Rechtsdepesche: Frau Postel, Sie waren von 2016 bis 2020 bereits Vizepräsidentin der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz. Inwieweit hilft Ihnen diese Erfahrung bei ihrer Arbeit als Vorsitzende des Errichtungsausschusses der Pflegekammer NRW?
Sandra Postel: Diese Erfahrung hilft enorm. Ich kann Fehler aus der Erfahrung heraus vermeiden und kenne die Detailfragen, die in einer Kammererrichtung zu beachten sind. Zudem bringt unsere Geschäftsführerin, Anja Wiedermann, zusätzlich die Erfahrungen aus der Pflegekammer Niedersachsen mit.
Rechtsdepesche: Wie ist gegenwärtig der Stand beim Errichtungsausschuss der Pflegekammer NRW?
Postel: Wir arbeiten unsere „Errichtungsaufgaben“ stringent ab. Diese teilen sich in drei „Blöcke“ auf: Aufbau des Registers, Vorbereitung und Durchführung der Wahl sowie Organisation und Durchführung der konstituierenden Sitzung der Kammerversammlung. Aktuell sind wir im Zeitplan, auch wenn dieser von Beginn an wirklich knapp bemessen war. Um alles zu bewerkstelligen, bauen wir die Geschäftsstelle auf, die ihren Sitz in Düsseldorf Kaiserswerth hat. Die Registrierung der Mitglieder läuft auf Hochtouren. Hier hat im ersten Schritt die Meldung potenzieller Mitglieder durch die Arbeitgeber gut funktioniert. Somit verzeichnen wir aktuell über 230.000 potentielle Mitglieder in unserer Datenbank. Alle Personen wurden durch uns angeschrieben und informiert. Sukzessive melden sie sich zurück und vervollständigen die eigene Registrierung.
Pflegekammer NRW startet März 2022
Rechtsdepesche: Wann wird die Pflegekammer NRW voraussichtlich öffentlich in Erscheinung treten?
Wir sind als Errichtungsausschuss im Rahmen unseres Auftrages der Errichtung, durchaus politisch aktiv und sichtbar. Richtig los geht es selbstverständlich erst nach der Konstituierung der Kammerversammlung, ab dem 31. März 2022.
Rechtsdepesche: Welche Lehren können Sie aus dem Scheitern der Pflegekammern in Schleswig-Holstein und Niedersachsen ziehen?
Postel: Wir haben viele Kolleginnen und Kollegen, die sich spät mit dem Thema beschäftigen und Sorge vor der Verbindlichkeit einer Kammer haben. Dies hängt stark mit der Verfügbarkeit von Informationen zusammen. Wir haben gesehen, welche Folgen es in den beiden Ländern hatte, wenn aufgrund eines zu eng bemessenen Zeitrahmens etwas „abgewählt“ wird, weil man noch kein Vertrauen in das Konstrukt aufbauen konnte. Die Lehren, die wir ziehen, sind vor allem, Informationen über viele Kanäle verfügbar zu machen und gezielt in den Dialog mit der Berufsgruppe zu gehen. Wichtig ist zudem, die Politik in keiner Situation aus der Verantwortung zu nehmen. Eine Vollbefragung ohne tragenden Gegenvorschlag zur Kammer, wie Pflege im Kanon der Selbstverwaltungen in Deutschland eine Stimme erhalten kann, wird es mit uns nicht geben.
Politisches Engagement Mangelware
Rechtsdepesche: In großen Teilen der Pflege scheint das Verständnis für den Sinn und Zweck einer Pflegekammer NRW zu fehlen. So setzen viele diese mit einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband gleich. Was erzählen Sie denen?
Postel: Zunächst einmal, dass Berufsverbände und Gewerkschaften im „Dreiklang“ mit einer Pflegekammer relevante Partner im Ringen für eine bessere Pflege sind. Es ist fatal, wie wenig Kolleginnen und Kollegen politisch organisiert sind. Des Weiteren scheint offensichtlich ein Baustein im politischen Gefüge zu fehlen. Denn wäre mit beiden Institutionen, Verbänden und Gewerkschaften, genug Veränderungskraft im System, müssten wir dies doch in signifikanten Verbesserungen beobachten. Gerade das Fehlen solcher ist nicht im mangelnden Engagement der Kolleginnen und Kollegen begründet, das weiß ich. Aber ohne Regelungshoheit mit gesetzlicher Verankerung, können beide nicht die notwendige Verbesserung herbeiführen. Der Bochumer Bund und die Berufsverbände haben das verstanden und stellen sich strategisch auf, um mit und als Teil der Kammer stärker aufzutreten.
