Etliche Millionen Bundesbürgerinnen und ‑bürger nehmen dauerhaft mehrere Medikamente parallel zueinander ein. Doch nicht immer ist klar, ob die verschiedenen Arzneimittel überhaupt miteinander harmonieren – oder in ihrer Zusammenwirkung sogar Schäden verursachen.
Die Gefahr ist dramatisch unterschätzt, und viel zu wenig im Bewusstsein vor allem von Patienten, aber auch Ärzten und Apothekern: Laut einer Schätzung des Bremer Gesundheitsforschers Gerd Glaeske, den die „Süddeutsche Zeitung“ bereits 2010 zitierte, ist die sogenannte Polypharmazie Ursache für 16.000 bis 25.000 Todesfälle in Deutschland jährlich. In der Spitze könnte also jeder 40. Todesfall hierzulande ursächlich mit den Wechselwirkungen der Arzneimittel zu tun haben.
Zum Vergleich: Die Zahl der Unfallopfer lag 2020 in Deutschland bei „nur“ noch 2.724 (in den Vor-Corona-Jahren 2017 bis 2019 bei knapp über 3.000)! In der Zwischenzeit ist Deutschland weiter deutlich gealtert; die Lebenserwartung gestiegen – was den Medikamenten-Bedarf weiter erhöht hat.
Fast ein Viertel der Bevölkerung nimmt täglich mindestens drei Medikamente
Von Polypharmazie – auch Poly- oder Multimedikation genannt – spricht man, wenn chronische Patienten mindestens fünf verschiedene Arzneimittel dauerhaft einnehmen. Laut eine weiter gefassten Definition genügen drei parallel eingenommene Medikamente, um bereits von einer Polypharmazie zu sprechen.
Das Phänomen ist dabei weiter verbreitet als man denkt: Laut einer Erhebung der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) nahmen im Jahr 2019 rund 9 Prozent der Bevölkerung 3 Medikamente nebeneinander ein. Bei 5 Prozent waren es bereits 4 Arzneimittel, bei weiteren 9 Prozent sogar 5 Medikamente oder mehr. Je nach gewählter Definition betrifft Polymedikation damit folglich 9 bis 23 Prozent der Bevölkerung!
Wenig verwunderlich ist die zunehmende Medikation im Alter: Laut einer weiteren Pressemeldung des ABDA von März 2021 nehmen 7,6 Millionen Bundesbürger ab 65 Jahren nehmen täglich fünf oder mehr Arzneimittel ein. In der Altersgruppe zwischen 75 und 80 Jahren braucht jeder Dritte sogar mehr als acht Medikamente. Man denke nur an die oftmals prall mit Tabletten und Kapseln gefüllten Medikations-Dispenser in Senioren- und Pflegeheimen…
Häufiges Problem: Ein Arzt weiß nicht, was der andere tut
Um die Zahl der möglichen Wechselwirkungen zu berechnen, gibt es eine einfache Formel: I = (n2-n)/2. Dabei steht I für die Zahl der möglichen Interaktionen, n für die Anzahl der dauerhaft eingenommenen Medikamente. Bei drei parallel zueinander genommenen Medikamenten sind drei Interaktionen möglich (Medikament A mit B, Medikament B mit C, Medikament A mit C). Bei fünf Medikamenten steigt die Zahl der zu prüfenden Interaktionen bereits auf zehn, bei zehn Arzneimitteln sind es 45!
Was kaum jemand der Betroffenen weiß: Seit Oktober 2016 haben Patienten, die dauerhaft drei oder mehr verordnete Medikamente einnehmen, beim Arztbesuch Anspruch auf den Ausdruck eines Medikationsplans. Ein weiteres Problem ist das häufig parallele Aufsuchen von Ärzten – das sogenannte Ärzte-Hopping. Hierbei kann der Überblick der einzelnen Mediziner über das Medikations-Regime des Patienten verloren gehen.
Zentralisierte Medikationsdaten als Mittel gegen die Polypharmazie
Eine weitere Abhilfe könnten zentral abrufbare Medikationsdaten der Patienten sein, etwa über vernetzte Gesundheitssysteme. Ein elektronischer, automatisch gepflegter Medikationsplan ist hier ein vielversprechender Ansatz. Oder eine Bündelung bei der Apotheke, wie sie ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening vorschlägt: Sie sei oft „die einzige Instanz, die einen vollständigen Überblick über die aktuelle Selbstmedikation eines Patienten habe“.