Historie
Durch die gesetzliche Kodifizierung des § 63 Absatz 3c SGB V wurde es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland möglich, die der Ärzteschaft vorbehaltene Heilkunde auf entsprechend qualifizierte Pflegefachpersonen substituierend zu übertragen.
Substitution ist zu unterscheiden von Delegation. Bei delegierten Tätigkeiten steht die ausführende Pflegefachperson unter dem Anordnungskonvolut des Arztes. Bei einer substituierten Tätigkeit steht die Pflegefachperson eigenverantwortlich und gleichberechtigt neben dem Arzt.
In § 63 Absatz 3c Satz 1 SGB V heißt es:
„Modellvorhaben nach Absatz 1 können eine Übertragung der ärztlichen Tätigkeiten, bei denen es sich um selbstständige Ausübung von Heilkunde handelt und für die die Angehörigen des im Pflegeberufegesetzes geregelten Berufs auf Grundlage einer Ausbildung nach § 14 des Pflegeberufegesetzes qualifiziert sind, auf diese vorsehen.“
Die etwas geschraubte Formulierung des § 63 Absatz 3c Satz 1 SGB V bedeutet, dass zur substituierenden Ausführung der Heilkunde durch Pflegefachpersonen neben dem erfolgreichen Bestehen der dreijährigen Kranken‑, Altenpflegeausbildung oder einer Ausbildung nach dem Pflegeberufsgesetz eine weiterführende Qualifikation erforderlich ist.
Ausbildungscurrikulum zur Substitution heilkundlicher Tätigkeiten
Es hat knapp 14 Jahre gedauert, bis die von der Bundesregierung im Jahre 2020 einberufene Fachkommission unter Vorsitz von Prof. Gertrud Hundenborn ein Currikulum vorlegte, nach welchem die weiterqualifizierende Ausbildung zur Übernahme Heilkundlicher Tätigkeiten zu erfolgen hat.
Das Curriculum basiert auf der im Jahre 2012 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA) erlassenen Heilkundeübertragungsrichtlinie, welche 5 Indikationen und eine Vielzahl von Prozeduren als vom Arzt auf die Pflege übertragbar ansah.
Nach dem vorgelegten Ergebnis der Fachkommission gliedert sich die Ausbildung in ein Grundmodul und 8 weiter wählbare Fachmodule. Die Fachmodule umfassen folgende Themenkomplexe:
- Diabetes mellitus
- Chronische Wunden
- Demenz
- Hypertonie
- Schmerz
- Ausscheidung
- Tracheostoma
- Atmung
Da bis zum heutigen Tag noch kein Modellprojekt im Sinne des § 63 Absatz 3c SGB V in der Praxis etabliert wurde, hat der Gesetzgeber durch das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) im Jahre 2021 den § 64d SGB V eingeführt, welcher vorgibt, dass beginnend ab 1. Januar 2023 in den nächsten 4 Jahren in allen Bundesländern mindestens ein Modellprojekt realisiert werden muss.
Rahmenvertrag zur Durchführung der Modellprojekte
In dem zum 1. Juli 2022 vorgelegten Rahmenvertrag haben die Spitzenorganisationen nach § 132a Absatz 1 Satz 1 SGB V und die kassenärztliche Bundesvereinigung die Einzelheiten zur Durchführung der Modellprojekte gemäß § 64d SGB V festgelegt.
Gemäß der Rahmenvereinbarung ist in einem ersten Schritt die Übertragung entsprechender Aufgaben zur Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus, chronischen Wunden und Demenz möglich. Damit können beispielsweise im Bereich der Demenz eigenständig Folgeverordnungen von Ergotherapie für eine psychisch-funktionelle Behandlung zur weiteren Stabilisierung und Verbesserung im Bereich Orientierung, Tagesstrukturierung und Durchführung täglicher Routinen von der Pflegefachperson veranlasst werden.
Im Bereich Diabetes mellitus und der Versorgung chronischer Wunden können beispielsweise weisungsunabhängig Blutabnahmen, Wundabstriche, Bewertungen der Laborwerte sowie die Verordnung und Empfehlung von notwendigen Maßnahmen von den qualifizierten Pflegefachpersonen veranlasst werden.
Zu beachten ist hierbei, dass die Erstverordnung erforderlicher Maßnahmen der Krankenbehandlung (beispielsweise für Verband‑, Heil- und Hilfsmittel, häuslicher Krankenpflege) durch den Arzt zu erfolgen hat. Die Folgeverordnung kann allerdings dann durch die Pflegefachperson nach § 2 Absatz 2 Rahmenempfehlung vorgenommen werden. Eine Einbindung des Arztes muss jedoch immer dann erfolgen, wenn sich der gesundheitliche Zustand des Patienten derart verändert, dass eine erneute Diagnose- und Indikationsstellung des Arztes erforderlich ist.
Fazit
Es bleibt abzuwarten, ob durch die Übertragung der ärztlichen Tätigkeiten die Pflegefachpersonen in ihrer Versorgungskompetenz gestärkt und Ärzte entlastet werden. Ein Aspekt im Rahmen der Modellprojekte ist jedoch bereits jetzt positiv hervorzuheben, dass die seit mittlerweile über ein Jahrzehnt diskutierte Verordnungskompetenz der Pflege für Verbandmittel, nun wohl endlich in die Praxis überführt werden wird.
Die in § 10 der Rahmenvereinbarung festgeschriebene wissenschaftliche Evaluation der Modellprojekte durch unabhängige Sachverständige wird zeigen, ob hierdurch eine verbesserte Behandlungskontinuität erreicht und die medizinische und pflegerische Versorgung chronisch kranker Patienten verbessert wird.