Unterschiede zwischen Sexualassistenz und Prostitution
Rechtsdepesche: Was ist der Unterschied zwischen Sexualassistenz und Sexualbegleitung?
Nina de Vries: Der Begriff Sexualbegleitung entstand ca. 2001. Der Begriff Sexualassistenz in 2004. Von der inneren Haltung her, ist es das gleiche. Aktive Sexualassistenz oder Sexualbegleitung ist eine bezahlte sexuelle Dienstleistung für Menschen mit einer Beeinträchtigung (körperlich, psychisch, geistig, seelisch oder mehrfach). SexualassistentInnen sind Menschen, die aus einer transparenten und bewussten Motivation heraus u.a. folgendes anbieten: Beratung, erotische Massage, zusammen nackt sein, sich gegenseitig streicheln und umarmen, Anleitung zur Selbstbefriedigung für Menschen, die das nicht durch die Betrachtung von Bildmaterial verstehen können, bis hin zu Oral- und Geschlechtsverkehr. Jede und jeder SexualassistentIn entscheidet individuell, was er oder sie konkret anbietet und für wen.
Rechtsdepesche: Was ist der Unterschied zwischen Prostitution und Sexualassistenz?
de Vries: Prostitution kann man auch Sexarbeit nennen. Sexualassistenz ist eine Form der Sexarbeit. Die Sexualität und Sinnlichkeit, um die es bei Sexualassistenz geht, ist ganzkörperlich, ganzheitlich und bewusst. Nicht eine auf Geschlechtsmerkmale fixierte, mechanische Sexualität, um die es öfters in den traditionelleren Formen von Sexarbeit, aber auch in vielen Ehebetten, geht.
Rechtsdepesche: Wenn es um sogenannte erotische Massagen geht, ist darunter immer eine Massage zu verstehen, die einen sexuellen Höhepunkt der behandelten Person mit sich bringt oder bringen soll?
de Vries: Nein. Es bedeutet einfach, dass auch die sogenannten erogenen Zonen (das sind nicht nur die Genitalien) mit einbezogen werden (im Gegensatz zu einer medizinischen Massage). Das kann zu einem Orgasmus führen, muss es aber nicht.
Wie alles begann
Rechtsdepesche: Sie sind nicht die erste Arbeiterin dieser Gattung in Deutschland, die für Menschen mit Behinderung arbeitet, haben aber die Entwicklung der Sexualassistenz initiiert und im deutschsprachigen Raum stark mitgeprägt. Das Arbeitsfeld ist Ihnen aus den Niederlanden schon bekannt gewesen. Wie hat es sich für Sie entwickelt, dass Sie Sexualassistentin geworden sind? Was war Ihre Motivation?
de Vries: In 1992 habe ich ein Jahr in einem Rehabilitationszentrum für Menschen mit
Behinderung gearbeitet. Ab 1994 habe ich erotische, tantrische Masagen angeboten. Durch eine therapeutische Ausbildung und ein Massagetraining, absolviert in den Niederlanden, fühlte ich mich dem gewachsen. Am Anfang hauptsächlich an nicht sichtbar behinderten Menschen, meist Männern.
Es kamen dann bald auch Anfragen von Menschen mit Körperbehinderung, auf die ich eingegangen bin. Da ich meist zugesagt habe, auf Anfragen der seriösen Presse, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Radio, wurde das Thema bekannter und es kamen immer mehr Anfragen bezüglich Menschen mit kognitiven Behinderungen, Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen und Menschen mit Demenz. Seit 2000 werde ich auch viel für Öffentlichkeitsarbeit in Form von Workshops und Vorträgen in Einrichtungen, auf Fachtagungen und in Fortbildungsinstitutionen engagiert.
Ich habe keine soziale Motivation, etwas für Menschen mit Behinderung machen zu wollen oder politische Motivation wie eine „bessere“ Welt kreieren zu wollen. Auf jeden Fall steht das nicht an erster Stelle. Es ist entstanden durch Anfragen. Für mich ist die Arbeit eine Möglichkeit, etwas Ureigenes von mir geben zu können. Meine Arbeit berührt mich und hält mich wach. Ich lerne über mich und darüber, was es heisst ein Mensch zu sein, in dem ich viele verschiedene andere Menschen aus der Nähe betrachten, berühren und begegnen darf.
Sexarbeit muss aus der Schmuddelecke
Rechtsdepesche: Gibt es auch Männer, die den Beruf ausüben?
de Vries: Ja, ein paar. Bitte googeln: Sexualbegleitung in Deutschland.
Rechtsdepesche: Gegen welche Vorurteile haben Sie zu kämpfen?
de Vries: Das weiss ich nicht genau, weil ich da, wo ich hinkomme auf Menschen treffe, die intelligent genug und bereit sind, eventuelle eigene Vorurteile zu hinterfragen. Klar ist, dass es um drei Tabuthemen geht: Sexualität, Behinderung und bezahlte sexuelle Dienstleistung. Ich sehe es als meine Arbeit an, die sexuelle Dienstleistung aus der Schmuddelecke zu holen. Es ist möglich, einen sexuellen Dienst zu leisten, ohne seine eigenen Grenzen oder die von anderen zu verletzen und Freude daran zu haben.
