Sturzprophylaxe
Eine Frau stürzt merhmals in einer Pflege­ein­rich­tung – eine Anpas­sung ihrer Risiko­pro­gnose wird aller­dings zu spät vorge­nom­men. Bild: © Toa555 | Dreamstime.com

97-Jährige stürzt merhmals in Pflege­ein­rich­tung

Fehlende Sturz­pro­phy­laxe? Eine 97-jährige, an Demenz leidende Frau war zur vollsta­tio­nä­ren Behand­lung in einer Pflege­ein­rich­tung unter­ge­bracht. Während ihrer Aufent­halts­zeit wurden vom Pflege­per­so­nal insge­samt zehn Stürze von ihr in Sturz­er­eig­nis­pro­to­kol­len dokumen­tiert.

Nach dem zweiten Vorfall wurde in der Dokumen­ta­tion vermerkt, dass die Frau einen Hautriss an der linken Hand hatte. Bei vier weite­ren Fällen wurde eine Platz­wunde einge­tra­gen. Nach dem siebten einge­tra­ge­nen Vorfall wurde vor dem Bett der Frau eine Klingel­matte platziert.

Aus Infor­ma­tio­nen eines Kranken­hau­ses wird erkennt­lich, dass die Frau dort mehrere Male behan­delt wurde, die im zeitli­chen Zusam­men­hang mit den Stürzen in der Pflege­ein­rich­tung standen. Zuletzt wurde sie erneut in eine Klinik verlegt, wo sie auch starb.

Sohn der Frau gibt Einrich­tung Schuld an ihrem Tod

Für ihren Tod macht der Sohn der Frau nun die Pflege­ein­rich­tung verant­wort­lich. Seine Mutter sei auf einem Auge blind gewesen und habe auf dem anderen Auge eine Sehkraft von 20 Prozent gehabt. Zudem sei ein Bein um 2,5 cm kürzer gewesen als das andere. Die Pflege­ein­rich­tung habe über diese Umstände Bescheid gewusst, so der Sohn.

Weiter behaup­tet der Sohn, dass seine Mutter an mindes­tens 20 Tagen ohne Beglei­tung oder Betreu­ung in der Einrich­tung angetrof­fen wurde. Außer­dem sei sie nicht nur zehn, sondern dreizehn Mal gestürzt, was kausal zu sechs Kranken­haus­auf­ent­hal­ten in sieben Wochen führte, weil seine Mutter sechs Mal auf den Hinter­kopf gefal­len sei. Durch die Vorfälle habe sie zudem perma­nent erheb­li­che Schmer­zen gehabt.

Der Sohn macht der Pflege­ein­rich­tung zum Vorwurf, dass zu keiner Zeit effek­tive Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men ergrif­fen wurden. Das Pflege­per­so­nal habe weder kontrol­liert, ob seine Mutter esse und trinke, noch seien regel­mä­ßige Toilet­ten­gänge mit ihr durch­ge­führt worden.

Aufgrund der erfolg­ten Stürze und der daraus resul­tie­ren­den Schmer­zen habe sie nicht mehr alleine aufste­hen und sich nicht mehr bewegen können. Dadurch sei es auch zu vermehr­ten Ansamm­lun­gen von Wasser im Körper gekom­men. Die wiederum waren Grund für den letzten Kranken­haus­auf­ent­halt und ihren Tod.

Einrich­tung hat gegen Obhut­s­pflich­ten versto­ßen

Die Pflege­ein­rich­tung hätte nach Meinung des Sohnes schon nach den ersten Stürzen entspre­chende Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men ergrei­fen müssen und klagt vor Gericht auf Schmer­zens­geld in Höhe von mindes­tens 20.000 Euro.

