Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat vorgeschlagen, die Eigenbeteiligung an den unmittelbaren Pflegekosten für Pflegeheimbewohner auf 700 Euro monatlich und maximal 36 Monate zu deckeln. Damit sei die Belastung für jeden kalkulierbar, erklärte Spahn Anfang des Monats. Was sich erstmal gut anhört, relativiert sich allerdings bei genauerer Betrachtung. Tatsächlich lag der Eigenanteil an den Pflegekosten Anfang 2020 im Durchschnitt bei 731 Euro pro Monat. Aber die tatsächliche Belastung bei stationärer Pflege ist deutlich höher: Hinzu kommen schließlich auch noch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, teilweise auch noch ein in Rechnung gestellter Investitionskostenanteil, soweit ein Bundesland dies nicht übernimmt. Bundesweit sind somit für einen Pflegeheimaufenthalt durchschnittlich rund 1.940 Euro monatlich aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Tendenz weiter steigend. Trotz Deckelung der Pflegekosten würden also trotzdem nicht unbeträchtliche Kosten auf den Einzelnen zukommen.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz reagierte dementsprechend zurückhaltend auf die Pläne des Ministers, der sich aktuell in einem parteiinternen Wahlkampf um den (stellvertretenden) CDU-Vorsitz befindet. „Bei genauem Hinsehen, fallen seine Vorschläge eher dürftig aus“, erklärte Stiftungsvorstand Eugen Brysch gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Es gebe kaum Pflegebedürftige die drei Jahre Heimaufenthalt überleben und ein Drittel sei bereits nach drei Monaten tot. Zudem würde der Höchstbetrag von 700 Euro in der Hälfte der Bundesländer gar nicht überschritten. Brysch forderte, die Pflegeversicherung müsse „alle Kosten für die reine Pflege“ tragen.
Steuerfinanzierung statt Eigenbeteiligung
Auch in der Politik stießen Spahns Vorschläge nicht nur auf Begeisterung. Beim Koalitionspartner SPD mahnte man an, die Einkommenshöhe stärker zu berücksichtigen, damit wirklich die profitierten, die es nötig hätten. Die Grünen sehen durch Spahns Pläne die Gefahr für Betroffene, in die Sozialhilfe abzurutschen, noch nicht gebannt. Sie fordern nicht nur einen Bundeszuschuss sondern auch die Verlagerung der stationären medizinischen Behandlungspflege in die Krankenversicherung. Und die Linkspartei sprach von einem „Reförmchen“, auch wenn es gut sei, dass sich überhaupt etwas tue.
Ein anderer Zungenschlag kam von der FDP, die vor der Einführung eines Pflege-Soli als Konsequenz aus der geplanten Deckelung warnt. Den Bundesgesundheitsminister ficht diese Kritik nicht an. Er halte es für richtig, die wachsenden Kosten aus Steuergeldern zu finanzieren. Dies sei eine Investition in die Mitmenschlichkeit.
Studie: Eigenbeteiligung im Fokus
Tatsächlich variiert die individuelle Pflegedauer deutlich. Eine kürzliche Längsschnittstudie (Rothgang/Müller) auf Basis von Versichertendaten der Barmer Ersatzkasse ergab, dass nach einem Jahr noch zirka 56 Prozent im Heim untergebracht waren, nach zwei Jahren noch gut 41 Prozent und nach vier Jahren noch fast ein Viertel.
Nach einer Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) ergeben sich hochgerechnet für zwei Jahre stationäre Pflege Kosten in Höhe von 40.584 Euro pro Person, für fünf Jahre entsprechend 101.460 Euro. Da nur die Allerwenigsten privat zusatzversichert seien, könne dies eine große finanzielle Herausforderung darstellen.
Im Jahr 2017 wären rund 41 Prozent der Haushalte nicht in der Lage gewesen, ein Jahr stationäre Pflege eines pflegebedürftig werdenden Angehörigen aus ihrem Vermögen zu tragen. Die Finanzierung von fünf Jahren Pflegeheim mit dem Haushaltsvermögen wäre bei rund 59 Prozent aller Haushalte nicht möglich gewesen. So eine der zentralen Aussagen der Mitte September veröffentlichten Studie des IW.
