Sexualität
Sexua­li­tät in der Pflege erfor­dert Hilfe und Schutz. Bild: Desiree Gorges

Sexua­li­tät in der Pflege ist längst kein Tabuthema mehr. Die Debat­ten der letzten Jahre rund um die alternde Gesell­schaft, Diskri­mi­nie­rung oder Geschlech­ter­iden­ti­tät, politisch-recht­li­che Folgen sowie geziel­tere Forschung und Wissen­schaft haben den Infor­ma­ti­ons­grad stetig erhöht.

Die Anerken­nung des sexuel­len Grund­be­dürf­nis­ses aus menschen­recht­li­cher, gesund­heit­li­cher und sozia­ler Sicht wurde gestärkt und es besteht Konsens, dass dies auch für ältere Menschen und Menschen mit körper­li­chen oder geisti­gen Einschrän­kun­gen und Erkran­kun­gen gilt.

Wer mit Sexua­li­tät in der Pflege berührt ist – sei es fachlich oder persön­lich durch Angehö­rige – findet somit entspre­chende Infor­ma­tio­nen und Exper­tise. Die breite Öffent­lich­keit erfährt dagegen eher über Schlag­zei­len davon, zum Beispiel wenn es um sexuel­len Missbrauch durch Pflege­kräfte geht.

Pflege­kraft als Täter

„Anfangs wurde bei uns viel darüber gespro­chen, was Pflege­kräfte machen, das übergrif­fig sein kann“, erinnert sich Jana* aus dem Rhein­land an die Anfangs­zeit ihres Berufs. Die exami­nierte Alten- und Kranken­pfle­ge­rin leitet seit einigen Jahren einen mobilen Pflege­dienst und hat in rund 15 Berufs­jah­ren viele Situa­tio­nen erlebt, in denen sie mit der Sexua­li­tät von Bewoh­nern oder Patien­ten auf die ein oder andere Weise konfron­tiert war.

Das Narra­tiv der übergrif­fi­gen Pflege­kraft herrschte nach ihrer Wahrneh­mung lange Zeit auch in der Branche selbst vor, etwa in Schulun­gen, die vor allem aus dieser Perspek­tive für das Thema sensi­bi­li­sier­ten.

Im Gedächt­nis geblie­ben ist Jana in diesem Zusam­men­hang eine Begeben­heit aus ihrem ersten Ausbil­dungs­jahr, bei der ein Urologe sie expli­zit wegen ihres Geschlechts ausge­wählt hatte, um den Kathe­ter-Wechsel bei einer Patien­tin durch­zu­füh­ren.

Der Arzt hatte demnach Sorge, dass ein Angehö­ri­ger der Patien­tin das Zimmer betre­ten, die Situa­tion falsch auffas­sen und ihn des sexuel­len Missbrauchs bezich­ti­gen könnte. Dass die Sorge des Mannes nicht unberech­tigt war, kann Jana inzwi­schen bestä­ti­gen.

Auch sie kennt Angehö­rige vom Typ eifer­süch­ti­ger Ehemann, die zum Beispiel bei der Körper­pflege und Intim­wä­sche ihrer Liebs­ten auf eine weibli­che Pflege­kraft bestehen.

Pflege­kraft als Opfer

„Natür­lich muss der Patient geschützt werden vor Übergrif­fen“, bekräf­tigt Jana, „aber die Pflege­kräfte auch.“ Das poten­zi­elle Täter-Opfer-Verhält­nis kann sich nämlich auch umgekehrt gestal­ten: „Es hat etwas länger gedau­ert zu erken­nen, dass eine Übergrif­fig­keit auch von Patien­ten ausge­hen kann.“

In Janas Organi­sa­tion hat das Umden­ken in diese Richtung vor circa fünf Jahren mit dem Einsatz einer Präven­ti­ons­be­auf­trag­ten begon­nen, die verpflich­tende Auffri­schungs­schu­lun­gen zu sexua­li­sier­ter Gewalt durch­führt und auch zu Dienst­be­spre­chun­gen einge­la­den werden kann.

Doch wie zeigt sich die Übergrif­fig­keit im Berufs­all­tag? „Natür­lich kommt es auch immer mal vor, dass jemand seine Grenzen nicht kennt und sexuelle Andeu­tun­gen dem Pflege­per­so­nal gegen­über äußert“, erklärt Jana. Auch Anfas­sen gäbe es ab und zu und das sei nichts, was grund­sätz­lich nur von Männern ausgehe.

