Remonstrationspflicht
Im Sinne der Remons­tra­ti­ons­pflicht müssen sich Ärzte einer Anord­nung wider­set­zen, wenn sie an ihrer Korrekt­heit zweifeln. Bild: © Katar­zyna Bialasie­wicz | Dreamstime.com

Patien­tin stirbt an Multi­or­gan­ver­sa­gen

Eine Frau wurde mit langan­hal­ten­den Unter­leibs­blu­tun­gen in Verbin­dung mit bereits bekann­ten Myomen (Muskel­kno­ten) im Uterus in ein Kranken­haus einge­lie­fert.

Aufgrund des Befunds sollte eine ambulante Hystero­sko­pie mit fraktio­nier­ter Abrasio durch­ge­führt werden. Hierbei handelt es sich um ein minimal-invasi­ves Verfah­ren, bei dem die Gebär­mut­ter mit einer Kamera unter­sucht (Hystero­sko­pie) und die Schleim­haut aus Gebär­mut­ter­hals und ‑höhle getrennt ausge­schabt (fraktio­nierte Abrasio) wird, um Blutungs­stö­run­gen oder Gewebe­ver­än­de­run­gen zu diagnos­ti­zie­ren und zu behan­deln. Als Spülmit­tel nutzten sie etwa 2,5 Liter destil­lier­tes Wasser, um eine Korro­sion des Behand­lungs­ge­rä­tes zu vermei­den.

Während der Opera­tion kam es zum Herzstill­stand der Patien­tin, die darauf­hin eine knappe halbe Stunde wieder­be­lebt wurde. Nach dem sie wieder stabil war, wurde sie weiter beatmet und auf die Inten­siv­sta­tion verlegt.

Etwa eine halbe Stunde später wurde sie erneut operiert, da bei ihr eine Blutung im Bauch­raum vermu­tet wurde. Hierbei wurden etwa 1,5 Liter nicht geron­ne­nes Blut abgesaugt und eine Blutung an der Leber festge­stellt. Ein Riss an der Leber wurde darauf­hin geschlos­sen und die Blutung gestoppt.

Im Anschluss wurde die Patien­tin weiter auf der Inten­siv­sta­tion behan­delt, wo plötz­lich ein Hirnödem auftrat. Sie verstarb schließ­lich an Multi­or­gan­ver­sa­gen, ohne wieder bei Bewusst­sein gewesen zu sein.

Die Klinik und die betei­lig­ten Ärztin­nen (Oberärz­tin und Assis­tenz­ärz­tin) zahlten dem Mann und der Tochter der Frau wegen des Vorfalls 30.000 Euro. Die Hinter­blie­be­nen ließen sich damit jedoch nicht beschwich­tig­ten, sondern zogen vor Gericht. Den behan­deln­den Ärztin­nen haben sie mehrere Behand­lungs­feh­ler vorge­wor­fen und forder­ten zusätz­lich 20.000 Euro Schmer­zens­geld.

Und tatsäch­lich: Auch das Landge­richt Köln hat grobe Behand­lungs­feh­ler erkannt und die Klinik, die Oberärz­tin und die Assis­tenz­ärz­tin als Gesamt­schuld­ner zu einer Schmer­zens­geld­zah­lung verur­teilt. Gegen das Urteil gingen die Beklag­ten in Berufung. Doch das OLG Köln bestä­tigte ledig­lich das Urteil der Vorin­stanz.

Was genau haben sich die Ärztin­nen also zu Schul­den kommen lassen?

Was führte zum Tod der Patien­tin?

Vor Gericht konnte festge­stellt werden, dass die Ärztin­nen während der ersten Opera­tion grob fehler­haft das destil­lierte Wasser als Spüllö­sung einge­setzt hatten.

Ein Sachver­stän­di­ger konnte überzeu­gend darle­gen, dass es zum Basis­wis­sen aller Ärzte zähle, dass Wasser nicht in die Blutbahn gelan­gen dürfe. Er wies darauf hin, dass Wasser im Blutkreis­lauf einen lebens­ge­fähr­li­chen Zerfall von roten Blutkör­per­chen zur Konse­quenz hätte. Jeder Medizin­stu­dent lerne das schon früh. Für den Sachver­stän­di­gen war der Einsatz von destil­lier­tem Wasser also unver­ständ­lich.

