Sexualität in der Pflege ist längst kein Tabuthema mehr. Die Debatten der letzten Jahre rund um die alternde Gesellschaft, Diskriminierung oder Geschlechteridentität, politisch-rechtliche Folgen sowie gezieltere Forschung und Wissenschaft haben den Informationsgrad stetig erhöht.
Die Anerkennung des sexuellen Grundbedürfnisses aus menschenrechtlicher, gesundheitlicher und sozialer Sicht wurde gestärkt und es besteht Konsens, dass dies auch für ältere Menschen und Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen und Erkrankungen gilt.
Wer mit Sexualität in der Pflege berührt ist – sei es fachlich oder persönlich durch Angehörige – findet somit entsprechende Informationen und Expertise. Die breite Öffentlichkeit erfährt dagegen eher über Schlagzeilen davon, zum Beispiel wenn es um sexuellen Missbrauch durch Pflegekräfte geht.
Pflegekraft als Täter
„Anfangs wurde bei uns viel darüber gesprochen, was Pflegekräfte machen, das übergriffig sein kann“, erinnert sich Jana* aus dem Rheinland an die Anfangszeit ihres Berufs. Die examinierte Alten- und Krankenpflegerin leitet seit einigen Jahren einen mobilen Pflegedienst und hat in rund 15 Berufsjahren viele Situationen erlebt, in denen sie mit der Sexualität von Bewohnern oder Patienten auf die ein oder andere Weise konfrontiert war.
Das Narrativ der übergriffigen Pflegekraft herrschte nach ihrer Wahrnehmung lange Zeit auch in der Branche selbst vor, etwa in Schulungen, die vor allem aus dieser Perspektive für das Thema sensibilisierten.
Im Gedächtnis geblieben ist Jana in diesem Zusammenhang eine Begebenheit aus ihrem ersten Ausbildungsjahr, bei der ein Urologe sie explizit wegen ihres Geschlechts ausgewählt hatte, um den Katheter-Wechsel bei einer Patientin durchzuführen.
Der Arzt hatte demnach Sorge, dass ein Angehöriger der Patientin das Zimmer betreten, die Situation falsch auffassen und ihn des sexuellen Missbrauchs bezichtigen könnte. Dass die Sorge des Mannes nicht unberechtigt war, kann Jana inzwischen bestätigen.
Auch sie kennt Angehörige vom Typ eifersüchtiger Ehemann, die zum Beispiel bei der Körperpflege und Intimwäsche ihrer Liebsten auf eine weibliche Pflegekraft bestehen.
Pflegekraft als Opfer
„Natürlich muss der Patient geschützt werden vor Übergriffen“, bekräftigt Jana, „aber die Pflegekräfte auch.“ Das potenzielle Täter-Opfer-Verhältnis kann sich nämlich auch umgekehrt gestalten: „Es hat etwas länger gedauert zu erkennen, dass eine Übergriffigkeit auch von Patienten ausgehen kann.“
In Janas Organisation hat das Umdenken in diese Richtung vor circa fünf Jahren mit dem Einsatz einer Präventionsbeauftragten begonnen, die verpflichtende Auffrischungsschulungen zu sexualisierter Gewalt durchführt und auch zu Dienstbesprechungen eingeladen werden kann.
Doch wie zeigt sich die Übergriffigkeit im Berufsalltag? „Natürlich kommt es auch immer mal vor, dass jemand seine Grenzen nicht kennt und sexuelle Andeutungen dem Pflegepersonal gegenüber äußert“, erklärt Jana. Auch Anfassen gäbe es ab und zu und das sei nichts, was grundsätzlich nur von Männern ausgehe.
Männer vom „alten Schlag“ werden seltener
„Männer vom alten Schlag“, die zum Beispiel freudig und unverhohlen erregt die junge, naive Berufsanfängerin auffordern „den Moritz zu waschen“ oder darauf hinweisen, dass sie für den Dienst schließlich bezahlen, treten in Janas Umgebung heute spürbar seltener auf.
Das antiquierte Rollenbild der unterwürfigen Frau, welches der Mitdreißigerin zufolge auffallend oft von hochbetagteren Männern gepflegt wird, die früher eine Führungsposition oder einen gewissen Status innehatten, sei bei jüngeren Jahrgängen nicht mehr so ausprägt: „Die wissen, dass Frauen sich heute nicht mehr alles gefallen lassen.“
Sexuelles Verhalten – Zufall oder Absicht?
Aber nicht jede sexuelle Regung ist auch gleich ein sexueller Übergriff. In einer Arbeitsumgebung wie der Pflege, wo sich Menschen so nahekommen, wie kaum in einem anderen Bereich, lassen sich entsprechende Situationen auf Dauer gar nicht vermeiden. Den Patienten sei es laut Jana zu 99 Prozent eher peinlich, wenn es zum Beispiel beim Waschen zu einer Erektion kommt.
Und dann sind da noch die schwer einschätzbaren Fälle. Der Demenzkranke etwa, bei dem nicht klar ist, ob der „Tatscher“ nun Absicht oder Zufall war. Oder die Patientin, die beim Katheter-Wechsel den Namen ihres verstorbenen Mannes stöhnt.
Sexualität als Teil des Berufs
Darüber hinaus gibt es noch viele andere Momente, in denen Pflegekräfte mit der Sexualität ihrer Patienten in Kontakt kommen. „Dass man ein Paar überrascht“, gehört für Jana in der ambulanten Pflege zum Berufsalltag. Genauso wie zusammengeschobene Betten in Altenheimen, um Paaren die körperliche Nähe zu ermöglichen.
