Die Pflege in Deutschland steht vor gewaltigen Herausforderungen. Dabei ist das für die öffentliche Gesundheit drängendste und für den einzelnen Pflegebedürftigen gefährlichste Problem der sogenannte Pflegenotstand, also der Mangel an Pflegefachkräften. Die von unterschiedlichsten Schreckensmeldungen übersättigte Öffentlichkeit erfährt davon oft nur, wenn sich aus einer konkreten Situation die – zynisch gesprochen – medial perfekte Welle herstellen lässt, etwa ein Kind nicht auf der Intensivstation aufgenommen werden kann, weil diese unterbesetzt ist, und stirbt.
Solche Herausforderungen fallen jedoch selten einfach vom Himmel. Vielmehr hat die Gesundheits- und Sozialpolitik in den vergangenen Jahren schwere handwerkliche Fehler gemacht. Mit den letzten großen Reformen durch die Pflegestärkungsgesetze etwa wurden beinahe ausschließlich Verbesserungen für die Pflegebedürftigen umgesetzt, nicht aber für die Pflegekräfte. Damit wurde der zweite Schritt vor dem ersten gegangen. Plötzlich gab es einen deutlich ausgeweiteten Leistungsanspruch aus der Pflegeversicherung, aber niemanden, der diesen Anspruch hätte umsetzen können. Nach den Reformen gab es nämlich genauso wenig Pflegekräfte wie zuvor.
Vor diesem Hintergrund steigt in unserer älter werdenden Gesellschaft die Zahl der Pflegebedürftigen gegenüber der Zahl der vorhandenen und nachwachsenden Pflegekräfte so schnell, dass bereits heute an vielen Orten Unterversorgung besteht. Diese droht zum Dauerzustand zu werden und eine Pflege in Würde dramatisch zu erschweren, wenn nicht sogar unmöglich zu machen. Um das zu verhindern, reicht nicht eine einzige Idee, eine einzelne Maßnahme. Vielmehr muss ein ganzes Maßnahmenbündel umgesetzt werden. Grundannahme dabei ist: Ohne energisches, rasches Handeln lässt sich weder mit der gegenwärtigen noch mit der mittelfristig zu erwartenden Zahl an Pflegekräften die Zahl der Pflegebedürftigen angemessen versorgen.
Zur Problembewältigung tun sich zwei Optionen auf:
- Die Zahl der Pflegekräfte steigt
- Pflegekräfte werden ersetzt
Keine Option ist ein Weiter-so.
Option 1: Die Zahl der Pflegekräfte steigt
Diese Option bekommt medial die meiste Aufmerksamkeit. Mehr Pflegekräfte heißt Zuwanderung, inländische Rückkehrer, längere Verweildauer durch förderliche Arbeitsbedingungen, Zuwachs durch Akademisierung. Mehr Pflegekräfte bedeutet aber auch kreativer Aufbau von Ressourcen.
Im Fokus der Berichterstattung stand schon häufig die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. Diese bereitet mehr Probleme als erwartet. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu Konflikten in der Pflege beschreibt die Probleme in aller Offenheit:[1] Pflegefachkräfte aus Südeuropa und Südosteuropa übernehmen in ihren Herkunftsländern Managementaufgaben, die sie in Deutschland nicht ausführen dürfen. Vielmehr sollen sie hier Körperpflege durchführen und Essentabletts über die Etagen tragen, was sie für unter ihrem Niveau halten. Dadurch entsteht bei den in Deutschland ausgebildeten Pflegefachkräften der Eindruck, dass die neuen Kolleginnen und Kollegen gar nicht praxistauglich sind.
Tatsächlich gibt es in der Realität unterschiedliche Pflegekulturen. In den Herkunftsländern darf die Profession Pflege regelmäßig mehr selbst entscheiden. Gerade die erste Welle der Pflegefachkräfte aus Spanien war schockiert darüber, wie wenig sie hier selbstbestimmt arbeiten dürfen, wie vollständig jedenfalls in der Behandlungspflege alle wesentlichen Fragen von Ärzten beantwortet werden und nicht von ihnen. Es hilft niemandem, ausländische Pflegekräfte in hoher Zahl nach Deutschland zu locken, nur um dann zu sehen, wie sie hier den Beruf wechseln oder wieder in ihre Heimatländer zurückgehen, weil sie den Eindruck haben, zwar gut bezahlt, aber trotzdem unter Wert zu arbeiten.
