Fentanyl
Fenta­nyl kann auch gespritzt werden Bild: © Tasha­tu­vango | Dreamstime.com

Unter dem Titel „Streets of Philadel­phia“ stand 1993 das traurige Lied, das der US-Musiker Bruce Springsteen für das AIDS-Drama „Philadel­phia“ geschrie­ben hatte; sowohl Film als auch Titel­lied bekamen einen Oscar.

Mehr als 30 Jahre später schei­nen das Lied, und sein Text, auf ganz andere Weise wieder aktuell: Die gleich­na­mige Indus­trie­me­tro­pole im US-Bundes­staat Pennsyl­va­nia, und dort vor allem der Stadt­teil Kensing­ton, gilt als das Zentrum der Fenta­nyl-Krise in den USA.

Fenta­nyl: Zombie-Droge

Und die Bilder, die einen von den Straßen von Philadel­phia errei­chen, sind bedrü­ckend und verstö­rend: Menschen mit zerstör­ten Körpern, die verwahr­lost und apathisch in Gruppen auf dem Bürger­steig lagern. Ihr ganzes Leben dreht sich um den nächs­ten Schuss Fenta­nyl, den sie sich rund alle zwei Stunden setzen müssen, um den Wirkstoff­spie­gel in ihrem Körper aufrecht zu erhal­ten.

„Zombie-Droge“ hat man in den USA Fenta­nyl umgangs­sprach­lich getauft – zum einen wegen der „eckig“ und unkoor­di­niert wirken­den Bewegungs­ab­läufe, die bei den Konsu­men­ten zu beobach­ten sind, zum anderen schlicht wegen des trost­lo­sen Zustands der Schwerst­ab­hän­gi­gen, die eine Art Zwischen­zu­stand von tot und leben­dig erreicht haben und auf den Straßen vor sich hin vegetie­ren.

Im Zeitraum zwischen Juli 2021 und Juni 2022 regis­trier­ten die US-Behör­den mit rund 107.000 erstmals in der Geschichte des Landes eine sechs­stel­lige Zahl an Drogen­to­ten.

Häufigste Todes­ur­sa­che

Rund 70 Prozent davon entfal­len allein auf synthe­ti­sche Opioide, wozu auch Fenta­nyl gehört und das in dieser Gruppe mit weitem Abstand die meisten Todes­fälle verur­sacht. In der Alters­gruppe von 14 bis 49 Jahren war Fenta­nyl-Missbrauch, mit Stand von 2023, in den USA die häufigste unter sämtli­chen Todes­ur­sa­chen; die immer stärkere Verbrei­tung der Droge gilt – neben den vermehr­ten Todes­fäl­len infolge der Corona-Pande­mie – als Mitur­sa­che dafür, dass die Lebens­er­war­tung in den USA seit 2020 sinkt statt steigt.

Neben Philadel­phia als Hotspot der Fenta­nyl-Krise sind vor allem weite Regio­nen im Südos­ten der USA sowie in der Bergre­gion der Appala­chen im östli­chen US-Binnen­land betrof­fen, die in weiten Teilen als abgehängt gilt – von Missouri über Tennes­see bis West Virgi­nia, einem der ärmsten unter den Bundes­staa­ten.

Narko­ti­kum aus den 1960er Jahren

Entwi­ckelt wurde Fenta­nyl in den 1960er-Jahren. Medizi­nisch wird es seit Jahrzehn­ten zur Linde­rung starker oder chroni­scher Schmer­zen sowie als Narko­ti­kum einge­setzt. Die ungewollte zweite „Karriere“ des Wirkstoffs begann 1996, als der Arznei­mit­tel­kon­zern Purdue Pharma sein Schmerz­me­di­ka­ment „Oxycon­tin“ auf den Markt brachte.

Es sei hochwirk­sam und besitze kaum Sucht­po­ten­zial, so das damalige Verspre­chen des Herstel­lers. Nach der jahre­lan­gen massen­haf­ten Verschrei­bung des Medika­ments hatten sich zahlrei­che Menschen an das Mittel gewöhnt – und „konnten nicht mehr ohne“.

