Rechtsdepesche: Wie verbreitet ist sexueller Missbrauch im Gesundheitswesen? Hat sich die Anzahl der Übergriffe in den letzten zehn Jahren verändert?
Heike Schambortski: Das Gesundheitswesen gehört zu den von sexuellen Übergriffen besonders betroffenen Arbeitsbereichen. In einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes[1] aus dem Jahre 2019 zeigte sich, „[…] dass das Risiko, Opfer von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu werden, ebenfalls im Gesundheits- und Sozialwesen am höchsten ist […]“.
Die BGW hat 2020 eine eigene Studie[2] zu dieser Problematik initiiert, in der 901 Personen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich befragt wurden. Ein Ergebnis dieser Studie war, dass in den letzten 12 Monaten insgesamt 62,5 Prozent der Befragten Opfer eines sexualisierten Übergriffs wurden.
Verbale sexualisierte Belästigung erlebten 67,1 Prozent. 48,9 Prozent mussten die Erfahrung eines körperlichen Übergriffs machen. Zudem zeigte die Studie statistisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von sexueller Belästigung und Gewalt und dem psychischen Befinden der Befragten: Beschäftigte, die angaben, häufiger sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt zu haben, berichteten vermehrt über Depressivität, emotionale Erschöpfung und psychosomatische Beschwerden.
Eine Zunahme der Übergriffe in den letzten zehn Jahren lässt sich nicht valide belegen, da keine vergleichbaren Daten über diesen Zeitraum erhoben wurden. Durch die zunehmende Thematisierung dieser Gefährdung kommt es aber zu einer höheren Sensibilität dafür, dass diese Übergriffe nicht als allgemeines Berufsrisiko hinzunehmen sind.
Sie werden weniger häufig tabuisiert und damit totgeschwiegen, so dass der Eindruck entstehen kann, dass es eine Zunahme von sexualisierten Übergriffen gibt. Das Problem ist allerdings nicht neu und vielen Generationen – insbesondere von Frauen in diesem Berufsfeld – bekannt, auch wenn früher nicht offen darüber gesprochen wurde.
Präventionskonzepte für den Umgang mit sexueller Belästigung sollten immer beide Seiten berücksichtigen
Rechtsdepesche: In der Pflege spielen mehrere Formen von Übergriffen eine Rolle: Pflegende sind sexueller Gewalt durch betreute Personen ausgesetzt, es kommt aber auch zu Übergriffen an Heimbewohner:innen durch Pflegepersonal. Welche Form kommt ihrer Erfahrung nach am häufigsten vor?
Schambortski: Laut WHO hat jeder sechste ältere Mensch über 60 Jahre körperliche oder psychische Gewalt erfahren. Diese Zahlen geben jedoch keine Hinweise darauf, wie häufig das in deutschen Pflegeeinrichtungen passiert und wie hoch der Anteil sexualisierter Gewalt ist. Auch wenn Befragungen (zum Beispiel vom Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP)) ergeben, dass Gewalt gegen Pflegebedürftige von Einrichtungsleitungen als große Herausforderung angesehen wird, haben wir in Deutschland keine validen Daten dazu.
Da die Dunkelziffer – ebenso wie bei der sexualisierten Gewalt gegen Beschäftigte – hoch ist, kann ich also nicht belastbar sagen, welche Form häufiger vorkommt. Vor dem Hintergrund unserer Studienergebnisse, nach denen mehr als die Hälfte der Beschäftigten von Situationen mit sexueller Belästigung berichtet, gehe ich jedoch davon aus, dass Beschäftigte eher sexueller Belästigung durch betreute Personen ausgesetzt sind als umgekehrt.
Präventionskonzepte im Gesundheitswesen für den Umgang mit Gewalt und sexueller Belästigung sollten immer beide Seiten berücksichtigen. Der geschulte Blick auf unangemessenes Verhalten und die Nulltoleranz-Kultur hilft sowohl gegen Übergriffe von betreuten Personen als auch solche auf betreute Personen. Als BGW haben wir uns deshalb an der AOK-Aktion „Gewaltfrei Pflegen“ beteiligt.
Die wichtigste Maßnahme gegen sexuelle Belästigung: Gefährdung offen ansprechen
Rechtsdepesche: Als leitende Präventionsdirektorin bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege setzen Sie sich seit langem dafür ein, Betriebe sicherer zu machen. Welche Maßnahmen werden bereits umgesetzt? Was sollte zusätzlich passieren?
