Behandlung von Querschnittlähmung
Rechtsdepesche: Sehr geehrter Herr Bergmann, Sie arbeiten als Intensivpflege-Fachmann im renommierten Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) im luzernischen Nottwil, einer Spezialklinik für Menschen mit Querschnittlähmung. Wo werden in der Klinik die Schwerpunkte gesetzt?
Sebastian Bergmann: In Nottwil setzen wir konsequent auf eine ganzheitliche, multidisziplinäre Behandlung von Menschen mit spezifischen Einschränkungen in ihren Alltagsaktivitäten. Das bedeutet, wir begleiten Menschen mit einer Rückenmarkverletzung, mit Wirbelsäulenverletzungen oder mit querschnittähnlichen Erkrankungen, um ihnen eine bestmögliche Rehabilitation zu bieten und sie mit Hilfsmitteln auszustatten, damit sie ihr Leben so selbstbestimmt und selbstständig wie möglich gestalten können.
Wir betreuen auch Patientinnen und Patienten mit querschnittähnlichen Krankheitsbildern wie dem Guillain-Barre-Syndrom (GBS) oder der amyotrophen Lateralsklerose (ALS).
Wir begleiten ebenso Menschen im Rahmen der Rehabilitation nach Critical-Illness-Erkrankungen, die durch lange Liegedauern auf anderen Intensivstationen in der Schweiz ausgelöst wurden. Einen hohen Stellenwert hat zudem die Beatmungsmedizin.
Wir versuchen, den betroffenen Menschen die Steuerung der neuromuskulären Muskulatur wieder zu ermöglichen, um sie von der Beatmungsmaschine entwöhnen zu können.
Wundversorgung nimmt bei Querschnittslähmung großen Raum ein
Rechtsdepesche: Welchen Stellenwert nimmt die Wundversorgung im sakralen Bereich bei den Querschnittspatienten ein?
Bergmann: Die Wundversorgung birgt bei den Querschnittspatientinnen und ‑patienten ein großes Problempotenzial. Die Betroffenen spüren nicht wie Sie und ich, wo und wie sie sitzen.
Sie haben oft nicht mehr die Rezeptoren, die gesunde Menschen zur regelmäßigen Umpositionierung veranlassen. Dies führt häufig zu Hautdefekten im Bereich des Darmbeinkamms und der glutealen Sitzbeine mit oftmals rezidivierenden Infektionen und Hautdefekten.
Ich schätze, dass 60 bis 70 Prozent unserer Querschnittspatientinnen und ‑patienten mindestens einmal im Leben einen Dekubitus erleiden, der behandlungspflichtig ist oder operativ saniert werden muss. Manche kommen auch mehrfach wegen operativen Sanierungen im Gesäßbereich zu uns.
Rechtsdepesche: In der medizinischen Fachliteratur wird immer wieder auf Sekundärkomplikationen als Behandlungsproblem hingewiesen. Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Bereich?
Bergmann: Die Sekundärkomplikation ist ein wichtiges Thema. Beispielsweise war bei uns ein Patient, der am Sitzbein einen Dekubitus vierten Grades hatte, der operativ saniert werden musste. Diese Prozedur und die anschließende plastische Operation erforderten seine Immobilisierung – für vier bis sechs Wochen.
Stellen Sie sich vor, Sie müssten nur zwei Tage am Stück im Bett liegen und dürften sich nicht bewegen. Und dieser Betroffene musste vier bis sechs Wochen Immobilität erleben, nur bewegt durch das Pflegepersonal und nur in bestimmten Richtungen. Das heißt, man dreht die Person auf ihrer Achse.
Die operierten Bereiche dürfen nicht gedehnt werden, um das Operationsergebnis nicht zu gefährden und damit die Wundheilung einsetzen kann.
Die lange Liegezeit ist mit einem enormen Verlust an Muskelmasse verbunden und der Querschnittspatient büßt dadurch seine Fähigkeiten zum Transferieren ein. In so einer Situation die Motivation nicht zu verlieren, ist eine besondere Herausforderung. Hinzu kommen die Beeinträchtigungen durch medizin- und hauttechnische Probleme sowie infektiöse Vorfälle.
Zu bedenken ist auch die Einschränkung der Freiheit durch eine sechswöchige „Fesselung“ ans Bett mitsamt ihren psychischen Begleiteffekten. Erschwerend hat dieser Patient – und das ist kein Einzelfall – auch noch eine Pneumonie erlitten, die den erneuten Einsatz von Antibiotika erforderte, wodurch sich die Zeit der Bettruhe zusätzlich verlängerte.
Sie sehen: Durch die Grunderkrankung beziehungsweise durch die Art der Behandlung ergeben sich ganz schnell Sekundärprobleme, die zu neuen Primärproblemen werden.
Moderne Stuhldrainagen helfen
Rechtsdepesche: In diesem Zusammenhang spielt bestimmt auch das sogenannte „Stuhlmanagement“ eine bedeutsame Rolle. Welche Maßnahmen können zur Vermeidung von Kontaminationen ergriffen werden?
Bergmann: Glücklicherweise stehen auf dem Hilfsmittelmarkt moderne Stuhldrainagesysteme zur Verfügung. Wir testeten in der Praxis unterschiedliche Produkte von verschiedenen Herstellern und konzentrierten uns bei der Auswahl auf den wesentlichen Zweck von Stuhldrainagesystemen bei Patientinnen und Patienten mit Wunden im sakralen Bereich, also auf das Verhindern der Wundkontamination.