Auch hat sie erlebt, „dass Sexarbeiter für pflegebedürftige Patienten gebucht wurden“. Je nach Erkrankung sei es dabei nötig, im Vorfeld Gespräche zu führen. „In einem konkreten Fall ging es um eine vollbeatmete Dame, die von einem jungen Mann mit Sexspielzeug beglückt wurde.“ Da es dadurch zu Problemen mit der Beatmung kommen könne, müsse man als Pflegekraft abklären, wie genau das abläuft. Im Alarmfall muss sie dann auch das Zimmer betreten.
Jede Pflegekraft hat andere Grenzen
Auch wenn Berührungspunkte mit der Sexualität von Patienten und Bewohnern an vielen Stellen sozusagen zum Berufsrisiko von Pflegekräften gehören, kann nicht jede und jeder Beschäftigte gleich gut damit umgehen. „Schwierig ist es vor allem, wenn die Pflegekraft selbst mit ihrer Sexualität nicht im Reinen ist oder durch Vorfälle eventuell an unschöne Momente in der Vergangenheit erinnert wird“, sagt Jana. „Dann ist sprechen wichtig.“
Jana hat im Lauf der Jahre gelernt, klare Grenzen zu setzen. Als Leiterin eines Pflegedienstes weiß sie durch die Gespräche mit ihren Mitarbeitern aber auch, wie unterschiedlich diese Grenzen ausfallen können. So wurde ihr selbst zum Beispiel einmal von einem Patienten aus dem arabischen Kulturkreis der Wert von elf Kamelen zugeschrieben. Während Jana über die sexistische Bemerkung lachen konnte, hätte eine andere Pflegekraft sich von diesem Vergleich möglicherweise zutiefst gekränkt gefühlt.
Individuelle Lösungen statt Masterplan
Jana befürwortet den Einsatz von Präventionsbeauftragten, findet es aber gut, dass es in ihrem Bereich keinen Masterplan für den Umgang mit dem Sexualverhalten von Patienten gibt. „Jeder Fall wird individuell betrachtet, da man auch auf die Krankheitsbilder der Patienten Rücksicht nehmen muss.“
Auf Seite der Mitarbeiter kann man ihrer Ansicht nach nur Tipps geben, da jeder eine andere Grenze hat. „Wichtig ist, dass man ein Team ist und es ok ist, dass man darüber sprechen kann – auch wenn ein anderer Mitarbeiter sagt, ich empfinde das aber anders.“ Bisher hätten Gespräche mit Mitarbeitern immer zu Lösungen geführt.
Wenn die Grenzen von Mitarbeitern regelmäßig überschritten werden, sind natürlich auch Gespräche mit Patienten und Angehörigen nötig. „Wenn das nicht hilft, kann eine Folge sein, dass die Pflege von Seiten des Heims oder der Pflegestation gekündigt wird.“
Was in Bezug auf bestimmte Krankheitsbilder drastisch klingt, begründet Jana aus Sicht eines Pflegedienstes aber nachvollziehbar: „Es ist leichter einen neuen Patienten zu finden als neue Mitarbeiter.“ Zudem spiele auch die höhere Tendenz zu Krankmeldungen bei den Mitarbeitenden eine Rolle: Wer sich bei der Arbeit nicht wohlfühlt, meldet sich nachweislich schneller krank.
Die Kündigung des Pflegeplatzes ist natürlich nur das allerletzte Mittel. Jana hat die Erfahrung gemacht, dass eine personelle Änderung in sexuell begründeten Konflikten schon viel bewirken kann: „Oft reicht es, wenn man bestimmte Personen nicht mehr zur Versorgung hinschickt.“
FAQ
Wie kommen Pflegekräfte mit der Sexualität von Patienten oder Bewohnern in Kontakt?
Es gibt viele verschiedene Momente, in denen Pflegekräfte mit der Sexualität von Patienten oder Bewohnern in Kontakt kommen: Das pflegebedürftige Paar, das in flagranti von der Pflegekraft erwischt wird oder sexuell anzügliches Verhalten und Betatschen. Sollten Bewohner Sexarbeiter beanspruchen wollen, muss mit diesen ihr Einsatz vorher in Bezug auf gewisse Krankheistbilder abgestimmt werden. Auch unfreiwillige Erektionen bei der Körperpflege kommen im Arbeitsalltag von Pflegekräften vor.
Welcher Umgang hat sich für Pflegekräfte in belastenden Situationen bewährt?
Für den Umgang mit belastenden Situationen haben sich eine offene Diskussionen im Team, individuelle Fallbesprechungen sowie Gespräche mit Angehörigen und Patienen als hilfreich erwiesen. Außerdem können Mitarbeiter durch Präventions-Kurse und Schulungen zu sexualisierter Gewalt weitergebildet werden. Sollten diese Mittel nicht helfen, kann auch der Wechsel der Betreuung oder – als letztes Mittel bei belastendem Verhalten – die Kündigung des Pflegeplatzes in Erwägung gezogen werden.
Fazit
Pflegekräfte kommen auf vielfältige Weise mit der Sexualität von Patienten oder Bewohnern in Kontakt. Dabei können auch belastende Situationen entstehen, zum Beispiel wenn eine Pflegekraft sich sexuell belästigt fühlt. Da die Grenzen von Pflegekräften so individuell sind, wie das Sexualverhalten ihrer Patienten, sind auch spezielle Lösungen für den jeweiligen Fall nötig. Eine offene und vertrauensvolle Kommunikation im Team, Schulungen und Gespräche bilden hierbei die wichtigste Basis.
*Name geändert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.