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97-Jährige stürzt merhmals in Pflegeeinrichtung
Fehlende Sturzprophylaxe? Eine 97-jährige, an Demenz leidende Frau war zur vollstationären Behandlung in einer Pflegeeinrichtung untergebracht. Während ihrer Aufenthaltszeit wurden vom Pflegepersonal insgesamt zehn Stürze von ihr in Sturzereignisprotokollen dokumentiert.
Nach dem zweiten Vorfall wurde in der Dokumentation vermerkt, dass die Frau einen Hautriss an der linken Hand hatte. Bei vier weiteren Fällen wurde eine Platzwunde eingetragen. Nach dem siebten eingetragenen Vorfall wurde vor dem Bett der Frau eine Klingelmatte platziert.
Aus Informationen eines Krankenhauses wird erkenntlich, dass die Frau dort mehrere Male behandelt wurde, die im zeitlichen Zusammenhang mit den Stürzen in der Pflegeeinrichtung standen. Zuletzt wurde sie erneut in eine Klinik verlegt, wo sie auch starb.
Sohn der Frau gibt Einrichtung Schuld an ihrem Tod
Für ihren Tod macht der Sohn der Frau nun die Pflegeeinrichtung verantwortlich. Seine Mutter sei auf einem Auge blind gewesen und habe auf dem anderen Auge eine Sehkraft von 20 Prozent gehabt. Zudem sei ein Bein um 2,5 cm kürzer gewesen als das andere. Die Pflegeeinrichtung habe über diese Umstände Bescheid gewusst, so der Sohn.
Weiter behauptet der Sohn, dass seine Mutter an mindestens 20 Tagen ohne Begleitung oder Betreuung in der Einrichtung angetroffen wurde. Außerdem sei sie nicht nur zehn, sondern dreizehn Mal gestürzt, was kausal zu sechs Krankenhausaufenthalten in sieben Wochen führte, weil seine Mutter sechs Mal auf den Hinterkopf gefallen sei. Durch die Vorfälle habe sie zudem permanent erhebliche Schmerzen gehabt.
Der Sohn macht der Pflegeeinrichtung zum Vorwurf, dass zu keiner Zeit effektive Sturzprophylaxe-Maßnahmen ergriffen wurden. Das Pflegepersonal habe weder kontrolliert, ob seine Mutter esse und trinke, noch seien regelmäßige Toilettengänge mit ihr durchgeführt worden.
Aufgrund der erfolgten Stürze und der daraus resultierenden Schmerzen habe sie nicht mehr alleine aufstehen und sich nicht mehr bewegen können. Dadurch sei es auch zu vermehrten Ansammlungen von Wasser im Körper gekommen. Die wiederum waren Grund für den letzten Krankenhausaufenthalt und ihren Tod.
Einrichtung hat gegen Obhutspflichten verstoßen
Die Pflegeeinrichtung hätte nach Meinung des Sohnes schon nach den ersten Stürzen entsprechende Sturzprophylaxe-Maßnahmen ergreifen müssen und klagt vor Gericht auf Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 20.000 Euro.
Das Landgericht Lübeck gab dem Sohn tatsächlich recht, erachtete allerdings ein Schmerzensgeld von 3.000 Euro für angemessen. Aus den §§ 280 Absatz 1, 241 Absatz 1 BGB in Verbindung mit dem Heimvertrag stehe ihm das Schmerzensgeld zu, weil die Einrichtung gegen ihre Obhutspflichten verstoßen habe.
Die Verantwortlichen hätten es versäumt, anlässlich der erfolgten Stürze der Frau mit Blick auf ihre körperliche und geistige Verfassung eine angepasste Risikoprognose zu treffen und die daraus erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zur Einschränkung einer Selbstschädigungsgefahr zu ziehen oder gegebenenfalls weitere Maßnahmen mit den Angehörigen abzusprechen.
Angepasste Risikoprognose hätte stattfinden müssen
Das Gericht gibt dem Sohn recht, dass seine Mutter dreizehn Mal in der Einrichtung gestützt ist. Einen Sturz definiert das Gericht als „ein Ereignis, bei dem die betreffende Person unbeaufsichtigt auf dem Boden oder auf einer anderen tieferen Ebene aufkommt.“
Entsprechend seien nicht nur die zehn dokumentierten, sondern auch drei weitere Fälle als Sturz zu zählen. Nachdem die Frau sich bei einem Sturz eine Platzwunde zugezogen hatte und nach weiteren Stürzen auch ständig über Schmerzen klagte, war die Einrichtung zweifelsfrei dazu angehalten die Risikoprognose anzupassen und entsprechende Maßnahmen zur Sturzprophylaxe abzuleiten.
Insbesondere gelte das vor dem Hintergrund, dass selbst im Arztbrief der behandelnden Klinik für das weitere Procedere explizit stand: „Bitte dringend Sturzprophylaxe“.
Auch Arzt forderte Sturzprophylaxe
Das Gericht könne zwar zu Gunsten der beklagten Pflegeeinrichtung annehmen, dass in Zuge der Stürze eine Fallbesprechung mit dem Sohn der Frau stattgefunden habe. Allerdings sei dies unerheblich, da keine erkennbaren Resultate aus den Gesprächen hervorgegangen sind, die zur Sturzprophylaxe geeignet gewesen wären.
Eine Sachverständige konnte vor Gericht feststellen, dass nach dem zweiten Sturzereignis eine Anpassung des Sturzrisikos vorgesehen war, die tatsächliche Anpassung aber erst eine Woche später erfolgte. In den folgenden Fallbesprechungen wurden deshalb zwar angepasste Maßnahmen zur Sturzprophylaxe diskutiert, doch auch diese entsprachen, nach Ansicht der Sachverständigen, nicht dem vorhanden Gefährdungspotenzial der Frau.
Laut Sachverständiger wäre auch Fixierung denkbar gewesen
So hätte spätestens nach dem achten Vorfall – dieser Sturz sei wohl besonders schlimm gewesen – eine direkte Fallbesprechung über den Einsatz eines Bauchgurtes oder eine Fixierung stattfinden müssen.
Trotz aller Versäumnisse konnte das Gericht nicht erkennen, dass die gesundheitliche Verschlechterung der Frau über das zu erwartende Maß einer 97-Jährigen hinausging. Entsprechend sei ein Schmerzensgeld von 3.000 Euro gerechtfertigt.
Quelle: LAG Lübeck vom 5.12.2024 – 10 O 208/23