Männer vom „alten Schlag“ werden selte­ner

„Männer vom alten Schlag“, die zum Beispiel freudig und unver­hoh­len erregt die junge, naive Berufs­an­fän­ge­rin auffor­dern „den Moritz zu waschen“ oder darauf hinwei­sen, dass sie für den Dienst schließ­lich bezah­len, treten in Janas Umgebung heute spürbar selte­ner auf.

Das antiquierte Rollen­bild der unter­wür­fi­gen Frau, welches der Mitdrei­ßi­ge­rin zufolge auffal­lend oft von hochbe­tag­te­ren Männern gepflegt wird, die früher eine Führungs­po­si­tion oder einen gewis­sen Status innehat­ten, sei bei jünge­ren Jahrgän­gen nicht mehr so ausprägt: „Die wissen, dass Frauen sich heute nicht mehr alles gefal­len lassen.“

Sexuel­les Verhal­ten – Zufall oder Absicht?

Aber nicht jede sexuelle Regung ist auch gleich ein sexuel­ler Übergriff. In einer Arbeits­um­ge­bung wie der Pflege, wo sich Menschen so nahekom­men, wie kaum in einem anderen Bereich, lassen sich entspre­chende Situa­tio­nen auf Dauer gar nicht vermei­den. Den Patien­ten sei es laut Jana zu 99 Prozent eher peinlich, wenn es zum Beispiel beim Waschen zu einer Erektion kommt.

Und dann sind da noch die schwer einschätz­ba­ren Fälle. Der Demenz­kranke etwa, bei dem nicht klar ist, ob der „Tatscher“ nun Absicht oder Zufall war. Oder die Patien­tin, die beim Kathe­ter-Wechsel den Namen ihres verstor­be­nen Mannes stöhnt.

Sexua­li­tät als Teil des Berufs

Darüber hinaus gibt es noch viele andere Momente, in denen Pflege­kräfte mit der Sexua­li­tät ihrer Patien­ten in Kontakt kommen. „Dass man ein Paar überrascht“, gehört für Jana in der ambulan­ten Pflege zum Berufs­all­tag. Genauso wie zusam­men­ge­scho­bene Betten in Alten­hei­men, um Paaren die körper­li­che Nähe zu ermög­li­chen.

Auch hat sie erlebt, „dass Sexar­bei­ter für pflege­be­dürf­tige Patien­ten gebucht wurden“. Je nach Erkran­kung sei es dabei nötig, im Vorfeld Gesprä­che zu führen. „In einem konkre­ten Fall ging es um eine vollbe­atmete Dame, die von einem jungen Mann mit Sexspiel­zeug beglückt wurde.“ Da es dadurch zu Proble­men mit der Beatmung kommen könne, müsse man als Pflege­kraft abklä­ren, wie genau das abläuft. Im Alarm­fall muss sie dann auch das Zimmer betre­ten.

Jede Pflege­kraft hat andere Grenzen

Auch wenn Berüh­rungs­punkte mit der Sexua­li­tät von Patien­ten und Bewoh­nern an vielen Stellen sozusa­gen zum Berufs­ri­siko von Pflege­kräf­ten gehören, kann nicht jede und jeder Beschäf­tigte gleich gut damit umgehen. „Schwie­rig ist es vor allem, wenn die Pflege­kraft selbst mit ihrer Sexua­li­tät nicht im Reinen ist oder durch Vorfälle eventu­ell an unschöne Momente in der Vergan­gen­heit erinnert wird“, sagt Jana. „Dann ist sprechen wichtig.“

Jana hat im Lauf der Jahre gelernt, klare Grenzen zu setzen. Als Leite­rin eines Pflege­diens­tes weiß sie durch die Gesprä­che mit ihren Mitar­bei­tern aber auch, wie unter­schied­lich diese Grenzen ausfal­len können. So wurde ihr selbst zum Beispiel einmal von einem Patien­ten aus dem arabi­schen Kultur­kreis der Wert von elf Kamelen zugeschrie­ben. Während Jana über die sexis­ti­sche Bemer­kung lachen konnte, hätte eine andere Pflege­kraft sich von diesem Vergleich mögli­cher­weise zutiefst gekränkt gefühlt.

