Kündigung – der Arbeitgeber setzt einen einfach vor die Tür! Wer Missstände an seinem Arbeitsplatz meldet oder öffentlich macht, wird aus Sicht seines Arbeitgebers ganz sicher nicht symphatischer. Ein Risko, dass der Wunsch nach einer Kündigung beim Arbeitgeber reifen könnte, ist das immer – auch heutzutage. Aber es hat sich in der Rechtsprechung etwas getan.
Zuletzt haben die Beschreibungen von Andrea Würtz große Aufmerksamkeit in Deutschland und auch international erregt: Die gelernte Kinderkrankenschwester deckte den Skandal rund um das Seniorenheim am Schliersee auf.
Sie sagt: „Mich stellt keiner mehr ein!“ Denn: Wer will schon eine „Nestbeschmutzerin“ in seinem Betrieb, so Würtz ein wenig verbittert im Gespräch mit der Rechtsdepesche. Sie versteht sich als sogenannte „Whistleblowerin“, die die Sache über ihr persönliches Schicksal gestellt hat.
Schutz vor Kündigung durch neues Gesetz
Zum Schutz von sogenannten „Whistleblowern“ wurde das Hinweisgeberschutzgesetz im Jahr 2023 in Kraft gesetzt. Das besagt im Kern folgendes:
Das neue Hinweisgeberschutzgesetz gilt seit Juli 2023. Jetzt müssen Unternehmen Meldekanäle für Hinweise zu Straftaten, Ordnungswidrigkeiten und Verstöße gegen das Gesetzt einrichten. Wer auf Unrecht am Arbeitsplatz hinweist, den schützt das Gesetz vor einer Schlechterbehandlung durch den Arbeitgeber
Konsequenzen für Altenpflegerin
Ein Fall, der schon etwas länger zurückliegt, aber deutlich aufzeigt, welcher Ärger und welche Konsequenzen vor der Einführung des neuen Gesetzes gedroht haben:
Eine Berliner Altenpflegerin, die in einem Altenpflegeheim tätig war, zeigte in den Jahren 2003 und 2004 mehrfach gegenüber ihrer Arbeitgeberin die Überlastung des Personals an: Es sei nicht möglich die Pflegebedürftigen ausreichend zu versorgen und für die Dokumentation der Pflegeleistungen stünde zu wenig Zeit zur Verfügung.
Auch der MDK stellte seinerzeit bei einem Kontrollbesuch wesentliche Pflegemängel, einen Personalmangel, unzureichende Pflegestandards und Dokumentationsmängel fest. Anwaltlich vertreten forderte die Altenpflegerin ihre Arbeitgeberin zur Darlegung der Maßnahmen zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Versorgung der Pflegebedürftigen auf.
Die Geschäftsleitung wies die Vorwürfe zurück, woraufhin die Altenpflegerin gegen die Verantwortlichen bei ihrer Arbeitgeberin Strafanzeige wegen besonders schweren Betruges erstattete.
Schwerpunkt des Vorwurfes war, dass die vereinbarten und bezahlten Pflegeleistungen wissentlich nicht erbracht und hierdurch die Pflegebedürftigen gefährdet würden. Ferner habe die Arbeitgeberin systematisch versucht, diese Probleme zu verschleiern, indem Pflegekräfte auch nicht erbrachte Leistungen dokumentieren sollten.
Kündigung folgt
Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen im Januar 2005 ein. Kurze Zeit später wurde die Altenpflegerin zunächst wegen wiederholter Erkrankungen ordentlich zum 31. März 2005 gekündigt.
Nachdem sie dann die Geschehnisse auf Flugblättern öffentlich machte, erhielt sie eine fristlose Kündigung, gegen die sie sich in der ersten Instanz erfolgreich vor dem ArbG Berlin zur Wehr setzte.