Die Dekubitusbehandlung von Querschnittspatienten darf nicht aufgrund von Ausscheidungen zusätzlich in die Länge gezogen werden. Das kontrollierte Ableiten des Stuhls nimmt daher einen hohen Stellenwert in diesem speziellen Setting der Wundheilung ein. Daneben erleichtern moderne Stuhldrainagen auch die pflegerische Versorgung – ein gesundheitsökonomischer Aspekt, den man auch im Blick haben sollte.
Rechtsdepesche: Die Darmperistaltik ist bei vielen Querschnittspatienten eingeschränkt, wodurch der Stuhl nicht wie bei gesunden Menschen weitertransportiert wird. Diese Trägheit führt zur Stuhlverfestigung, zur Obstipation. Was kann dagegen unternommen werden?
Bergmann: Auf dem Campus Nottwil können wir auf die Expertise unserer Kolleginnen und Kollegen aus der Forschung zurückgreifen. Und intern haben wir im interprofessionellen Team verschiedene Möglichkeiten zur Stuhlrehabilitation entwickelt. Solche Themen sind nie eine One-Man-Show, sie müssen gemeinsam mit Fachexpertinnen und ‑experten aus den Bereichen Ernährungsberatung, Physiotherapie und Ergotherapie abgestimmt werden.
Wir überlegen, was für eine betroffene Person in ihrer aktuellen Situation die optimale Ernährung ist, um den Darm aktiv zu halten. Wie wirkt sich die Pharmakotherapie auf den Stuhlgang aus? Welche Bewegungen kann eine bestimmte Patientin im Bett machen? Wie können wir den Darm stimulieren? Wie viel Energie, Eiweiß und Glucose braucht ein Patient?
Der Stuhlträgheit und der Obstipation begegnen wir auch mit Darm- und Colon-Massagen. Äquivalent besprechen wir mit den Betroffenen, den Stuhl für die Zeit der Heilung therapeutisch zu modulieren, ihn also flüssiger zu machen, damit es nicht zur Obstipation kommt und der Ileus vermieden wird. Dieser ist eine häufige Gefahr bei einem Querschnitt.
Rechtsdepesche: Das heißt, der Stuhl muss fließfähig gemacht werden.
Bergmann: Genau.
Kontaminationsfreie Stuhlableitung wichtig
Rechtsdepesche: Und wenn der Stuhl dann fließfähig ist, muss er am Ende dann natürlich auch frei von Kontaminationsgefahren abgeleitet werden. Wie ist dies sicherzustellen?
Bergmann: Die kontaminationsfreie Stuhlableitung ist eine große Herausforderung. Wir sind dankbar, dass uns die Industrie hierbei mit verschiedenen Produkten ausrüstet.
Als international renommiertes Paraplegiker-Zentrum werden wir von vielen Seiten unterstützt, dies gilt für die medizintechnologische Forschung im Katheterbereich ebenso wie für die Beratung in der Produktanwendung. Zunächst testeten wir Stuhldrainagesysteme der ersten Generation, die Ein-Ballon-Systeme, die im Enddarm platziert werden und ihn blockieren.
Diese Produkte waren nicht optimal für unseren Bedarf. Es kam zu Inkontinenzen, unkontrollierten Stuhlaustritten und unerwünschten Wundkontaminationen. Durch kontaminierte Stühle sind die Nähte bei chirurgisch versorgten Wunden aufgebrochen. Man spricht hier von einer Nahtdehiszenz.
Schließlich landeten wir bei den Herstellern von Stuhldrainagesystemen der zweiten Generation, mit denen wir gerne zusammenarbeiten, weil sie tolle Produkt vertreiben. Ich bin als verantwortlicher Mitarbeiter für das Kontinenzmanagement der Intensivstation froh darüber, dass ich die Stuhldrainagen der zweiten Generation benutzen darf.
„Wir bekommen jeden Stuhlgang flüssig“
Rechtsdepesche: Unter ihren Patienten befinden sich sicherlich auch solche mit einem schlaffen oder sogar spastischen Tonus des Schließmuskels. Ist dies für den Einsatz der modernen Stuhldrainage-Systeme, wie zum Beispiel dem Katheter-Produkt „high tec“ relevant?
Bergmann: Ja. Bei einer Querschnittslähmung sind oft die Reflexe des Schließmuskels, Beckenbodens und der Stuhlausscheidung gestört. Die notwendige Stuhlmodulation für die Stuhlableitung durch die „high tec“-Systeme der Advanced Medical Balloons GmbH ist kein Problem.
Einfach gesagt: Wir bekommen jeden Stuhlgang so flüssig, dass er wie Wasser ist. Das ist aber nicht das Ziel. Wir orientieren uns bei der Stuhlmodulation an der evidenzbasierten Literatur in Wissenschaft und Forschung, zum Beispiel an der Bristol-Stuhlformen-Skala („Bristol Stool Scale“), einer über Form und Beschaffenheit des menschlichen Stuhls.
Hier wird auch definiert, welche Konsistenz mit den Stuhlableitungssystemen vereinbar ist. Der schlaffe Sphinkter von Patientinnen und Patienten mit einer Querschnittlähmung ist also durchaus geeignet für das «high tec»-System. Das gleiche gilt auch bei einem spastische Sphinkter Allerdings sollte für Menschen mit dem spastischen Sphinkter die Stuhlmodulation eine andere sein: Aufgrund der Spastik ist das Lumen im Analgang geringer als bei einem schlaffen Tonus.
Demensprechend sollte bei Querschnittspatientinnen und ‑patienten mit einem spastischen Tonus mehr Augenmerk auf die Verflüssigung des Stuhlgangs gelegt werden beziehungsweise das Darmmanagement situativ engmaschig evaluiert werden.
Rechtsdepesche: Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Zur Person: Sebastian Bergmann (48) ist Experte für Intensivpflege, Fachberater Kontinenz und im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) seit 10 Jahren tätig.