Das Landge­richt Lübeck gab dem Sohn tatsäch­lich recht, erach­tete aller­dings ein Schmer­zens­geld von 3.000 Euro für angemes­sen. Aus den §§ 280 Absatz 1, 241 Absatz 1 BGB in Verbin­dung mit dem Heimver­trag stehe ihm das Schmer­zens­geld zu, weil die Einrich­tung gegen ihre Obhut­s­pflich­ten versto­ßen habe.

Die Verant­wort­li­chen hätten es versäumt, anläss­lich der erfolg­ten Stürze der Frau mit Blick auf ihre körper­li­che und geistige Verfas­sung eine angepasste Risiko­pro­gnose zu treffen und die daraus erfor­der­li­chen Siche­rungs­maß­nah­men zur Einschrän­kung einer Selbst­schä­di­gungs­ge­fahr zu ziehen oder gegebe­nen­falls weitere Maßnah­men mit den Angehö­ri­gen abzuspre­chen.

Angepasste Risiko­pro­gnose hätte statt­fin­den müssen

Das Gericht gibt dem Sohn recht, dass seine Mutter dreizehn Mal in der Einrich­tung gestützt ist. Einen Sturz definiert das Gericht als „ein Ereig­nis, bei dem die betref­fende Person unbeauf­sich­tigt auf dem Boden oder auf einer anderen tiefe­ren Ebene aufkommt.“

Entspre­chend seien nicht nur die zehn dokumen­tier­ten, sondern auch drei weitere Fälle als Sturz zu zählen. Nachdem die Frau sich bei einem Sturz eine Platz­wunde zugezo­gen hatte und nach weite­ren Stürzen auch ständig über Schmer­zen klagte, war die Einrich­tung zweifels­frei dazu angehal­ten die Risiko­pro­gnose anzupas­sen und entspre­chende Maßnah­men zur Sturz­pro­phy­laxe abzulei­ten.

Insbe­son­dere gelte das vor dem Hinter­grund, dass selbst im Arztbrief der behan­deln­den Klinik für das weitere Proce­dere expli­zit stand: „Bitte dringend Sturz­pro­phy­laxe“.

Auch Arzt forderte Sturz­pro­phy­laxe

Das Gericht könne zwar zu Gunsten der beklag­ten Pflege­ein­rich­tung anneh­men, dass in Zuge der Stürze eine Fallbe­spre­chung mit dem Sohn der Frau statt­ge­fun­den habe. Aller­dings sei dies unerheb­lich, da keine erkenn­ba­ren Resul­tate aus den Gesprä­chen hervor­ge­gan­gen sind, die zur Sturz­pro­phy­laxe geeig­net gewesen wären.

Eine Sachver­stän­dige konnte vor Gericht feststel­len, dass nach dem zweiten Sturz­er­eig­nis eine Anpas­sung des Sturz­ri­si­kos vorge­se­hen war, die tatsäch­li­che Anpas­sung aber erst eine Woche später erfolgte. In den folgen­den Fallbe­spre­chun­gen wurden deshalb zwar angepasste Maßnah­men zur Sturz­pro­phy­laxe disku­tiert, doch auch diese entspra­chen, nach Ansicht der Sachver­stän­di­gen, nicht dem vorhan­den Gefähr­dungs­po­ten­zial der Frau.

Laut Sachver­stän­di­ger wäre auch Fixie­rung denkbar gewesen

So hätte spätes­tens nach dem achten Vorfall – dieser Sturz sei wohl beson­ders schlimm gewesen – eine direkte Fallbe­spre­chung über den Einsatz eines Bauch­gur­tes oder eine Fixie­rung statt­fin­den müssen.

Trotz aller Versäum­nisse konnte das Gericht nicht erken­nen, dass die gesund­heit­li­che Verschlech­te­rung der Frau über das zu erwar­tende Maß einer 97-Jähri­gen hinaus­ging. Entspre­chend sei ein Schmer­zens­geld von 3.000 Euro gerecht­fer­tigt.

Quelle: LAG Lübeck vom 5.12.2024 – 10 O 208/23