Die Darstellungen auf dem Flugblatt seien durch das Recht auf Meinungsfreiheit geschützt und stellten kein pflichtwidriges Verhalten im Sinne ihres Arbeitsvertrags dar (Az.: 39 Ca 4775/05).
In der Berufung befand das LAG Berlin hingegen die Kündigung für rechtmäßig, hob das erstinstanzliche Urteil auf und befand die Kündigung für wirksam (Az.: 7 Sa 1884/05). Durch die Strafanzeige habe die Altenpflegerin im Sinne von § 626 Absatz 1 BGB ihre Loyalitätspflichten grob verletzt. Die der Strafanzeige zugrunde liegenden Tatsachen hätten nicht erhärtet werden können und es habe vor der Anzeigenstellung keine innerbetriebliche Klärung stattgefunden.
Die Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundesarbeitsgericht blieb gleichfalls ohne Erfolg (Az.: 4 AZN 487/06).
Die Verfassungsbeschwerde, mit der die Altenpflegerin ihre Grundrechtsverletzungen durch die arbeitsgerichtlichen Urteile rügt, wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (Az.: 1 BvR 1905/07). Schließlich legte die Beschwerdeführerin eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein und rügte eine Verletzung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit aus Artikel 10 EMRK.
Entscheidung des EGMR
Die fristlose Kündigung hat das Recht der Beschwerdeführerin auf Meinungsfreiheit aus Artikel 10 EMRK unter dem Gesichtspunkt des sogenannten „whistleblowings“ verletzt.
Die deutschen Gerichte hätten zwischen dem legitimen Interesse des Arbeitgebers an der Wahrung seines Rufs und dem Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung nicht hinreichend abgewägt und keinen angemessenen Ausgleich geschaffen. Es besteht ein öffentliches Interesse an den von der Altenpflegerin offengelegten mutmaßlichen Pflegemängeln.
Dies insbesondere deshalb, weil die betroffenen Menschen mit Pflegebedürftigkeit möglicherweise nicht selbst auf die Missstände aufmerksam machen konnten.
Nach Auffassung des EGMR musste die Altenpflegerin bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation auch keine weitere, der Strafanzeige vorhergehende innerbetriebliche Klärung versuchen. Zwar habe sie ihrer Arbeitgeberin zum ersten Mal in der Strafanzeige besonders schweren Betrug vorgeworfen. Die vorhergehenden Hinweise auf den zugrunde liegenden Sachverhalt hatten dem genügt.
Fazit
Was, wenn die Angst vor einer Kündigung dominiert? Fest steht: An der Aufdeckung von Missständen im Pflegebereich besteht ein besonderes öffentliches Interesse. Außerdem ist die Ablehnung der Tatsachen für das Vorliegen einer „leichtfertigen” Falschanzeige nicht von den Hinweisgebern vorzutragen.
Dies alles ist nach der EGMR-Entscheidung von der Staatsanwaltschaft zu ermitteln. Anhaltspunkte für wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben sind nicht zu erkennen. Für die Richtigkeit der geäußerten Bedenken spricht auch, dass sich diese mit der Kritik des MDK decken. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihren Arbeitgeber seien zwar eingestellt worden.
Es kann jedoch von einer Strafanzeige erstattenden Person nicht verlangt werden, dass das Ergebnis der Ermittlungen vorausgesehen wird. Die Altenpflegerin durfte die Strafanzeige für erforderlich halten.
Auch vermochte der Hinweis, dass die Strafanzeige vor dem Hintergrund der MDK-Kontrollen unnötig seien, nicht zu überzeugen. Frühere MDK-Beanstandungen über die Bedingungen in dem Altenpflegeheim hätten ihr gezeigt, dass diese keine Verbesserungen bewirkten. Das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der Altenpflege in einer demokratischen Gesellschaft überwiegt letztlich das Interesse des betroffenen Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen.
Der Altenpflegerin wurde eine Entschädigung von 10.000 Euro und 5.000 Euro für die entstandenen Kosten zugesprochen (Artikel 41 EMRK).