Schambortski: In den letzten Jahren ist eine größere Offenheit entstanden, sich mit dieser Thematik im Betrieb auseinander zu setzen. Durch unsere Kommunikationsoffensive haben wir schon einiges erreicht.
Wir wissen, dass es im Gesundheitswesen eine hohe Betroffenheit gibt. Daher sollte das Thema auf jeden Fall in der Gefährdungsbeurteilung aufgegriffen werden, da sexualisierte Gewalt und Belästigung sowohl psychische als auch physische Beeinträchtigungen verursachen kann. Da gibt es in den Betrieben noch Luft nach oben.
Die wichtigste Maßnahme im Betrieb ist es, diese Gefährdung offen anzusprechen und deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine zu tolerierende unangenehme Begleiterscheinung des Berufs handelt.
Wichtig ist eine Kultur, in der es nicht das Verschulden der Opfer ist, wenn sie sexualisierte Übergriffe erleben. Nur wenn das Thema aus der Tabuzone geholt wird, kann es bearbeitet werden, zum Beispiel indem Beschäftigte im Umgang mit sexualisierter Gewalt geschult und über ihre Rechte, Handlungsmöglichkeiten und Ansprechpersonen aufgeklärt werden.
Der Umgang mit sexualisierter Gewalt sollte in den Unterweisungen für die Beschäftigten angesprochen werden, idealerweise auch in Teambesprechungen. Häufig ist es ja nicht nur eine Person, die vom gleichen Patienten oder Bewohner belästigt wird.
Wenn niemand darüber spricht, denkt jede oder jeder, es betrifft nur mich und möglicherweise mache ich etwas falsch. Gemeinsam können jedoch Lösungsstrategien für den Umgang damit gefunden werden. Außerdem sind alle im Team gewarnt und können sich im Umgang mit der Person darauf einstellen. Daher sollten solche Vorfälle auch dokumentiert werden. Geeignete Lösungen sind abhängig vom Arbeitsbereich und von der Erkrankung oder Beeinträchtigung der übergriffigen Person, für die möglicherweise eine Behandlungs- oder Betreuungsverpflichtung besteht.
Die Basis für den Schutz der Beschäftigten bildet eine Präventionskultur, die durch eine eindeutige Positionierung der Unternehmensleitung geprägt wird, dass sie Gewalt und sexuelle Belästigung nicht toleriert. Darüber hinaus gilt es, das TOP-Prinzip der Prävention anzuwenden: Priorität haben Technische Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten, dazu gehören Alarmierungs- oder Schließsysteme, Flucht- und Rückzugsmöglichkeiten.
Organisatorische Maßnahmen sind zum Beispiel Personaleinsatzpläne, die sicherstellen, dass bestimmte Patienten oder Bewohner nicht von einer Person allein versorgt werden müssen. Personenbezogene Maßnahmen sind die schon erwähnten Unterweisungen und Schulungen.
Unsere Studie zur sexualisierten Gewalt und Belästigung hat auch ergeben, dass 32,5 Prozent der Befragten keine Schutzmaßnahmen ihres Arbeitgebers kannten. Insofern besteht noch Handlungsbedarf. Die Bundesregierung hat im Mai 2023 das Gesetz zum Übereinkommen Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 21. Juni 2019 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt verabschiedet.
Ich erhoffe mir dadurch eine stärkere Verpflichtung, Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt in den Unternehmen umzusetzen.
„Sexuelle Übergriffe können traumatisieren“
Rechtsdepesche: Wohin können sich Betroffene wenden? Welche Unterstützung gibt es für Leitungen, die ihre Beschäftigten für sexuelle Gewalt sensibilisieren wollen?
Schambortski: Der erste Schritt für Betroffene sollte sein, sich an den oder die Vorgesetzte zu wenden. Diese sollten im Umgang mit sexualisierter Gewalt geschult sein. Die BGW bietet beispielsweise Seminare, Veranstaltungen oder Podcasts für Führungskräfte dazu an.
Es gibt darüber hinaus die Möglichkeit sich, falls vorhanden, an betriebliche Interessenvertretungen oder Gleichstellungsbeauftragte im Unternehmen zu wenden. Auch Betriebsärztinnen und ‑ärzte könnten kontaktiert werden. Darüber hinaus sind Betriebe nach § 13 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verpflichtet, Beschwerdestellen für Beschäftigte einzurichten und bekannt zu machen. Das gilt unabhängig von der Unternehmensgröße. Auch diese können eine Anlaufstelle sein.