Der Mensch will als ganzes Wesen wahrgenommen werden
Rechtsdepesche: Wenn Sie sagen, Ihr Beruf sei kein Ersatz für Prostitution, was ist das Wichtigste, das Sie leisten?
de Vries: Ich weiss gar nicht, dass ich das gesagt habe. Die Erfahrungen, die Menschen machen können durch Sexualassistenz oder andere Formen der Sexarbeit sind Nähe, Berührungen, die nicht Zweckberührungen (pflegerische Handlungen) sind, als sexuelles Wesen wahrgenommen werden, Orgasmus, Freude, Entspannung.
Rechtsdepesche: Wie ist Ihre persönliche Arbeitsweise? Wo ist Ihre persönliche Grenze?
de Vries: Ich biete an: Massage, Berührung, Streicheln, Umarmen, Halten. Sich gegenseitig umarmen und berühren. Nackter Hautkontakt. Ich bringe Menschen zum Orgasmus mit meiner Hand, wenn sie das wollen. Anleitung zur Selbstbefriedigung für Menschen, die schwerer kognitiv beeinträchtigt sind und dies nicht durch Bildmaterial verstehen können. Was ich nicht anbiete sind Geschlechtsverkehr und Oralkontakt. Nicht weil ich das unmoralisch finde oder Angst habe, von anderen möglicherweise als
eine Nutte oder eine Hure abgestempelt zu werden. Es ist eine persönliche Grenze. Ich will diese zwei Varianten nicht im Rahmen meiner Arbeit anbieten.
Es gibt keine Inklusion für Menschen mit Behinderung
Rechtsdepesche: Was ist aus Ihrer Sicht das größte Hindernis für die sachliche Berichterstattung zum Thema Sexualität von Menschen mit sichtbarem Handicap oder sichtbarer Behinderung?
de Vries: Es gibt keine echte Inklusion von Menschen mit Behinderung. Vielfalt ist für viele verwirrend und unerwünscht.
Rechtsdepesche: Zärtlichkeit, Berührung, Körperkontakt und Wärme sind Begriffe, die im alltäglichen Arbeitsumfeld der meisten Menschen keine Rolle spielen, sondern zur Intimsphäre jedes Einzelnen gehören. Gleichzeitig sind sie für jeden Menschen von großer Bedeutung. Wie erklären Sie sich, dass es für eine Mehrzahl prekär ist, darüber zu sprechen?
de Vries: Weil wir es nicht gelernt oder geübt haben. Wie gut oder wie schlecht wir das können, hängt zusammen mit dem, was wir im jungen Alter von unseren Eltern übernommen haben. Und die wieder von deren Eltern. Meist unterschwellig. Manchmal auch offen und verbal. Wir leben in einer Kultur, in der über Jahrhunderte Angst gemacht wurde und wo Sex als Sünde betrachtet wurde. Und wahrscheinlich zum Teil immer noch wird. Da braucht es extra Aufmerksamkeit, Training und Selbsterfahrung, um zu mehr Unbefangenheit zu kommen.
Rechtsdepesche: Ist Sexualität aus Ihrer Erfahrung ein Grundbedürfnis des Menschen, das ebenso wie Nahrung und Kleidung lebenslang besteht?
de Vries: Menschen sind einzigartige, sexuelle, sinnliche Wesen. So sind wir gebaut. Wir können
nicht nicht sinnlich sein. Daraus entstehen tausendfach verschiedene, individuelle Bedürfnisse, die Beachtung brauchen – in welcher Form auch immer.
Peinliche, auf Äusserlichkeiten fixierte Gesellschaft
Rechtsdepesche: Besonders junge Menschen glauben, die Rolle der Sexualität und Erotik nehme mit zunehmendem Alter ab, was ja nicht falsch ist. Was ist Ihrer Erfahrung nach das Alter, für das dies zutrifft?
de Vries: Ja das glauben die wahrscheinlich, weil in unserer Gesellschaft ein Körperideal herrscht, in das runzelige Haut nicht hineinpasst. Wir leben in einer peinlich auf Äusserlichkeiten fixierten Gesellschaft. Es gibt kein Alter, über das man mit Sicherheit sagen kann: da hört es auf. Das ist individuell. Aber die Körperbilder und die Vorurteile sind Teil eines kollektiven Wahnsinns.
Rechtsdepesche: In welchen Fällen sollte die Solidargemeinschaft, z. B. die Krankenkasse, die Dienste der SexualassistentInnen unterstützen (z.B. erotische Massagen)?
de Vries: Ich bin der Meinung, dass für Menschen, die schwer mehrfach behindert sind und deutlich angeben, dass sie eine Assistenz auf diesem Gebiet brauchen (so wie sie es bei allem andern auch brauchen), und stark darunter leiden, wenn diese Assistenz nicht gegeben wird (Aggression, Autoagression) Gelder zur Verfügung gestellt werden sollten.
