Lange erwartet, endlich da: Die Pflegereform beziehungsweise das Pflegeunterstützungs- und ‑entlastungsgesetz (PUEG) hat die Zustimmung vom Bundestag. Aber die Reaktionen von Berufsverbänden, Kassen und Verbraucher sind vorwiegend negativ.
Das sind die Hauptkritikpunkte:
1. Die Erhöhung des Pflegegelds reicht nicht aus
Ab Januar 2024 wird das Pflegegeld um fünf Prozent erhöht, weitere Erhöhungen sind für 2025 und 2028 geplant. Nach Meinung vieler Experten ist das nicht nur viel zu spät – die letzte Erhöhung gab es 2017 – sondern auch zu wenig. Denn die Inflation, die allein im Jahr 2022 bei 7,9 Prozent lag, hat diese Erhöhung schon längst überholt.
Die Diakonie Deutschland beschrieb das Gesetz deshalb als Enttäuschung, nicht nur für die Pflegenden, sondern in erster Linie für Angehörige. „Es lässt vor allem pflegende Angehörige im Regen stehen, die nach wie vor die größten Pflegeleistungen schultern. Die Kostensteigerungen der letzten Jahre werden bei weitem nicht von der Pflegeversicherung ausgeglichen“, kritisiert Diakonie-Vorständin Maria Loheide.
Auch Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, sieht die Reform als unzureichend an: „Für alle pflegenden Angehörigen, die Tag für Tag ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und viele Einbußen in Kauf nehmen, ist diese Pflegereform eine große Enttäuschung und reine Augenwischerei. […] Die Nächstenpflege ist am Limit, weil sie seit Jahren von der Politik ignoriert wurde, und auch jetzt kommt sie wieder viel zu kurz.“
2. Keine nachhaltige Finanzierung
Die Soziale Pflegeversicherung ist der ausschlaggebende Faktor bei der Absicherung des deutschen Gesundheitssystems. Sie wurde 1995 eingeführt, um das Risiko bei Pflegebedürftigkeit zu reduzieren, war allerdings nie als Vollfinanzierung gedacht. Seit Jahren arbeitet sie nicht kostendeckend, das Jahr 2022 schloss sie mit einem Defizit von über 2 Milliarden ab. Die Pflegereform sollte ursprünglich für eine Finanzierung der Pflegeversicherung sorgen – allerdings hat die Ampel diese Entscheidung vertagt.
Carola Reimann vom AOK-Bundesverband mahnt an, dass die Soziale Pflegeversicherung in der Pandemie 5 Milliarden Euro ausgelegt habe, die sie nicht zurückbekäme. Die langfristige finanzielle Sicherung der Pflegeversicherung sei nach wie vor nicht gesichert.
Auch Thomas Moormann, Leiter Team Gesundheit und Pflege im Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), sieht die Finanzierung der Leistungen als Hauptproblem der Reform: „Der Pferdefuß: Alle Verbesserungen müssen von der sozialen Pflegeversicherung (SPV) selbst gegenfinanziert werden, also aus Beitragsmitteln der Pflegekassen. Es gibt keinen einzigen Steuer-Euro mehr, obwohl die SPV unverändert versicherungsfremde Leistungen in Milliardenhöhe stemmen muss.“
3. Beiträge steigen vor Leistungen – besonders für kinderlose Menschen
Die steigenden Beiträge für die Pflegeversicherung sind der Hauptkritikpunkt der Beitragszahler. Denn die höheren Beiträge werden schon ab Juli 2023 fällig, während die Leistungen erst ab 2024 steigen. Besonders eine Gruppe fühlt sich dadurch getroffen: Menschen ohne Kinder. Denn deren Beiträge steigen stärker an als die von Menschen mit Kindern.
Die Regierung beruft sich dabei auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2022: Demnach reicht es nicht, dass seit einem früheren Urteil die Kinderlosen höhere Beiträge zahlen müssen. Eltern mit mehreren Kindern müssten spätestens ab Ende Juli 2023 noch mehr entlastet werden. Das Gericht begründet dies damit, dass Familien je nach Kinderzahl viel mehr Kosten hätten und mindestens ein Elternteil bei der Berufstätigkeit zurückstecken müsse.
4. Koalition zieht nicht an einem Strang
Viele Stimmen sehen die Pflegereform als Notlösung: Christine Vogler, Präsidentin des deutschen Pflegerates, spricht von einer „notdürftigen Rettung des Systems“, die keine durchdachte politische Strategie erkennen lasse. Dabei war es ursprünglich Lauterbachs Plan, mit einer steuermittelfinanzierten Bürgerversicherung die Deckung aller Pflegekosten möglich zu machen.
Dagegen sperrte sich jedoch die FDP, so dass der Einsatz von Steuermitteln für das Pflegesystem es nicht in das Gesetz geschafft hat – die Reform muss kostenneutral umgesetzt werden. Diese Dynamik innerhalb der Koalition kritisiert auch Tino Sorge, Gesundheitspolitischer Sprecher der CDU: Die FDP hätte blockiert, Lauterbach könne sich nicht durchsetzen.
Der Bundesgesundheitsminister zeigte sich am Freitag im Bundestag alles andere als enthusiastisch: „Ich weiß, dass dieses Gesetz kein perfektes Gesetz ist, und wir werden weiter gehen.“ Die Reform sei ein Anfang, der in einem Jahr mit breiterer Finanzierung weiter ausgebaut werden könne. Man darf gespannt sein, ob sich das umsetzen lässt.