An die Stelle des 2019 insol­vent gegan­ge­nen Pharma­kon­zerns sind mexika­ni­sche Drogen­kar­telle getre­ten, die das meist aus chine­si­schen Laboren stammende Fenta­nyl in die USA schmug­geln. Fenta­nyl gilt als 50 Mal stärker wirkend als die gleiche Menge Heroin; gegen­über Morphin ist es sogar 100-fach poten­ter. Zwei Milli­gramm, gleich­zei­tig einge­nom­men, gelten als tödlich.

Illegal produ­zier­tes Fenta­nyl am Markt

Inzwi­schen erreicht das illegal produ­zierte und vertrie­bene Fenta­nyl, das als Tablette einge­nom­men, gespritzt, per Pflas­ter oder Nasen­spray verab­reicht wird, in immer stärke­rem Maße Europa und Deutsch­land.

Offen­bar gelangt es, über den Produk­ti­ons­stand­ort China und Latein­ame­rika als Ort der Weiter­ver­ar­bei­tung, über den Seeweg auf den Konti­nent – oder in kleinen Mengen in Briefen und Paketen versteckt, so das Bundes­kri­mi­nal­amt (BKA) auf Anfrage des Berli­ner „Tages­spie­gel“. Feste Szenen aus Dealern und Konsu­men­ten hätten sich hierzu­lande zwar noch nicht gebil­det, hieß es. Meist würde Fenta­nyl im Darknet, dem nur per Verschlüs­se­lungs-Programm zugäng­li­chen Teil des Inter­nets, geordert.

Fenta­nyl als Beimi­schung zu Heroin

Immer häufi­ger wird Fenta­nyl jedoch auch als Beimi­schung zu anderen harten Drogen wie Heroin entdeckt. So wurden bei „Drug-Scree­nings“ in Hamburg – wo Heroin-Konsu­men­ten auf freiwil­li­ger, nieder­schwel­li­ger Basis ihren Stoff unter­su­chen lassen können – in elf Prozent der Proben Fenta­nyl nachge­wie­sen. Auch bei Schnell­tests in Drogen­kon­sum­räu­men in NRW, so etwa in Wupper­tal, Münster oder Düssel­dorf, habe es laut WDR gelegent­li­che Treffer gegeben.

Als Mitur­sa­che für die Anrei­che­rung mit Fenta­nyl gilt die gesun­kene Verfüg­bar­keit von Heroin auf dem Schwarz­markt: Nachdem die afgha­ni­schen Taliban 2022 den Anbau von Schlaf­mohn, der Quell­pflanze zur Gewin­nung des Heroin-Grund­stoffs Opium, verbo­ten, sanken die Ausfuhr­men­gen im Folge­jahr um 95 Prozent.

Bis dahin entfiel auf Afgha­ni­stan geschätzt 80 bis 90 Prozent der Weltpro­duk­tion von Opium. Wegen der damit gestie­ge­nen Preise für Heroin schei­nen Drogen­kar­telle und Dealer ihren Stoff mit dem auf ähnli­che Weise wirken­den, billi­ge­ren und ausschließ­lich synthe­tisch herge­stell­ten Fenta­nyl zu strecken.

Gegen eine Epide­mie im Ausmaß wie in den USA spreche in Deutsch­land jedoch der restrik­ti­vere Zugang zu Schmerz­mit­teln, und einer damit verbun­de­nen gerin­ge­ren Sucht­ge­fahr. Aller­dings steigt derzeit die Zahl der Drogen­to­ten in Deutsch­land ebenfalls, auf 2.227 offizi­ell regis­trierte Fälle im vergan­ge­nen Jahr und somit dem sechs­ten Anstieg der Fallzah­len in Folge – wobei sich auch hier der Anteil der Opiaten und Opioiden in den vergan­ge­nen Jahren sukzes­sive erhöht hat.