Daran hat sich bis heute kaum etwas spürbar geändert. Solange die Profession Pflege in Deutschland nicht deutlich aufgewertet wird, und zwar mit konkreten Kompetenzen aus einer echten Übertragung von heilkundlichen Tätigkeiten, wird sich dieses Problem in allen Einrichtungen wiederholen. Modellvorhaben nach § 63 Absatz 3c SGB V sind für eine Lösung ungeeignet. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA) hatte sich bereits 2011 zu einer Übertragung bei den Diagnosen Diabetes Typ 1 und 2, Demenz, Chronische Wunden und Hypertonie durchgerungen.[2]
Demnach stellt der Arzt Diagnose und Indikation und entwirft einen Therapieplan, an den sich die Pflegefachkraft halten muss. Zu den möglichen Aufgaben der Pflegefachkraft sollten die Erfassung einer Polypharmazie im Alter, Ernährungsberatung und Hypertonieschulung, die Versorgung chronischer Wunden und die Verordnung von Hilfsmitteln gehören. Allerdings blieb nach dem Beschluss umstritten, was dieser eigentlich bedeutet. Während der GKV-Spitzenverband für eine Substitution plädierte, bezeichneten Kassenärztliche Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft und Bundesärztekammer das Ergebnis als Delegation. Auch deshalb ist auf diesem Feld seitdem praktisch nichts passiert.
Das bloße Anwerben ausländischer Interessenten ohne anerkannte Qualifikation und deren anschließende Ausbildung in Deutschland ist aufgrund der zahlreichen Unzulänglichkeiten des deutschen Aufenthaltsrechts zu missbrauchsanfällig. Sinnvoll wären Ausbildungsprojekte mit deutschem Curriculum und integriertem Sprachunterricht direkt im Ausland. Solche Projekte sind aber fast nie ohne Weiteres geeignet für Ambulante Pflegedienste mit ihren strukturell bedingt geringen Trägergrößen. Hierfür müssen Netzwerkprojekte initiiert werden, damit die Politik nicht allein großen Konzernen der Sozialwirtschaft die Türen etwa in China und Vietnam öffnet, sondern mit langem Atem auch kleine und mittelständische Unternehmen aktiv einbindet.
Einer der wichtigsten Gründe, woran die erfolgreiche Anwerbung ausländischer Fachkräfte in signifikanter Zahl bisher scheiterte, waren die langwierigen Anerkennungsverfahren auf Landesebene sowie die mindestens ebenso langwierigen Visa-Verfahren in den deutschen Botschaften. Als eine der konkreten Maßnahmen aus der Konzertierten Aktion Pflege wurde deshalb mit Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit in Saarbrücken die Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe (DeFa) gegründet.[3]
Wesentliches Motiv ist die Beschleunigung: Von der Anwerbung im Ausland bis zum Arbeitsbeginn in Deutschland dauert es aktuell nach Abschluss der Sprachausbildung bis zu 18 Monate, bis die Pflegefachkräfte vor Ort zur Verfügung stehen. Die DeFa übernimmt für eine Verwaltungsgebühr von nur 350 Euro pro Fall das komplette Antragsverfahren. Aktuell ist sie auf den Philippinen und in Mexiko vor Ort präsent. Ob diese wichtige Maßnahme Erfolg hat, wird sich erst zeigen, wenn ausländische Pflegefachkräfte nicht nur in großer Zahl in Deutschland angekommen, sondern hier auch im Beruf geblieben sind.
Da eine gelingende Anwerbung ausländischer Fachkräfte also schwerer ist als gedacht – gelingt es, Pflegekräfte zur Rückkehr zu bewegen? Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, hatte im Sommer 2018 mit seinem Positionspapier „Mehr PflegeKRAFT“ für Aufsehen gesorgt.[4] So sollten Rückkehrer eine Prämie von 5.000 Euro, Aufstocker von Teilzeit in Vollzeit 3.000 Euro und auch die Einrichtungsträger Prämien für das Finden und Binden von Pflegekräften erhalten.