Manche Betriebe qualifizieren sogenannte kollegiale Ersthelfende für die psychosoziale Erstversorgung für Kolleginnen und Kollegen. Diese können die erste Ansprechperson nach Extremereignissen sein. Auch für diese Qualifizierung gibt es eine finanzielle Förderung durch die BGW. Darüber hinaus sind Frauenberatungsstellen mit ihrem bundesweiten Netz geschulter Beraterinnen sehr gute Anlaufpunkte für Betroffene.
Sexualisierte Übergriffe können traumatisieren. Hier bietet zum Beispiel das telefonische psychologische Beratungsangebot der BGW kostenlose Unterstützung. Falls es sich bei dem Übergriff um einen Arbeitsunfall handelt – das gilt auch für Ereignisse auf dem Arbeitsweg – übernimmt die zuständige Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse die Behandlungs- und Rehabilitationskosten einschließlich psychotherapeutischer Maßnahmen.
Verantwortung für Betroffene übernehmen
Rechtsdepesche: Was kann ich tun, wenn ich einen Übergriff beobachte?
Schambortski: Es ist gut, Verantwortung für Kolleginnen oder Kollegen zu übernehmen, die sich offensichtlich in einer schwierigen Situation befinden. Es ist hilfreich, das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein sind. Außerdem fördert es eine Kultur des Hinschauens und des offenen Umgangs mit sexualisierter Gewalt.
Zunächst einmal gilt es aber, ruhig zu bleiben und die Situation zu beurteilen. Ich sollte mich nicht selbst in Gefahr bringen. In kritischen Situationen ist es manchmal sinnvoller, Hilfe zu organisieren, statt direkt selbst einzugreifen. Wenn es möglich ist, kann die betroffene Person auch gebeten werden, kurz aus dem Zimmer oder Behandlungsraum zu kommen. Dann ist es möglich, gemeinsam ein Vorgehen für den Umgang mit der Situation zu besprechen.
Natürlich kann ich die Person direkt ansprechen, von der die Belästigung ausgeht. Dazu eignet sich die Drei-Satz-Methode, die ich auch den Betroffenen selbst empfehle. Zum Beispiel: „Sie haben gerade über die Figur meiner Kollegin gelästert. – Das stört mich. – Unterlassen Sie in Zukunft solche Bemerkungen.“
Das Prinzip dabei ist, sich auf keine Diskussion darüber einzulassen, wie das Ganze gemeint ist, sondern klar darauf zu bestehen, dass die Belästigung zu unterbleiben hat. Diskussionen können durch Wiederholung der drei Sätze eingedämmt werden. In einer kritischen Situation ist es schwierig schlagfertig zu sein. Ich höre oft, „hinterher sind mir tolle Reaktionsmöglichkeiten eingefallen – aber in der Situation war ich sprachlos“.
Das einfache Benennen des beobachteten Verhaltens und die Forderung damit aufzuhören, ist eine leicht erlernbare Methode.
Wichtig ist, hinterher mit der betroffenen Person zu sprechen und zu fragen, wie es ihr nach dem Vorfall geht und wie sie weiter damit umgehen will. Es kann sein, dass sie den Vorfall herunterspielt. Dann ist es wichtig, dass ich bei meiner Wahrnehmung und meinen Gefühlen bleibe: „Was mit dir passiert ist, hat mich gestört. Mich belastet das und ich wünsche nicht, dass Patienten sich in unserem Arbeitsumfeld so verhalten.“
Nur wenn alle gemeinsam für ein Klima von Null-Toleranz gegenüber sexualisierter Gewalt und Belästigung handeln, entsteht ein Umfeld, in dem sich alle sicher fühlen können.
Zur Person: Dr. Heike Schambortski ist leitende Präventionsdirektorin bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeitspsychologin, ausgebildete Krankenpflegerin und langjährige Expertin zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz im Arbeitsschutz. Dr. Schambortski arbeitete zudem an einer der ersten wissenschaftlichen Erhebungen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in Deutschland Anfang der 90er Jahre mit.
Quellen:
- Studie auf Basis einer repräsentativen Telefonbefragung mit 1531 Frauen und Männern
- Adler, M., Vincent-Höper, S., Vaupel, C., Gregersen, S., Schablon, A., Nienhaus, A. (2021). Sexual Harassment by Patients, Clients, and Residents: Investigating Its Prevalence, Frequency and Associations with Impaired Well-Being among Social and Healthcare Workers in Germany. International Journal of Environmental Research and Public Health 2021