Ist es ein Tumor? Mit Schmerzen im bereits geschwollenen rechten Oberschenkel ging eine Frau im Herbst 2010 zu einer orthopädischen Fachpraxis. Ihr Hausarzt hatte sie zuvor dahin überwiesen. Nach Röntgenaufnahmen des Oberschenkels bei der Erstuntersuchung konnte der behandelnde Arzt keine Auffälligkeiten feststellen, weshalb er eine Prellung des Oberschenkels diagnostizierte. Der Arzt ging davon aus, dass die Schwellung ein abgekapseltes Hämatom war und empfahl der Patientin eine Kryotherapie.
Nach weiteren Untersuchungen in derselben Praxis – unter anderem einer Ultraschalluntersuchung – und der Behandlung mit Kompressionsverbänden, Salben und Schmerzmitteln hatte sich die Schwellung der Patientin derart verschlechtert, dass der behandelnde Arzt eine MRT-Untersuchung veranlasste. Diese ergab eine solide tumoröse Raumforderung.
Schon am nächsten Tag kam die Patientin in ein Krankenhaus, wo durch weitere Maßnahmen ein undifferenziertes, mäßig pleomorphes Sarkom festgestellt wurde. Der Tumor wurde direkt reseziert, wodurch auch ein großer Teil der Oberschenkelmuskulatur mit entfernt werden musste. Im Frühjahr 2011 folgte eine adjuvante Bestrahlungstherapie.
Der Krebs konnte trotz Bestrahlungstherapie nicht mehr eingedämmt werden. Mehrere Metastasen wurden im Verlauf der Behandlung festgestellt – unter anderem im Gehirn. Die Patientin starb im Jahr 2012 an den Folgen ihrer Krebserkrankung.
Erbe erhebt Klage und bekommt teilweise recht
Erbe und Ehemann der Patientin erhob schließlich Klage gegen den behandelnden Arzt in der orthopädischen Fachpraxis. Der Kläger warf dem Beklagten vor, dass spätestens nach der Ultraschalluntersuchung im Oktober 2010 eine bösartige Weichteilveränderung in Betracht hätte gezogen werden können. Der Kläger ging weiter davon aus, dass eine frühzeitige Erkennung des Tumors der Patientin erhebliche Beeinträchtigungen, Schmerzen und vor allem den frühzeitigen Tod erspart hätten.
Das Landesgericht Gießen hat zugestimmt, dass ein Befunderhebungsfehler des Beklagten vorliegt. Ein Schmerzensgeld von 30.000 Euro wären somit gerechtfertigt so das LG. Für die entstandenen Haushaltsführungsschäden bei der Patientin stünden dem Kläger zudem weitere 20.349 Euro zu.
Sowohl Kläger als auch Beklagte haben hiergegen allerdings Berufung eingelegt. Der Streithelfer (er hatte die Ultraschalluntersuchung durchgeführt) schloss sich dem Zurückweisungsantrag des Beklagten an. Der Kläger erhöhte seinen Schmerzensgeldantrag auf 260.000 Euro.
War es nur ein Diagnoseirrtum oder doch ein grober Fehler?
Eine Haftung des Beklagten blieb auch in der Berufung ohne Zweifel. Es wurde darüber hinaus festgestellt, dass der Kläger gemäß §§ 611, 280 Absatz 1, 249, 253 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) weiterhin Anspruch auf Schmerzensgeld hat. Das liegt daran, dass der Beklagte seine Befunderhebungspflicht verletzt hat. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinischer Befunde unterlassen wird.
Ein Diagnoseirrtum hingegen würde vorliegen, wenn der Arzt die vorliegenden Befunde lediglich falsch interpretiert und deshalb nicht die nötigen Maßnahmen zur Behandlung ergreift. Hierzu müssten aber in einem ersten Schritt die Befunde überhaupt erhoben werden, um auf Basis dieser die Krankheit einzuordnen. Da dies nicht in einem ausreichenden Maß geschehen ist – die Untersuchung war also unzureichend – liegt ein Befunderhebungsfehler vor. Ausschlaggebend ist also nicht die Falschinterpretation, sondern die Nichterhebung.
Tumor und kein Hämatom: Keine Grundlage für die Diagnose
Warum der Beklagte ein Hämatom diagnostiziert hatte, bleibt fraglich. Denn für diese Diagnose gab es keine hinreichende Grundlage – auch die Krankheitsgeschichte der Patientin legte ein Hämatom nicht nahe. Keine der veranlassten Untersuchungen, weder die Röntgen- noch die Ultraschalluntersuchung legten ferner ein Hämatom nahe, so dass der Beklagte einen Tumor nicht einfach so hätte ausschließen können.
Die betriebene Diagnostik des Beklagten war nicht geeignet, zudem ist er vorschnell ohne geeignete Grundlage zu einem Ergebnis gekommen. Ein Befunderhebungsfehler ist somit in keinem Fall auszuschließen.
Hätte der fatale Krankheitsverlauf gestoppt werden können?
Es ist also davon auszugehen, dass ein haftungsbegründeter Zusammenhang zwischen dem Befunderhebungsfehler des Beklagten und dem Schaden der Patientin zumindest möglich ist. Das ist dann der Fall, wenn sich durch eine richtige Untersuchung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund gezeigt hätte, dass der tatsächlich eingetretene Gesundheitsschaden zu vermeiden gewesen wäre. So ist allerdings das Verkennen der Symptome als grob fehlerhaft darzustellen.
Denn wäre der Tumor nur einen Monat früher entdeckt worden, wäre die statistische Prognose der Patientin um zehn bis 21 Prozent besser gewesen. Das erklärte der onkologische Sachverständige vor Gericht. Eine solche Quote macht einen haftungsbegründeten Ursachenzusammenhang wahrscheinlich. Der Beklagte haftet somit für die durch sein Fehlverhalten entstandenen Schäden.
Wie hoch ist die Schmerzensgeldzahlung?
Während die Berufung des Beklagten somit erfolglos blieb, war die Berufung des Klägers zumindest teilweise erfolgreich. Der Beklagte muss demnach 53.091,62 Euro an den Kläger zahlen. Was die geforderte Höhe der Schmerzensgeldzahlung angeht, wurde die Berufung des Klägers allerdings abgewiesen.
Gemäß § 253 Absatz 2 BGB besteht ein Anspruch auf Schadensersatz. Dieser wurde von 20.000 Euro nun auf 50.000 Euro gehoben. Der Senat hält das angesichts der Leidensdauer und Leidensumstände der Patientin für angemessen. Die vom Kläger geforderten 260.000 Euro Schmerzensgeld sind somit als deutlich zu hoch zu bewerten. Möchte der Kläger gegen diese Entscheidung erneut Berufung einlegen, fehlt ihm die Vergleichbarkeit.
Neben den Schmerzensgeldzahlungen wurden auch Zahlungen zur Deckung des entstandenen Haushaltsführungsschadens gefordert. In dieser Hinsicht steht dem Kläger allerdings kein Schadensersatzanspruch zu, da die wirtschaftlichen Vorteile durch Witwenrente und der wegfallenden Barunterhaltspflicht überwiegen. Nach Berechnungen des Bundesgerichtshofs hat der Kläger durch den Tod seiner Frau einen saldierten Barunterhaltsvorteil von 439,57 Euro im Monat.
Entscheidend für die Bemessung des Schmerzensgeldes sind also der Leidensweg der Patientin bis zu ihrem Tod und ihr Alter und ihre familiäre Situation. Die Genugtuungsfunktion, der Grad des Verschuldens des Schädigers und wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien haben den Fall nicht beeinflusst.