Mit steigendem Alter wächst allerdings auch die Fähigkeit zur Eigenvorsorge. Bei Haushalten von 40- bis 65-Jährigen sinkt der Anteil derjenigen, deren Vermögen nicht ausreicht auf 35 Prozent (1 Jahr) beziehungsweise 54 Prozent (5 Jahre), bei über 65-Jährigen auf 34 Prozent und 51 Prozent. Zieht man bei letzteren auch das Einkommen hinzu wären 72 Prozent in der Lage die Kosten für ein Jahr stationärer Unterbringung aus eigener Kraft zu stemmen, immerhin 67 Prozent könnten dies sogar für einen Zeitraum von fünf Jahren leisten.
Pflegezusatzversicherungen würden Eigenbeteiligung verringern
Trotz dieser erheblichen Risiken hätten im Jahr 2018 aber nur 4,7 Prozent der gesetzlich Versicherten auf eine Pflegezusatzversicherung zurückgreifen können, so das IW. Knapp 900.000 davon öffentlich gefördert und 2,5 Millionen privatversichert. Womit Deutschland gar nicht so schlecht da steht: Im OECD-Durchschnitt wurden 2011 sogar nur 2 Prozent der Pflegekosten privat abgesichert. In der englischsprachigen Literatur wird in diesem Zusammenhang vom „Pflegeversicherungsrätsel“ gesprochen.
Entsprechend rätseln auch die Studienmacher über die Gründe für die mangelhafte Absicherung.
Als mögliche Erklärungsmuster führen sie an:
- viele unterschätzen das Pflegekostenrisiko systematisch
- einige rechnen womöglich damit, dass sich ihre Kinder im Pflegefall um sie kümmern
- die Menschen haben eine Präferenz für unspezifische Vorsorge (zum Beispiel Wohneigentum)
- viele verlassen sich auf die staatliche Absicherung durch „Hilfe zur Pflege“
- der Markt für Pflegezusatzversicherungsprodukte versagt (teilweise)
Zusatzpolice nicht für jeden sinnvoll
Tatsächlich sind Pflegezusatzversicherungen nicht unumstritten. Die Stiftung Warentest urteilte 2017: „Eine Pflegezusatzversicherung ist aber nur für den sinnvoll, der langfristig ein sicheres und ausreichend hohes Einkommen hat, so dass er die Beiträge und die absehbaren Beitragserhöhungen lebenslang aufbringen kann. Und das oft auch dann noch, wenn er bereits ein Pflegefall ist.“
Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach untersuchte Anfang des Jahres die Einstellungen der potenziellen Versicherungsnehmer. Diese gingen im Durchschnitt davon aus, 161 Euro im Monat zahlen zu müssen, um keine Eigenbeteiligung leisten zu müssen. Auf die Frage nach ihren tatsächlichen finanziellen Möglichkeiten, gaben diese an, 77 Euro pro Monat für die private Pflegevorsorge aufwenden zu können.
Seitdem sind die Beiträge für private Zusatzpolicen allerdings stark angestiegen, wie die Tageszeitung Die Welt berichtet. In mehreren Fällen hätten Versicherungen die Beitragssätze um 50 bis 70 Prozent erhöht, teils um bis zu 110 Prozent. Der Chef der Verbraucherzentrale NRW forderte gar die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) auf, einzugreifen. Es müsse geprüft werden, ob die aktuellen Beitragssprünge gerechtfertig seien oder die bisherigen Kalkulationen unrealistisch waren.
Diese Frage hatte der Stuttgarter Finanzanalytiker Volker Loomann bereits 2014 in der Frankfurt Allgemeinen Zeitung aufgeworfen. Damals bezeichnete er die Pflegezusatzversicherungen als „in höchstem Maße fragwürdig“. Die versprochene Rendite von knapp 6 Prozent sei überhaupt nicht realistisch. Deshalb müssten die Versicherer auf eine möglichst kurze Pflegezeit und einen frühen Exitus hoffen.
