Rechtsdepesche: Zuletzt haben Pflegende aus NRW in Köln ihrem Unmut im Rahmen der Streiks Luft gemacht und auch behauptet, die Zustände (Personalmangel) in Unikliniken seien lebensgefährlich für die Patienten. Was sagen Sie als Vorsitzende des Errichtungsausschusses der Pflegekammer NRW dazu?
Pflegekammer: „Mangel an Kräften ist lebensgefährlich“
Sandra Postel: Der Mangel an Pflegefachpersonen ist lebensgefährlich! Da haben die Kolleginnen und Kollegen absolut recht. Die professionelle Pflege ist eine elementare Säule im Gesundheitswesen. Sie sorgt in Kliniken, Altenheimen und ambulanten Diensten für die Sicherheit der Patientinnen und Patienten sowie Bewohnerinnen und Bewohner und sichert die Betriebsabläufe.
Das führt uns der anhaltende Streik an den sechs Unikliniken in NRW drastisch vor Augen. Denn ohne Pflegefachpersonen in ausreichender Zahl, ist die Situation dramatisch. Die Kliniken arbeiten am Limit und oft auch darüber hinaus. Der Schritt zu einem Tarifvertrag Entlastung für die Pflegenden in den Unikliniken ist richtig. Eine Entlastung ist zwingend notwendig. Wir unterstützen daher jede Aktivität, die zur Entlastung und Verbesserung für die Pflegenden führt. Entlastungen, leistungsgerechte Gehälter und ausreichende Personalschlüssel müssen für alle Sektoren geschaffen werden.
Die Sicherstellung gleicher Arbeitsbedingungen in allen pflegerischen Einrichtungen ist essenziell, um eine weitere Abwanderung von Pflegefachpersonen zu verhindern.
„Pflegenotstand bleibt große Herausforderung“
Rechtsdepesche: Die CDU verspricht in ihrem Wahlprogramm eine Krankenhausplanung für NRW, eine Verbesserung der Ausbildung und Arbeitsbedingungen in der Pflege – was ist jetzt von der neuen Schwarz-Grünen Landesregierung zu erwarten?
Postel: Es ist wichtig, dass pflegepolitische Themen weit oben auf die politische Agenda kommen. Der Pflegenotstand bleibt eine große Herausforderung, hier besteht dringender Handlungsbedarf. Daher begrüßen wir es sehr, wenn die Landesregierung sich verstärkt für bessere Rahmenbedingungen einsetzen will. Denn es gibt viel Raum für Verbesserungen in der professionellen Pflege. Wir haben eine klare Erwartungshaltung an die neue Landesregierung, werden mit den politischen Akteuren in einen engen Dialog treten und die angestrebten Ziele mit konkreten Maßnahmen auch einfordern.
Mit über 200.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Pflege die größte medizinische Berufsgruppe in NRW. Daran kann keine Regierung vorbeischauen. Der Grundstein für ein enges Zusammenwirken ist gelegt und wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. So hält die Landesregierung im Koalitionsvertrag an der Einrichtung der Pflegekammer NRW fest. Wir werden unserem Auftrag nachkommen und unsere fachliche Expertise einbringen, beraten und begleiten und vor allem Entscheidungen auf den Weg bringen.
Eine unserer zentralen Aufgaben wird es sein, Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen einzubringen. Mit unserem breiten Knowhow und unserer langjährigen Erfahrung in der pflegerischen Versorgung werden wir schauen, wo Anpassungen nötig sind und wie diese umgesetzt werden sollten. Konkret wird die Pflegekammer NRW zum Beispiel Teil des Landesausschusses Krankenhausplanung sein und insbesondere dort aus pflegefachlicher Perspektive ihre Stimme vertreten. So können wir langfristig und nachhaltig Veränderungen bewirken, die das Gesundheitssystem für die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen nach vorne bringen und gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die Pflegefachpersonen verbessern werden.
„Wir wollen eine moderne, digitale Behörde sein!“
Rechtsdepesche: Eine Pflegekammer als bürokratischer Apparat braucht die Akzeptanz der Menschen, die durch sie vertreten werden. Die Kammer NRW verspricht größtmögliche Transparenz herzustellen sowie die Betroffenen über Struktur, Arbeitsweise und Vorteile der Verkammerung aufzuklären – wie soll das geschehen?
Postel: Kommunikation ist ein elementarer Baustein unserer Arbeit. Wir kommen der im Heilberufsgesetz (§ 6 HeilBerG) festgeschriebenen Aufgabe, die Kammerangehörigen und ebenso die Öffentlichkeit über unsere Tätigkeit und berufsbezogene Themen zu informieren, gerne nach. Dafür treten wir in den direkten Dialog mit unseren Mitgliedern und sind auf vielen kommunikativen Wegen erreichbar.
