die Pflegerin entschloss sich deshalb dazu – entgegen der ärztlichen Anordnung – nicht fünf Milligramm, sondern zehn Milligramm Morphin zu injizieren. Den genauen Inhalt der Patientenverfügung des Patienten kannte sie aber nicht. Einige Stunden später starb der Patient an Herz-Lungen-Versagen. Das Landgericht konnte nicht feststellen, dass der Tod des Patienten durch die Morphininjektion verursacht wurde.
Zwei Fälle eine Entscheidung
Beide Fälle wurden vor dem Landgericht in Darmstadt verhandelt. In beiden Fällen erkannte das Landgericht einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der im Sinne von § 223 Abs 1. StGB eine Körperverletzung darstellt. Im ersten Fall wurde der angeklagte Pfleger zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Im zweiten Fall wurde die angeklagte Pflegerin zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. Beide Fälle gingen in Revision, die bei beiden begründet ist, denn die Urteile sind rechtsfehlerhaft.
Durchgreifend rechtsfehlerhaft ist die Verneinung einer Rechtfertigung der Handlung. Das Landgericht ging in beiden Fällen davon aus, dass eine Rechtfertigung alleine schon deshalb nicht möglich sei, weil die Pflegefachkräfte sich gegen ärztliche Anordnungen gestellt haben gemäß § 29 Absatz 1 Nummer 6 Buchstabe b BtMG. Ein solcher Eingriff kann aber dann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn eine wirksame erklärte oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten gegeben ist.
Es muss zudem erkannt werden, dass in beiden Fällen die Morphinjektion nicht ursächlich für den Tod der Patienten war. Es ist somit auch nicht das Tatbestandsmerkmal einer Gesundheitschädigung im Sinne des § 223 Absatz 1 StGB erfüllt. Die Maßnahmen zur Leidensminderung sind darüber hinaus nicht ausnahmslos durch Ärztinnen und Ärzte oder durch ärztliche Anordnung beschränkt. Das bedeutet auch Pflegefachkräfte können nach eigenem Ermessen die Dosis von Morphin erhöhen, wenn dies den Regeln der ärztlichen Kunst entspricht und sich im Rahmen einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten bewegt.
Patientenwillen muss beachtet werden
Im Gegenteil: Sollte den Wünschen des Patienten zur Schmerzlinderung nicht nachgegangen werden, kann das als Garant für eine Körperverletzung angesehen werden. Eine mutmaßliche Einwilligung kommt in Betracht, wenn eine ausdrückliche Einwilligung aufgrund vorübergehender Einwilligungsunfähigkeit nicht oder nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Ob eine mutmaßliche Einwilligung in den Fällen vorlag, hätte das Landgericht prüfen müssen.
Zur Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens gehört nämlich auch die Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts, das sich aus mehreren Gesichtspunkten ableitet:
- Persönliche Umstände
- Individuelle Interessen
- Wünsche
- Bedürfnisse und Wertvorstellung
Hinweise und Indizien hierfür liefern Gesprächen mit betreuenden Personen über zum Beispiel eine mögliche Patientenvergügung, die noch nicht unterzeichnet wurde. Auch die Betrachtung des allgemeinen Verhaltens der Patientin oder des Patienten sowie Äußerungen gegenüber der entsprechenden Pflegekraft können Aufschluss über den mutmaßlichen Patientenwillen geben. Zwar werden auch ärztliche Anweisungen zur Ermittlung des Patientenwillens in Betracht gezogen. Jedoch kann beim eigentlichen Sterbevorgang unmittelbar vor dem Tod auch die Schmerzbekämpfung mit allen verfügbaren und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Mitteln als vernünftig und deshalb dem mutmaßlichen Patientenwillen entsprechend anzusehen sein. Vor allem – wenn wie in den beiden vorgestellten Fällen – die ärztlich verordnete Schmerzmedikation an der Untergrenze des medizinisch Angemessenen gelegen hat.
Verstoß gegen die guten Sitten trotz Einwilligung?
Nach § 228 StGB kann eine Körperverletzung auch bei Einwilligung der verletzten Person rechtswidrig sein, wenn sie gegen die guten Sitten verstößt. Das Gesetz verbindet hierbei Rechtsfolgen einer konkreten oder mutmaßlichen Einwilligung mit ethisch-moralische Vorstellungen, die ihre Grundlagen im Zivilrecht haben. Inwieweit bei Betrachtung des Bestimmtheitsgebots von Artikel 103 Absatz 2 GG eine mutmaßliche Einwilligung vereinbar ist mit den guten Sitten kann offenbleiben. Eindeutig ist aber, dass die Verabreichung von Schmerzmitteln von Pflegekräften ohne ärztliche Anordnung (§ 29 Absatz 1 Nummer 6 Buchstabe b BtMG) nicht unbedingt eine Sittenwidrigkeit nach §228 StGB darstellt. Gerade Maßnahmen, die medizinisch begründet und deshalb einen anerkannten Zweck verfolgen, verstoßen grundsätzlich nicht gegen die guten Sitten. Lässt sich eine Sittenwidrigkeit der Tat nicht zweifelsfrei feststellen, ist auch eine rechtswidrige Körperverletzung nicht gegeben, sofern eine Einwilligung des Patienten vorliegt.
Dass die Prüfung einer mutmaßlichen Einwilligung in beiden Fällen sehr wichtig gewesen wäre, wird noch mal deutlich, wenn in Bezug auf § 228 StGB der Bereich der „indirekten Sterbehilfe“ betrachtet wird. In diesem Zusammenhang haben die Freiheitsrechte einzelner Personen besondere Bedeutung. Normalerweise schränkt § 228 die Freiheit des oder der Einzelnen ein, wenn dadurch das Individualrechtsgut der körperlichen Unversehrtheit gefährdet ist. Dies müsste bei der „indirekten Sterbehilfe“ neu betrachtet werden.
Ausnahmesituation: unheilbar kranke Person
Beim Sterben einer unheilbar kranken Person, der unmittelbar vor dem Tod nur noch nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden kann, besteht eine besondere Ausnahmesituation. Handelt ein Nichtarzt entsprechend abweichend der ärztlichen Anordnung, bedeutet das nicht automatisch, dass die Rechtfertigung einer Körperverletzung durch mutmaßliche Einwilligung ausgeschlossen ist. Das hat das Landesgericht jedoch rechtsfehlerhaft vorausgesetzt. Kann Patientinnen und Patienten unmittelbar vor dem Tod nur noch durch Schmerzlinderung geholfen werden, hat das die höchste Priorität. Ärztliche Anweisungen treten so in den Hintergrund.
Quelle: BGH vom 26.5.2020 – 2 StR 434/19 und BGH vom 30.1.2019 2 StR 325/17