Trotz der nun geplanten Deckelung der Eigenbeteiligung sei eine private Zusatzpolice nicht überflüssig, so Constantin Papaspyratos vom Bund der Versicherten und Gerhard Reichl von der auf Versicherungen spezialisierten Ratingagentur Assekurata. Bei einer digitalen Veranstaltung auf Einladung der Privaten Krankenversicherungen (PKV) Mitte Oktober rieten beide jedoch eher zu einer Pflegetagegeldversicherung, da eine Pflegekostenversicherung zu abhängig sei von den weiteren Entwicklungen in der gesetzlichen Pflegeversicherung.
Aussagen zu Eigenbeteiligung unter Vorbehalt
Für seine Untersuchung wertete das Institut der Deutschen Wirtschaft die Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) von 2017 aus und verglich diese mit den damaligen Kosten für stationäre Altenpflege. An der seit 1984 durchgeführten repräsentativen Befragung von über 15.000 Privathaushalten, nehmen 30.000 Personen teil, die auch umfassend zu ihrer Einkommens‑, Vermögens- und Pflegesituation befragt werden.
Die Analyse könne aufgrund bestimmter Einschränkungen in der Datenverfügbarkeit allerdings „nur ein grobes Bild der Realität zeichnen“ räumen die Autoren der Studie ein. Sie verweisen auf weiteren Forschungsbedarf. In Ermangelung einer genaueren Vermögensaufschlüsselung sei man davon ausgegangen, dass die Haushalte ihr etwaiges Wohneigentum kapitalisieren könnten. Zudem habe man bei den Nicht-Rentner-Haushalten das Einkommen unberücksichtigt gelassen. Denn es sei kaum kalkulierbar, inwieweit dies in einer Pflegesituation aufrecht erhalten werden könne.
Da vor dem Heimeintritt in vielen Fällen schon ambulant gepflegt wird und dafür eventuell auch Mittel aufgewendet werden müssen, erhöht sich unter Umständen der Anteil der Haushalte, der die stationäre Pflege nicht aus eigener Hand finanzieren kann. Zudem geht die Untersuchung davon aus, dass in jedem Haushalt nur ein Mitglied stationär pflegebedürftig wird. Für den Fall, dass mehrere Mitglieder, wenn auch möglicherweise zeitversetzt, betroffen sind, müsse man davon ausgehen, dass die entsprechend höheren Pflegekosten von weitaus mehr Haushalten nicht getragen werden können.
Deshalb sprechen die Autoren Susanna Kochskämper, Silvia Neumeister, Maximilian Stockhausen auch von einem ersten Aufschlag. Ihre Analyse könne „nur grobe Orientierungswerte“ geben und einer ersten Einschätzung dienen. Sie sagen offen, dass hier zunächst „grobe Kriterien“ gewählt wurden, die „ein wenig holzschnittartig“ wirken.
Keine klaren Schlussfolgerungen
Als Blaupause für die Pläne des Gesundheitsministers will das IW seine Untersuchung nicht verstanden wissen: Die Zahlen ermöglichten „keine eindeutigen Rückschlüsse auf einen möglichen Reformbedarf hinsichtlich der Eigenanteile“. Einer politischen Einordnung verweigert man sich dennoch nicht: Die pauschale Annahme, dass für den Großteil der Menschen in Deutschland Pflege eine „Armutsfalle“ sei, würde so nicht zutreffen. Allerdings sei diese Gefahr für einige Menschen durchaus relevant und lasse sich deshalb nicht ignorieren. Teilweise würde dies auch zur Auflösung von schützenswerten Vermögenswerten wie selbst genutzten Wohnimmobilien führen.
Auch auf die Gerechtigkeitsfrage geht das IW in seinem Fazit ein: Dass eine Fixierung der Eigenanteile beziehungsweise eine Pflegevollversicherung eine Art „Erbenschutzprogramm“ wäre, sei „nicht ganz von der Hand zu weisen“…