Indivi­du­elle Lösun­gen statt Master­plan

Jana befür­wor­tet den Einsatz von Präven­ti­ons­be­auf­trag­ten, findet es aber gut, dass es in ihrem Bereich keinen Master­plan für den Umgang mit dem Sexual­ver­hal­ten von Patien­ten gibt. „Jeder Fall wird indivi­du­ell betrach­tet, da man auch auf die Krank­heits­bil­der der Patien­ten Rücksicht nehmen muss.

Auf Seite der Mitar­bei­ter kann man ihrer Ansicht nach nur Tipps geben, da jeder eine andere Grenze hat. „Wichtig ist, dass man ein Team ist und es ok ist, dass man darüber sprechen kann – auch wenn ein anderer Mitar­bei­ter sagt, ich empfinde das aber anders.“ Bisher hätten Gesprä­che mit Mitar­bei­tern immer zu Lösun­gen geführt.

Wenn die Grenzen von Mitar­bei­tern regel­mä­ßig überschrit­ten werden, sind natür­lich auch Gesprä­che mit Patien­ten und Angehö­ri­gen nötig. „Wenn das nicht hilft, kann eine Folge sein, dass die Pflege von Seiten des Heims oder der Pflege­sta­tion gekün­digt wird.“

Was in Bezug auf bestimmte Krank­heits­bil­der drastisch klingt, begrün­det Jana aus Sicht eines Pflege­diens­tes aber nachvoll­zieh­bar: „Es ist leich­ter einen neuen Patien­ten zu finden als neue Mitar­bei­ter.“ Zudem spiele auch die höhere Tendenz zu Krank­mel­dun­gen bei den Mitar­bei­ten­den eine Rolle: Wer sich bei der Arbeit nicht wohlfühlt, meldet sich nachweis­lich schnel­ler krank.

Die Kündi­gung des Pflege­plat­zes ist natür­lich nur das aller­letzte Mittel. Jana hat die Erfah­rung gemacht, dass eine perso­nelle Änderung in sexuell begrün­de­ten Konflik­ten schon viel bewir­ken kann: „Oft reicht es, wenn man bestimmte Perso­nen nicht mehr zur Versor­gung hinschickt.“

FAQ

Wie kommen Pflege­kräfte mit der Sexua­li­tät von Patien­ten oder Bewoh­nern in Kontakt?

Es gibt viele verschie­dene Momente, in denen Pflege­kräfte mit der Sexua­li­tät von Patien­ten oder Bewoh­nern in Kontakt kommen: Das pflege­be­dürf­tige Paar, das in flagranti von der Pflege­kraft erwischt wird oder sexuell anzüg­li­ches Verhal­ten und Betat­schen. Sollten Bewoh­ner Sexar­bei­ter beanspru­chen wollen, muss mit diesen ihr Einsatz vorher in Bezug auf gewisse Krank­he­ist­bil­der abgestimmt werden. Auch unfrei­wil­lige Erektio­nen bei der Körper­pflege kommen im Arbeits­all­tag von Pflege­kräf­ten vor.

Welcher Umgang hat sich für Pflege­kräfte in belas­ten­den Situa­tio­nen bewährt?

Für den Umgang mit belas­ten­den Situa­tio­nen haben sich eine offene Diskus­sio­nen im Team, indivi­du­elle Fallbe­spre­chun­gen sowie Gesprä­che mit Angehö­ri­gen und Patie­nen als hilfreich erwie­sen. Außer­dem können Mitar­bei­ter durch Präven­ti­ons-Kurse und Schulun­gen zu sexua­li­sier­ter Gewalt weiter­ge­bil­det werden. Sollten diese Mittel nicht helfen, kann auch der Wechsel der Betreu­ung oder – als letztes Mittel bei belas­ten­dem Verhal­ten – die Kündi­gung des Pflege­plat­zes in Erwägung gezogen werden.

Fazit

Pflege­kräfte kommen auf vielfäl­tige Weise mit der Sexua­li­tät von Patien­ten oder Bewoh­nern in Kontakt. Dabei können auch belas­tende Situa­tio­nen entste­hen, zum Beispiel wenn eine Pflege­kraft sich sexuell beläs­tigt fühlt. Da die Grenzen von Pflege­kräf­ten so indivi­du­ell sind, wie das Sexual­ver­hal­ten ihrer Patien­ten, sind auch spezi­elle Lösun­gen für den jewei­li­gen Fall nötig. Eine offene und vertrau­ens­volle Kommu­ni­ka­tion im Team, Schulun­gen und Gesprä­che bilden hierbei die wichtigste Basis.

*Name geändert. Der richtige Name ist der Redak­tion bekannt.