Viele von diesen Menschen gehen in Förderwerkstätten und bekommen kein Geld. Nicht von der Krankenkasse. Sexualität ist keine Krankheit. Da geht es dann auch nicht an erster Stelle um Befriedigung, sondern darum, ihnen zur Seite zu stehen beim Entdecken des eigenen Körpers. Auf eine Art und Weise, die nicht von Angehörigen oder Betreuungspersonal gegeben werden kann.
Behinderte Menschen, die in Werkstätten arbeiten können, sollen eine angemessene Bezahlung bekommen, damit sie sich so etwas hin und wieder leisten können. Genauso wie die sogenannten Nicht–Behinderten.
Rechtsdepesche: Wie argumentieren Sie gegenüber den erwerbstätigen Menschen, die diese Dienstleistungen unter keinen Umständen von der Krankenkasse bezahlen lassen können?
de Vries: Das überlasse ich anderen.
Rechtsdepesche: Die Rechtsdepesche berichtete bereits über die erwiesene Heilwirkung von Sexualität gegen seelische und körperliche Altersbeschwerden. Diese ist auch für Patienten, die an Demenz erkrankt sind, belegt. Halten Sie Sexualassistenz für eine praktische Form der Therapie, um Demenzpatienten den Verlauf der Krankheit zu erleichtern?
de Vries: Sexualassistenz ist keine Therapie, sondern eine Erfahrungsmöglichkeit. Wenn Menschen deutlich signalisieren oder verbalisieren, dass sie ein Bedürfnis nach Berührung haben und/oder auch nach erotischen, sexuellen Berührungen, dann kann das für das pflegende Umfeld schwierig sein, weil sie diese Bedürfnisse nicht erfüllen können oder dürfen. Bei jemandem ohne Kurzzeitgedächtnis kann das dazu führen, dass Personal oder Angehörige permanent Grenzen wiederholen müssen. Also ja, ich denke, dass es für solche Menschen das Leben genießbarer machen kann. Ob man damit den Krankheitsverlauf erleichtern kann, weiss ich nicht.
Rechtsdepesche: Unter welchen Umständen kommt man auf Sie zu, um Sie zu beauftragen?
de Vries: Meist, wenn es um Menschen geht, die übergriffig sind. Und nicht oder nicht mehr verstehen, dass sie nicht einfach so andere anfassen können, ohne vorher zu fragen.
Rechtsdepesche: Ab welchem Zeitpunkt oder bei welcher Erkrankung kann der Mensch nicht mehr selbst für die Erfüllung der sexuellen Wünsche sorgen?
de Vries: Menschen, die gelähmt sind können sich z.B. nicht selber berühren. Menschen, die auf Grund einer Demenz oder einer kognitiven Behinderung in einem anderen, von der Norm abweichenden Wahrnehmungszustand sind, können oft nicht das, was wir eine Beziehung nennen, eingehen.
Pflegeeinrichtungen brauchen neue Konzepte
Rechtsdepesche: Was sollte sich in Zukunft ändern, damit die Situation für die Erkrankten verbessert werden kann?
de Vries: Erstmal das Wort „Erkrankte“ weglassen. Es ist ein anderer Wahrnehmungszustand.
Wir können immer von anderen lernen, auch von oder durch diese Menschen kann man viel lernen.
Rechtsdepesche: Was sollte sich in Zukunft ändern, damit die Arbeit der Sexualassistenten besser akzeptiert wird?
de Vries: Ich bin keine Zukunftsplanerin. Ich glaube an ganz individuelle, persönliche, „kleine“
Durchbrüche.
Rechtsdepesche: Was könnten Pflegeeinrichtungen für die BewohnerInnen unternehmen?
de Vries: Pflegeeinrichtungen sollten ein klares Konzept haben über den Umgang mit
den Themen Sexualität und Beziehungen. Welchen Stellenwert hat das Thema für uns? Was wollen wir unseren BewohnerInnen konkret ermöglichen und wie? Was wird von den Mitarbeitern diesbezüglich erwartet? Was brauchen die Mitarbeiter, um mit dem Thema angemessen umgehen zu können? Fortbildungen für Mitarbeiter zu diesem Thema auf qualitativ hohem Niveau.
Rechtsdepesche: Was kann die Gesellschaft konkret unternehmen, um mehr Offenheit gegenüber diesem Thema zu etablieren?
de Vries: Inklusion fördern.
Rechtsdepesche: In welche Richtung sollte sich die Diskussion in der medialen Berichterstattung entwickeln?
de Vries: Mediale Berichterstattung ist meist oberflächlich und bedient oft Klischees. Man scheint davon auszugehen, es würde geschrieben oder präsentiert für ein dummes Publikum, das nicht selber nachdenken kann. Vielleicht müsste der Ton sich ändern. Intelligenter werden. Aber na ja, die Einschaltquoten! Die Verkaufszahlen! So lange das im Vordergrund steht, ist es müßig darüber zu spekulieren, finde ich.
Zur Person: Nina de Vries ist gebürtige Niederländerin. Sie lebt bei Berlin und wirkt bundesweit.