Wir verstehen uns als moderne und auch digitale Behörde und wollen beweisen, dass starres Behördendenken bei uns keinen Platz hat. Wir haben in kürzester Zeit ein umfangreiches Online-Mitgliederportal entwickelt, das stetig verbessert werden soll. Jeder erhält von uns eine Antwort auf seine Fragen. Wir sind per Telefon, per E‑Mail oder auch auf Social Media für Fragen und Anregungen erreichbar. Auf unserer Webseite und in Broschüren und Flyern klären wir umfassend über unsere Aufgaben und Ziele auf. Darüber hinaus informiert wöchentlich ein Newsletter über Wissenswertes und Neuigkeiten rund um den Kammeraufbau.
Mit dem ersten Newsletter sind wir im Oktober 2021 gestartet und haben nun insgesamt schon rund 40 Newsletter versendet. Viermal im Jahr landet unser Magazin „Pflege und Familie“ im Briefkasten der Mitglieder. Zudem veröffentlichen wir regelmäßig einen Podcast. Hier berichten Mitglieder des Errichtungsausschusses über Fakten und neuste Entwicklungen in der Kammerarbeit. Auch weitere Experten aus der Pflegebranche teilen hier ihr Wissen mit den Zuhörern. Vor einigen Tagen haben wir die 23. Episode veröffentlicht. Darüber hinaus sind wir mit vielen Infoveranstaltungen aktiv, sowohl digital als auch in Präsenz.
Bis heute haben wir bereits über 400 Infoveranstaltungen durchgeführt. Mit unserer Reihe „Kammer vor Ort“ haben wir zuletzt zahlreiche Einrichtungen in NRW besucht und über die Pflegekammer im direkten Gespräch informiert. Im August gehen wir wieder für zwei Wochen auf Tour. Es hat sich gezeigt, dass gerade der direkte Kontakt Missverständnisse aufklären und Mythen ausräumen kann. Daher werden wir weiterhin nah an den Pflegenden sein und auch nach der Kammergründung immer dort sein, wo noch Klärungs- und Informationsbedarf besteht. Wir unternehmen also wirklich eine Menge, um über unsere Arbeit aufzuklären und in den Austausch mit den Mitgliedern zu gehen.
„Mitgliedschaft für alle Mitglieder bis Mitte 2023 beitragsfrei“
Rechtsdepesche: Thema Mitgliedsbeiträge – wie lange wird auf diese verzichtet werden?
Postel: Diese Frage beschäftigt in der Tat viele Mitglieder. Lassen Sie mich das gerne etwas ausführlicher einordnen. Die Pflegekammer NRW ist solide finanziert. Der Landtag Nordrhein-Westfalen hat beschlossen, dass die Anschubfinanzierung bis Ende Juli 2027 gesichert wird. Durch die Förderung wird der Aufbau unserer Heilberufskammer erheblich erleichtert. Das ermöglicht einen guten Start, da sich die Pflegekammer so auf die fachlichen Aufgaben und die Interessenvertretung für die Pflege konzentrieren kann.
Gleichzeitig wird die Möglichkeit des Landtagsbeschlusses genutzt und die Mitgliedschaft für alle Mitglieder bis Mitte 2023 beitragsfrei gestellt. Über die Beitragsordnung werden dann die noch zu wählenden Mitglieder der Kammerversammlung beraten und entscheiden. Die Wahl der Kammerversammlung findet am 31. Oktober 2022 statt. Mit einer Entscheidung über die Höhe der Mitgliedsbeiträge ist dann im kommenden Jahr zu rechnen. Der Errichtungsausschuss hat bereits eine Empfehlung für einen Kammerbeitrag von fünf Euro monatlich ausgesprochen.
Darüber hinaus empfehlen wir, dass Mitglieder, die eine Berufsurkunde besitzen, aber nicht mehr im Pflegeberuf arbeiten (zum Beispiel Rentner), beitragsfrei gestellt werden. An dieser Stelle ist es mir noch einmal wichtig zu betonen, dass die zu erhebenden Mitgliedsbeiträge eine unabhängige Kammerarbeit garantieren und somit Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung bedeuten.
„Der Koalitionsvertrag bietet ein Versprechen“
Rechtsdepesche: Die Grünen wollen keine Großheime. Anstatt diese weiter auszubauen, setzen sie auf Alternativen wie Wohn- und Hausgemeinschaften mit einem umfassenden Pflegeangebot und neuen Versorgungsformen im Quartier – inwieweit werden Sie das mittragen, wie realistisch ist das?
Postel: Eine qualitativ hochwertige Versorgung ist nur durch gute Quartierslösungen und enge Einbindung der Pflegeexpertise wirklich zu sichern. Die Pflegewissenschaft und weitere Bezugswissenschaften wie die Gerontologie geben hierzu eine eindeutige Empfehlung. Nur mit diesen Ideen und Konzepten kann den wachsenden Herausforderungen begegnet werden.