In dem Papier wurde ein konkreter Vorschlag für förderliche Arbeitsbedingungen gemacht, nämlich ein zeitlich befristetes 80:20-Modell zur Unterstützung der Regeneration, das heißt 80 Prozent Arbeitszeit bei 100 Prozent Gehalt.
Ein weiterer Bestandteil des Papiers war, in den Vergütungsverhandlungen zwischen Kassen und Leistungserbringern Zuschläge für die Einführung innovativer Konzepte für attraktive Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Mit einem solchen Bonus könnten Maßnahmen eines Arbeitgebers für mehr Dienstplanstabilität und weniger Rückrufen aus dem Frei, mitarbeiterorientierte Arbeitszeitmodelle oder Gesundheitsförderung der Beschäftigten finanziert werden. Alle diese Vorschläge des Pflegebevollmächtigten stellen bis heute den Goldstandard für Maßnahmen zur Gewinnung zusätzlicher Pflegekräfte aus dem Inland dar. Leider hat in der Breite noch kein einziger Vorschlag Eingang in den Pflegealltag gefunden.
Neue Organisationsmodelle werden nur marginal helfen, die Zahl der Pflegekräfte zu steigern. Das aus den Niederlanden stammende Pflegemodell „Buurtzorg“ etwa verspricht eine Pflege ohne Pflegedienstleitung.[5] Bei aktuell jeweils ca. 15.000 ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland, von denen alle eine Pflegedienstleitung vorhalten müssen, würde man durch Buurtzorg theoretisch 30.000 hochqualifizierte Pflegefachkräfte in die direkte Pflege zurückgeben können. Praktisch wird das nicht gelingen, da zum einen wohl die wenigsten Verantwortlichen Pflegekräfte wieder in der direkten Pflege arbeiten wollen, zum anderen die Qualitätsprüfrichtlinien des MDK diesem Vorhaben diametral entgegenstehen und man nicht zuletzt auch bei Buurtzorg in hoher Zahl Fachkräfte als Coaches braucht. Was sehr wohl gelingen kann, ist eine neue Begeisterung von Pflegekräften für ihren Beruf aus diesen neuen Organisationsmodellen, wenn sie sich durch eine weitgehend selbstgestaltete Zusammenarbeit in den Teams überzeugen lassen, der Pflege erhalten zu bleiben.
Was kurzfristig für mehr Pflegekräfte sorgen könnte, wäre eine deutlich attraktivere monetäre Hinterlegung des Freiwillen Sozialen Jahres (FSJ). Bisher erhalten die „FSJler“ nur etwas über 300 Euro Taschengeld pro Monat, oft auch weniger. Das sollte ersetzt werden durch eine Vergütung analog der für die Pflege-Azubis, nämlich von deutlich über 1.000 Euro. Der größte vergessene Schatz aber sind die pflegenden Angehörigen. Diese sind oft die besten Pflegespezialisten. Sie könnten in Pflegekursen nach § 45 SGB XI oder bei Kontakten in den Pflegestützpunkten oder den Servicestellen der Kassen angesprochen werden, ob sie ihre ganz praktisch erworbenen Kenntnisse nicht auch professionell anwenden möchten, nachdem die Pflege ihrer Angehörigen beendet ist. Da diese informellen Spezialisten meist gar keinen Pflegebasiskurs brauchen, um im Minijob oder in Vollzeit in die Pflege einzusteigen, sollten sie zusätzlich über freiwillige modulare Qualifizierungsangebote begleitet werden.
Option 2: Pflegekräfte werden ersetzt
Keine der bisher betrachteten drei Optionen allein wird zu einem Ende des Pflegenotstands führen. Die Pflege wird sich deshalb auch der Frage stellen müssen, wie Pflegekräfte ersetzt werden können. Niemand möchte gern ersetzt werden. Deshalb führt oft schon die Fragestellung zu reflexhafter Ablehnung.
