Leitlinie
Carsten Hermes Bild: Privat

Carsten Hermes, Mitglied des Leitli­nien-Gremi­ums für die S3-Leitli­nie für Lagerungs­the­ra­pie und Mobili­sa­tion von kritisch Erkrank­ten auf Inten­siv­sta­tion, gibt uns spannende Einbli­cke in die inter­nen Abläufe bei der Erstel­lung dieser Leitli­nien und erläu­tert die hohe Relevanz, die solche Empfeh­lun­gen für unsere Gesund­heits­ver­sor­gung haben.

Wie kam es zu der Hochstu­fung der ehema­li­gen S2e-Leitli­nie zur S3-Leitli­nie?

„Die Antwort ist simpel; Leitli­nien werden grund­sätz­lich alle fünf Jahre überar­bei­tet, um die aktuel­len Eviden­zen und wissen­schaft­li­chen Erkennt­nisse wieder mitein­flie­ßen zu lassen.“

Grund­sätz­lich erklärt C. Hermes, dass aber auch der Schritt zu einer S3-Leitli­nien-Empfeh­lung von einer S2e-Leitli­nie nicht mehr so weit ist, und auch gewollt, wenn die Evidenz von Studien- und Forschungs­lage dies hergibt.

Der Prozess, um eine Leitli­nie fertig­zu­stel­len, ist langwie­rig und genau vorge­schrie­ben. 2019 stand die Überar­bei­tung der S2e Leitli­nie (Lagerungs­the­ra­pie und Frühmo­bi­li­sie­rung) an, nachdem die letzte Anglei­chung 2015 erfolgte. Dementspre­chend wurden zwei Leitli­ni­en­ko­or­di­na­to­ren (Prof. Schal­ler, Prof. Coldway) festge­legt und das Team von knapp 20 Leuten aus den verschie­de­nen Fachge­sell­schaf­ten zusam­men­ge­stellt.

Carsten Hermes, der schon 2015 an der Überar­bei­tung der vorhe­ri­gen Empfeh­lung mitge­wirkt hatte, war einer der knapp 20 Perso­nen des neuen Leitli­nien Gremi­ums. Bis zur Veröf­fent­li­chung letzten Sommer sind über drei Jahre vergan­gen.

Hermes erklärt uns wie die Überar­bei­tung abläuft, welche Hinder­nisse auftau­chen können und warum es bis zur Veröf­fent­li­chung einen doch so langen Zeitraum benötigte.

Zunächst trifft sich das Gremium und bespricht die Oberthe­men, diese werden dann, unter Berück­sich­ti­gung der Inter­es­sen­kon­flikte der jewei­li­gen Betei­lig­ten, an einzelne Personen(gruppen) aufge­teilt. Danach macht jeder für sein Thema eine syste­ma­ti­sche Litera­tur­re­cher­che und versucht damit die vorher festge­leg­ten PICO-Fragen (nach den vier Katego­rien „Patient“, „Inter­ven­tion“, „Compa­ri­son“, „Outcome“) zu beant­wor­ten.

Zu guter Letzt prüft man die Quali­tät der Recher­che, definiert ein Paket, tauscht in seiner Gruppe unter­ein­an­der die Infosamm­lun­gen und Antwor­ten aus, und übergibt den Entwurf an die Autoren. Das überar­bei­tete Paket wird nun in der Gesamt­gruppe disku­tiert und letzt­end­lich final formu­liert.

Dieser Vorgang ist standar­di­siert und ist von der AWMF Gesell­schaft vorge­ge­ben. Bei finalen Formu­lie­run­gen einzel­ner Empfeh­lun­gen herrscht oft eine hitzige Diskus­sion, bis man auf einen Nenner kommt, erzählt C. Hermes. Bei manchen Themen sind sich alle schnell einig, aber verein­zelt werden oft gute Fragen gestellt, die zu einer ausge­wei­te­ten Diskus­sion führen.

Doch Deutsch­land ist nicht das einzige Land, in dem solche Leitli­nien imple­men­tiert sind. Es gibt neben der AWMF-Gesell­schaft noch viele weitere wie zum Beispiel die NICE Guide­lines von den UK oder die europäi­schen ESA-Guide­lines, die europa­weit bzw. in den jewei­li­gen Ländern solche Empfeh­lun­gen für sich und ihr Gesund­heits­sys­tem evidenz­ba­siert ausspre­chen.