Hier muss aus unserer Sicht also dringend ein Umdenken stattfinden und der vorliegende Koalitionsvertrag bietet ein gewisses „Versprechen“, welches die Politik jetzt einlösen kann. Wir werden in solchen Fragestellungen und Projekten unsere fachliche Perspektive einbringen.
„Ausbildung weiter voranbringen“
Rechtsdepesche: Die Grünen wollen zudem die Pflegeausbildung verbessern – auch dadurch, dass mehr Lehrkräfte die Auszubildenden unterrichten und die Praxisanleitungen in den Betrieben gestärkt wird – was passiert da und wie realistisch ist das in Zeiten des Mangels?
Postel: Der Koalitionsvertrag hat sich das Thema Pflegeausbildung ganz klar auf die Fahne geschrieben. Die Kammer ist ja direkt dadurch eingebunden, da sie die Grundlagen der Weiterbildung für die Praxisanleitenden stellen wird. Gute Pflegefachpersonen erhalten wir nur durch eine hochwertige Ausbildung. Wir wollen deshalb schon die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen begrüßen und einbinden. Daher streben wir zeitnah die freiwillige Mitgliedschaft der Auszubildenen in der Pflegekammer NRW an, um auch hier in den direkten Austausch zu kommen.
Praxisanleiter und Lehrende sind bereits Mitglieder in der Pflegekammer. Wir sind also auch hier sehr nah dran an den strukturellen Herausforderungen und wissen um die Schwierigkeiten in der Pflegeausbildung. Auch haben wir einen runden Tisch mit Bildungseinrichtungen initiiert. Die Übertragung von weiteren staatlichen Aufgaben an die Kammer, wie zum Beispiel die Übernahme von Prüfungsausschüssen, ist eine wichtige Fragestellung in diesem Diskurs.
Die zukünftige Pflegekammer NRW wird sich im Begleitgremium Pflegeberufereform der Landesregierung aktiv einbringen, um gemeinsam mit dem Gremium die pflegefachliche Ausbildung weiter voranzubringen.
„Wir regeln Fort- und Weiterbildung selbständig und verbindlich“
Rechtsdepesche: Die Strukturierung der Pflegeausbildung/-fortbildung/-weiterbildung ist ja auch eine zentrale Aufgabe der Kammer. Was halten sie von den derzeitigen Angeboten?
Postel: Es ist richtig, dass alle Ordnungen in Bezug auf die Fort- und Weiterbildung in der Pflege von der Pflegekammer erlassen werden. Die aktuellen Regelungen bilden nach meinem Dafürhalten nicht das gesamte Spektrum der Pflege ab. Es hier bedarf hier einer neuen Struktur, die maßgeblich von Pflegenden bestimmt wird. Zudem braucht es eine klarere Orientierung für die Pflegenden. Denn derzeit ist es oftmals schwierig, den Überblick bei den verschiedenen Angeboten zu behalten.
Das hören wir vielmals in unseren Gesprächen mit den professionell Pflegenden. Die zukünftige Pflegekammer NRW ist daher gesetzlich ermächtigt, die Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten selbständig und verbindlich zu regeln. Was die Ausbildungsordnung betrifft, so ist diese ja bundesgesetzlich geregelt.
„Wir müssen raus aus der Fremdbestimmung!“
Rechtsdepesche: Was wünschen Sie sich persönlich für die nahe Zukunft an Verbesserungen in der Pflege, was wäre für Sie das Wichtigste dabei?
Postel: Grundsätzlich müssen wir raus aus der Fremdbestimmung! Keine Entscheidung darf mehr über die Köpfe der Pflege hinweg getroffen werden. Deshalb müssen die Kammern beispielsweise in die Umsetzung von Pflegestellenförderprogrammen eingebunden werden. Und natürlich gehört die Pflege an die Krisentische, um Fehler wie in der aktuellen Pandemie zu vermeiden.
Raus aus der Fremdbestimmung heißt aber noch mehr! Die Chance der Kammer besteht für mich auch darin, eine Plattform zu schaffen, auf der Pflegende eine Haltung zu ihrem Beruf im gemeinsamen Dialog erarbeiten und diese in einer Berufsordnung auch selbst bestimmen. Wenn wir als professionell Pflegende besser lernen, mit einer Stimme zu sprechen, können wir auch mit den anderen Partnern im Gesundheitswesen besser in die Aushandlung gehen. Diese gemeinsame Stärke unseres Berufsstandes ist für mich der eigentliche grundlegende Schritt zur Verbesserung unserer Situation.
Rechtsdepesche: Vielen Dank für das Gespräch!