Die schlechten Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte sind nichts Neues. Doch in der Pandemie ist die Belastung des Gesundheitspersonals noch einmal deutlich angestiegen. Viele Pflegerinnen und Pfleger verlassen die Branche, weil sie die Hoffnung auf eine Verbesserung aufgegeben haben. Ist der Pflexit noch zu stoppen?
Schon im letzten Sommer war der Trend klar: Zwischen Anfang April und Ende Juli 2020 haben laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit 9.000 Pflegekräfte ihren Beruf aufgegeben. In einer Branche, deren Arbeitsbedingungen schon vor Corona zu extrem hohen Burnout-Raten führten, hat die Zusatzbelastung durch COVID-19-Erkrankungen für viele den Ausschlag gegeben, sich beruflich neu zu orientieren. Und der Trend hält an: Laut Umfragen denken etwa ein Drittel der Beschäftigten über einen Wechsel nach.
Pflexit ist kein neues Thema
Die Krise im Gesundheitswesen ist dabei keineswegs neu. Denn der Personalmangel bei Pflegekräften besteht seit Jahren. Schon 2018 hat eine Erhebung der Gewerkschaft Ver.di gezeigt, dass die Anzahl der unbesetzten Stellen das Ausmaß des Personalmangels grob unterschätzt: Um eine angemessene Betreuung der Patienten sicherzustellen, hätte es bereits 2018 allein in Krankenhäusern 22 Prozent mehr Stellen im Pflegebereich geben müssen – also gut ein Fünftel. Ver.di-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler kritisierte damals, dass das System nur durch die Überlastung der Beschäftigten funktioniere, die durch hohen persönlichen Einsatz versuchen, den Personalmangel auszugleichen. Das Absurde an dieser Situation ist, dass so das Engagement der Pflegekräfte selbst über die schlechten Arbeitsbedingungen hinwegtäuscht.
Denn obwohl der Pflegenotstand seit Jahren auch in der Politik immer wieder thematisiert wird, hat sich die Arbeitssituation für das Gesundheitspersonal nicht verbessert. Viele Twitternutzer machen unter Hashtags wie #pflexit oder #pflegteuchdochselbst ihrer Frustration Luft:
Bei uns in der Abteilung überlegen 1/3 nach der Pandemie zu kündigen.
Und das sind nur die, die darüber gesprochen haben.
Was den Leuten im Gesundheitswesen angetan wurde ist nicht mit Geld aufzuwiegen.
Protonenpumpe (@protonenpumpe)
Lange Jahre ist es bekannt – nun machen immer mehr Pflegende ernst – man kann es ihnen nicht verdenken: #pflegteuchdochselbst #pflegxit
Das Versagen der Politik wird immer deutlicher (hier beliebigen Partei-Hashtag einfügen).
Keiner kümmert sich um den #Pflegenotstand!
OᒍᕮᗰIᑎᕮᕼ (@ojeminehh)
Wird die Pflegereform den Pflexit bremsen können?
Eine längst überfällige Reform der Pflege wurde schließlich am 2. Juni 2021 beschlossen. In dieser ist ein einheitlicher Personalschlüssel vorgesehen, der den Einrichtungen dabei helfen soll, mehr Personal anzustellen. Ein weiterer Punkt ist die Bezahlung: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte außerdem im Gespräch mit WDR5, dass für Pflegekräfte dauerhaft eine bessere Bezahlung erreicht werden soll. Auch Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, betont, dass es nicht nur um die Entlastung der Pflegebedürftigen, sondern auch um die Pflegekräfte geht.
Die Wirkung der Pflegereform bleibt abzuwarten. Allerdings gibt es bereits jetzt Kritik. Denn einen einheitlichen Tarifvertrag für Pflegekräfte gibt es bisher nicht. Ein entsprechender Entwurf war am Widerstand von Caritas und Diakonie gescheitert. So haben die Einrichtungen die Möglichkeit, einen regionalen Tarifvertrag zu wählen, was ihnen in Bezug auf die Bezahlung immer noch viel Spielraum lässt.
Statt Pflexit: Bessere Arbeitsbedingungen erstreiken?
Wie können also die Arbeitsbedingungen für Pfleger und Pflegerinnen nachhaltig verbessert werden? Und ist die Bezahlung der wichtigste Aspekt? Ludger Risse, Vorsitzender des Pflegerates NRW, sagte im WDR-Interview, dass für viele Pflegekräfte die Bezahlung zwar wichtig sei. Allerdings werde die Unzufriedenheit am meisten durch andere Faktoren bestimmt: „Wir brauchen Arbeitsbedingungen, unter denen wir gut arbeiten können.“ Wochenend- und Nachtdienste, wenig Eigenkompetenz und schlechte Planbarkeit durch chronische Unterbesetzung sind für viele Pfleger und Pflegerinnen schwerwiegendere Stressfaktoren als die Bezahlung. Risse setzt sich für eine stärkere Vernetzung der Betroffenen ein, um eine größere Schlagkraft bei der Durchsetzung der eigenen Interessen zu erreichen: „Wenn Pflege mal ein, zwei Tage streiken würde, das wäre eine Katastrophe.“
In Berliner Krankenhäusern wird das gerade vorgemacht. Seit Montag, dem 23. August 2021, wollen die Pflegekräfte an der Charité und den Vivantes-Kliniken drei Tage streiken. Die Gewerkschaft Ver.di fordert einen „Entlastungstarifvertrag“, der mehr Personal und höhere Löhne erforderlich macht. Der Ausgang ist unklar: Aktuell hat der Vorstand der Vivantes-Kliniken eine einstweilige Verfügung erwirkt, die die Fortsetzung des Streiks bei Vivantes verbietet. Laut Arbeitsgericht sei eine Notversorgung der Patienten nicht gegeben.
Umfrage: Ich pflege wieder, wenn …
Einen eher analytischen Ansatz verfolgt ein Gemeinschaftsprojekt der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer Saarland und des Institutes IAT der Westfälischen Hochschule/Ruhr-Universität Bochum. Im Rahmen des Projektes werden Teilzeitkräfte und Berufsaussteiger aus dem Pflegebereich dazu befragt, was sich konkret ändern müsste, damit sie in den Beruf zurückkehren oder ihre Stundenzahl erhöhen. Die Online-Umfrage unter ich-pflege-wieder-wenn.de ist anonym. Die ersten Ergebnisse sollen Anfang 2022 vorliegen.
Ein Bremer Pilotprojekt aus dem Mai 2021 hatte schon klare Tendenzen gezeigt: Unter den wichtigsten Bedingungen für einen Wiedereinstieg wurde die Wertschätzung durch Vorgesetzte genannt (68 Prozent), gefolgt von Zeit für qualitativ hochwertige Pflege (62 Prozent).