Da die Gefah­ren vor der Nutzung von destil­lier­tem Wasser bei solch einem Eingriff den behan­deln­den Ärztin­nen bekannt gewesen sein sollten, habe das Landge­richt richti­ger­weise einen groben Behand­lungs­feh­ler angenom­men.

Bei Zweifeln besteht Remons­tra­ti­ons­pflicht

An der Haftung der Ober- und Assis­tenz­ärz­tin ändere auch der Umstand nichts, dass die beiden nur nach Anwei­sung handel­ten.

So hieß es wohl inner­halb der Klinik, dass bei der Verwen­dung des spezi­el­len Behand­lungs­ge­rä­tes, das während der Opera­tion zum Einsatz kam, immer destil­lier­tes Wasser und keine salzhal­tige Lösung verwen­det werden sollte, um eine Korro­sion des Geräts zu vermei­den.

Dass es eine unmit­tel­bare Anwei­sung der ärztli­chen Leitung zur Nutzung von destil­lier­tem Wasser in der konkre­ten Situa­tion gegeben habe, konnten die Ärztin­nen vor Gericht nicht bewei­sen.

Zwar können sich die Ärztin­nen im Sinne einer verti­ka­len Arbeits­tei­lung grund­sätz­lich auf Anord­nun­gen verlas­sen, sollten ihnen aller­dings nicht immer blind folgen. Das bedeu­tet, wenn die Ärztin­nen erheb­li­che Zweifel an der Anord­nung gehabt haben, hätten sie Einspruch erheben müssen.

Da die beiden Ärztin­nen also grund­sätz­lich um die tödli­che Wirkung von destil­lier­tem Wasser Bescheid wissen sollten, hätten sie die Anwei­sung hinter­fra­gen und im Sinne ihrer Remons­tra­ti­ons­pflicht* Einspruch erheben müssen.

*Die Remons­tra­ti­ons­pflicht

Die Remons­tra­ti­ons­pflicht gilt unter anderem für Ärzte und verpflich­tet diese dazu rechts­wid­rige oder unange­mes­sene Befehle oder Anwei­sun­gen eines Vorge­setz­ten zu hinter­fra­gen. Wenn Ärzte Zweifel an der Korrekt­heit einer Weisung haben, müssen sie diese gegen­über den Vorge­setz­ten äußern. Bestä­tigt der Vorge­setzte die Anwei­sung dennoch, muss der Mitar­bei­ter sie grund­sätz­lich ausfüh­ren, es sei denn, sie verstößt gegen höher­ran­gi­ges Recht oder stellt eine Straf­tat dar.

Zweifel hatten sich nach eigener Aussage bei der Oberärz­tin – unabhän­gig von ihrem Wissen über die Gefah­ren von destil­lier­tem Wasser – bereits zu Beginn der Opera­tion ergeben, als sie festge­stellte, dass schon eine andere Spüllö­sung vorbe­rei­tet wurde, mit der sie nicht gerech­net hatte. Ihre Unsicher­hei­ten bei der Verwen­dung der richti­gen Spüllö­sung hätten sie dazu veran­las­sen müssen, die Opera­tion gar nicht erst zu begin­nen.

So hatte die Oberärz­tin zwar ihre Beden­ken in Bezug auf die Nutzung des destil­lier­ten Wassers gegen­über den Anwesen­den angespro­chen. Sie hat an ihren Beden­ken aber nicht festge­hal­ten und sie schon gar nicht gegen­über ihren Vorge­setz­ten geäußert – ihre Remons­tra­ti­ons­pflicht hat sie also nicht erfüllt.

Erschwe­rend kommt hinzu, dass die Oberärz­tin das aller­erste Mal mit besag­tem Behand­lungs­ge­rät arbei­tete und sich vorher nicht ausrei­chend über dessen Eigen­hei­ten vertraut gemacht hatte.

Auch Assis­tenz­ärz­tin muss haften

Ferner hat das Gericht festge­stellt, dass auch die Assis­tenz­ärz­tin eine Schuld in dem Fall trifft. Wie sie vor Gericht aussagte, hatte die Oberärz­tin ihr gegen­über gesagt, dass ein anderer Oberarzt die Verwen­dung des Behand­lungs­ge­räts mit Wasser als unbedenk­lich angese­hen habe.