Wie wichtig die Leitli­nien für die Durch­füh­rung einzel­ner praxis­re­le­van­ter Aufga­ben sind, wird immer deutli­cher, wenn man in die Klini­ken schaut. Ein Bewer­tungs­in­stru­ment – wie die Empfeh­lun­gen einer Leitli­nie – zu haben, erleich­tert die Entschei­dung, welche Ausfüh­rung von Maßnah­men in den verschie­dens­ten Situa­tio­nen notwen­dig ist.

Nun schauen wir noch etwas genauer hin und möchten ein State­ment von C. Hermes bezüg­lich einer Empfeh­lung im ersten Kapitel. Es geht um die detail­lierte Empfeh­lung der Oberkör­per- Hochla­ge­rung über 40° bei beatme­ten Patien­ten mittels Halbsitz („Beach­chair position“) oder Anti-Trendelen­burg Lagerung. Diesbe­züg­lich wollen wir wissen, ob die zwei Lagerungs­po­si­tio­nie­run­gen gleich­wer­tig sind.

Seine Antwort ist eindeu­tig: bezüg­lich der Pneumo­nie-Prophy­laxe und Lungen­be­lüf­tung sind diese, bei richti­ger Durch­füh­rung, gleich­wer­tig. Jedoch verur­sacht die Beach­chair Position einen Knick in der Hüfte und dies kann zu erhöh­ten intra­ab­do­mi­nel­len Drücken führen. Wenn dies beim Patien­ten kontra­in­di­ziert ist, sollte man sich entspre­chend lieber für die Anti-Trendelen­burg Lagerung entschei­den und/oder den Druck überwa­chen. Derzeit gibt es aller­dings nur wenige Systeme, mit denen man die Anti-Trendelen­burg Lagerung von 40° und mehr tatsäch­lich umset­zen kann.

Dies hat zur Folge, dass die Durch­füh­rung in der Praxis teilweise schwie­rig ist.

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Frühmo­bi­li­sie­rung ist in den Fokus gerückt Bild: Reactive Robotics

Umso mehr inter­es­siert uns das Feedback aus den Klini­ken. Wir fragen Carsten nach seinem Eindruck, wie gut die neue S3-Leitli­nie in der Praxis angenom­men wird. Er berich­tet uns, dass es im Vergleich zu den letzten Jahren bereits ein großes Umden­ken gegeben hat. Frühmo­bi­li­sie­rung ist immer mehr in den Fokus gerückt und wird auch schon von vielen so gut wie möglich umgesetzt. Dennoch benötigt es weitere Schulungs- und Aufklä­rungs­an­ge­bote, um die Wichtig­keit auch bei den einzel­nen Anwen­dern noch mehr in den Vorder­grund zu bringen.

Hermes betont jedoch auch, dass die Veröf­fent­li­chung der Leitli­nie bislang ausschließ­lich in einem PeerRe­view Journal statt­ge­fun­den hat. Daher haben es bisher wahrschein­lich nur die Anwen­der gelesen, die sich generell viel mit der Thema­tik beschäf­ti­gen. Eine Veröf­fent­li­chung in einem passen­den Journal ist ein standard­mä­ßi­ges Vorge­hen und wird fast immer gemacht. Er erzählt uns, dass auch die Veröf­fent­li­chung dieser Leitli­nie in einem entspre­chen­den inter­na­tio­na­len Journal voraus­sicht­lich bald statt­fin­den wird.

Zu guter Letzt reden wir über sein Fazit, bei dem er uns mitteilt, dass er es sehr geschätzt hat, bei dieser Überar­bei­tung der Leitli­nie mit einem so konstruk­ti­ven, inter­dis­zi­pli­nä­ren Team zusam­men gearbei­tet zu haben. Er berich­tet uns, dass man immer mehr sieht, wie viel solche Fachemp­feh­lun­gen die Praxis beein­flus­sen und wie viel so etwas verän­dern kann, wenn aus den verschie­dens­ten Berei­chen fundier­tes Wissen zusam­men­ge­tra­gen und aufge­schrie­ben wird.

Sein Wunsch diesbe­züg­lich für die Zukunft in der Praxis ist, dass der Stand deutscher Pflegen­den weiter gestärkt wird; dass einzelne kleine Projekte, die zum Beispiel in Fachwei­ter­bil­dun­gen bearbei­tet werden, auch Aufmerk­sam­keit bekom­men, nieder­ge­schrie­ben und veröf­fent­licht werden, um zukünf­tig für Infor­ma­ti­ons­samm­lun­gen zugäng­lich zu sein. „Der Ansatz soll sein, dass wir als Profes­sion und Gesund­heits­sys­tem die Mobili­sa­tion anerken­nen, die einer der wenigen Sachen ist, die sowohl Prophy­laxe als auch Thera­pie ist und sofort wirkt.“