Rechtsdepesche: Gerade die Finanzierung der Pflegekammern sorgt immer wieder für Aufregung – Stichwort: Zwangsbeitrag. Gesundheitsminister Laumann hat bereits angekündigt, die Pflegekammer NRW mit 5 Millionen Euro zu unterstützen. Inwieweit hilft dies, die Gemüter zu beruhigen?
Mitgliederstärke als Vorteil
Postel: Der schuldenfreie Start der Kammer ist ein Bekenntnis der Politik zur Pflege. Das war notwendig, nicht zuletzt, weil wir noch kein „organisierter“ Beruf sind, sondern aktive Unterstützung brauchen, bevor die Vorteile der Kammer spürbar werden. Unser Vorteil ist unsere Mitgliederstärke! Der Errichtungsausschuss hat alle Vorbereitungen für einen Haushalt getroffen, welcher von der Kammerversammlung beschlossen werden könnte. Auf dieser Berechnungsgrundlage können wir mit Fug und Recht empfehlen, einen Beitrag von maximal 5 Euro im Monat anzusetzen. Seit wir diese Empfehlung ausgesprochen haben, hat sich die Unsicherheit deutlich verringert.
Rechtsdepesche: Wie wollen Sie die Kritiker der Pflegekammerbewegung – allen voran die Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände – von sich überzeugen?
Postel: Wir vernehmen in NRW den Gegenwind nur von der Gewerkschaft ver.di. Weitere Akteure bleiben neutral bis positiv. Zahlreiche Influencer aus der Pflege unterstützen die Pflegekammer auf den sozialen Medien. Unser Schwerpunkt der Aufklärungsarbeit liegt eindeutig bei unseren Mitgliedern.
Entscheidungen über die Köpfe der Pflegenden hinweg
Rechtsdepesche: Mit voraussichtlich 200.000 beruflich Pflegenden wird die Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen die größte ihrer Art sein. Was bedeutet das für die professionelle Pflege in Deutschland?
Postel: Eine erfolgreiche Kammererrichtung in NRW kann der Schlüssel für die Kammerbewegung in Deutschland sein. Aus diesem Grund setzen wir all unsere Energie in diese Chance, die nicht wiederkommen wird. Nach dem Scheitern in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein scheint es, als hätte die dortige Politik sich der beruflichen Pflege als Aufgabe komplett entledigt. Unmittelbar nach der Abschaffung der Kammer in Niedersachsen, kam es zum Aushebeln des Arbeitszeitgesetzes für Pflegende in Zeiten von Corona. Dabei blieb die vermeintlich gefundene Solidarität von Kammergegnern für die echten Nöte der Pflegenden komplett stumm. Entscheidungen über die Köpfe der Pflegenden hinweg dürfen nicht zur Routine werden. In NRW wird die Pflegekammer genau das sicherstellen und an kritischen Stellen intervenieren.
Rechtsdepesche: Fehlendes Geld, fehlendes Personal, fehlende Motivation – so fassen einige Beobachter den Pflegenotstand, der nicht erst seit der Coronapandemie existiert, zusammen. Was kann die Pflegekammer dazu beitragen, um die Situation der Pflege zu verbessern?
Postel: Die Pflegekammer NRW schafft nach innen Organisation und Vernetzung der Berufsangehörigen. Das ist sozusagen ein „weicher“ Faktor der Kammerarbeit; man kann sich an die Kammer wenden, auch anonym, um sich Hilfe zu holen. Der besonders wirksame Faktor ist die Übernahme der hoheitlichen Aufgaben des Staates. Das betrifft die Regelungshoheit einer eigenen Berufsordnung, also die Definition, was Pflege ist, und der Weiterbildungsordnung mit Festlegung, was Pflege kann. Haben wir erst diese zentralen Grundlagen unseres Berufes selbstständig geschaffen, können wir sie mit gutem Recht am Verhandlungstisch der Selbstverwaltung vertreten, auch im Kontext der Refinanzierung unserer Forderungen.
Zur Person: Sandra Postel ist gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Pflegepädagogin sowie Pflegewissenschaftlerin. Sie ist Vorsitzende des Errichtungsausschusses der Pflegekammer NRW.