Dennoch mutete das Gericht der Assis­tenz­ärz­tin zu, zumin­dest Fragen in Bezug auf die verwen­dete Spüllö­sung aufzu­wer­fen. So hätte sie gegen­über der anwesen­den Oberärz­tin remons­trie­ren müssen, vor allem da sie selbst auch keine unmit­tel­bare Anord­nung erhal­ten hatte und wusste, dass die Oberärz­tin noch nie zuvor mit dem Behand­lungs­ge­rät gearbei­tet hatte. Auf einen Wissens­vor­sprung der Oberärz­tin konnte sie sich also nicht verlas­sen.

Leitsatz

Verstößt ein von einem vorge­setz­ten Arzt angeord­ne­tes Vorge­hen, welches in der konkre­ten Behand­lungs­si­tua­tion von der bishe­ri­gen Praxis des Kranken­hau­ses abweicht, gegen medizi­ni­sches Basis­wis­sen und begrün­det es erkenn­bar erhöh­tes Risiken, aber keine Vorteile für den Patien­ten, so treffen sowohl einen Oberarzt als auch einen Assis­tenz­arzt eine Remons­tra­ti­ons­pflicht, bei deren Verlet­zung sie persön­lich haften.

Nach Einschät­zung des Sachver­stän­di­gen wäre der Tod der Patien­tin ohne die Verwen­dung von destil­lier­tem Wasser und dessen Eindrin­gen in den Blutkreis­lauf mit einer Wahrschein­lich­keit von mehr als 50 Prozent vermie­den worden.

Das OLG erach­tete eine Schmer­zens­geld­zah­lung in Höhe von 4.000 Euro für angemes­sen. Die Klinik und die Oberärz­tin müssen den vollen Betrag von 4.000 Euro als Gesamt­schuld­ner zahlen. Das bedeu­tet, dass jeder von ihnen für den gesam­ten Betrag haftet, aber die Kläger die Summe nur einmal erhal­ten. Falls einer zahlt, ist der andere von dieser Zahlung befreit. Die Assis­tenz­ärz­tin haftet nur für 2.000 Euro. Insge­samt erhal­ten die Angehö­ri­gen der verstor­be­nen Frau also nur die 4.000 Euro Schmer­zens­geld.

FAQ

1. Was ist die Remons­tra­ti­ons­pflicht für Ärzte?

Die Remons­tra­ti­ons­pflicht verpflich­tet Ärzte, fragwür­dige oder poten­zi­ell gefähr­li­che Anwei­sun­gen von Vorge­setz­ten kritisch zu hinter­fra­gen. Wenn eine ärztli­che Anord­nung gegen medizi­ni­sches Basis­wis­sen oder Patien­ten­wohl verstößt, muss der Arzt Beden­ken äußern und gegebe­nen­falls Wider­spruch einle­gen. Diese Pflicht dient dazu, Behand­lungs­feh­ler zu vermei­den und die Patien­ten­si­cher­heit zu gewähr­leis­ten.

2. Wann müssen Ärzte aufgrund der Remons­tra­ti­ons­pflicht eine Anwei­sung hinter­fra­gen?

Ärzte müssen eine Anwei­sung hinter­fra­gen, wenn sie erkenn­bar gegen medizi­ni­sche Standards verstößt oder für den Patien­ten ein erhöh­tes Risiko ohne klaren Nutzen darstellt. Insbe­son­dere bei lebens­ge­fähr­li­chen Folgen – wie in einem Fall, in dem destil­lier­tes Wasser in die Blutbahn gelangte – besteht eine Pflicht zum Einspruch. Erfolgt kein Wider­spruch, kann dies als Behand­lungs­feh­ler gewer­tet werden, der zu einer persön­li­chen Haftung führt.

3. Welche Konse­quen­zen drohen Ärzten bei einer Verlet­zung der Remons­tra­ti­ons­pflicht?

Wird die Remons­tra­ti­ons­pflicht verletzt, kann dies zu einer persön­li­chen Haftung des Arztes führen, insbe­son­dere bei groben Behand­lungs­feh­lern. Gerichte können Schmer­zens­geld zuspre­chen, wenn nachweis­lich ein Patien­ten­scha­den durch unter­las­se­nen Wider­spruch entstan­den ist. Zudem kann eine Missach­tung der Remons­tra­ti­ons­pflicht berufs­recht­li­che und diszi­pli­na­ri­sche Folgen haben.

Quelle: OLG Köln – 5 U 69/24