Welche konkreten Handlungsmöglichkeiten gibt es trotzdem? Eine große Chance liegt in der Aufgabenmigration, also der Übergabe von Verantwortung an andere Professionen. Das bereits erwähnte PpSG etwa sieht vor, dass im Rahmen des Pflegebudgets auch pflegeentlastende Maßnahmen durch die Kostenträger finanziert werden, zum Beispiel wenn Krankenhäuser Aufgaben wie die Essensausgabe oder den Wäschedienst vom Pflegepersonal auf andere Personalgruppen übertragen.
Mit der Aufgabenmigration ist eine Chance für den Pflegeberuf verbunden, sich seiner Gründe und Grenzen zu vergewissern: Ist die Pflege für alles zuständig? Gründet ihr Selbstbild wirklich auf Kümmern und Kuscheln? Was sind die ureigenen Aufgaben und was die der Angehörigen oder Betreuer, der Therapeuten oder Ärzte, der Beratungsstellen oder Kostenträger? Diese Diskussion beginnt in der Pflege gerade erst, öffentlich zu werden, und ist noch längst nicht entschieden.
Eine weitere Handlungsmöglichkeit besteht darin, Aufgaben von informellen Helfern übernehmen zu lassen. Zwar spielt das Ehrenamt in Deutschland aufgrund der nach wie vor hohen Erwartungshaltung an den Staat eine wesentlich geringere Rolle als etwa in den Vereinigten Staaten. Gerade deshalb besteht hier aber auch besonders viel Potenzial. Es muss ja nicht gleich ein Soziales Pflichtjahr für Frührentner sein. Statt immer neuer Investitionen in die sekundäre Pflegeinfrastruktur sollte zum Beispiel ganz praktisch und nahe am Leben die Ehrenamtspauschale unverzüglich von derzeit 720 Euro im Jahr auf den Wert der Übungsleiterpauschale von 2.400 Euro im Jahr angehoben werden. In diesem Zusammenhang sollte auch das Gemeinnützigkeitsprivileg entfallen. Bisher erhalten nur in einer gemeinnützigen Einrichtung mitwirkende Menschen eine solche Ehrenamtspauschale. Das wird schon längst nicht mehr der Wirklichkeit der Pflege gerecht, da gerade die professionelle Ambulante Versorgung ganz überwiegend durch private Pflegedienste erfolgt.
Die radikalste Variante einer Reform der informellen Pflege wäre eine Revolution: Das Pflegegeld nach § 37 SGB XI auf das Niveau der Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI zu erhöhen. Damit wäre, ähnlich wie beim Betreuungsgeldgesetz, die finanzielle Absicherung der Pflege durch Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn, die oft unbemerkt rund um die Uhr stattfindet, genauso hoch wie die Pflege durch professionelle Pflegekräfte. Selbst wenn dann die Prüfintervalle der Beratungsbesuche nach § 37 Absatz 3, 4 SGB XI verkürzt werden sollten, könnte Pflege in vielen familiären Settings so attraktiv werden, dass deutlich weniger Pflegekräfte in Anspruch genommen werden müssten.
Da nicht absehbar ist, dass die Politik zu einer solchen Revolution bereit wäre, ergeben sich die wichtigsten Handlungsmöglichkeiten aus Digitalisierung und Technisierung. Was bedeutet dabei Technisierung? Ganz wesentlich Robotik, AAL,[6] somatogene Sensorik und Telenursing. Die Pflegerobotik hat in Deutschland – anders als beispielsweise in Japan – noch kaum Fuß gefasst. Dabei könnte gerade sie die Arbeit der Pflegekräfte wesentlich erleichtern und durch entlastete Rücken zu entscheidenden arbeitsmedizinischen Verbesserungen führen. Tatsächlich jedoch werden innovative Techniken kaum genutzt und kommen zudem ganz überwiegend aus dem Ausland.
Für den Technologiestandort Deutschland ist diese fehlende Marktdurchdringung nicht nur ein Armutszeugnis, sondern existenzgefährdend. Woran liegt es? Die GKV sagt, es würden zu wenige Anträge gestellt. Die Anbieter sagen, die Antragsverfahren seien zu kompliziert.
Müssen also die Zulassungskriterien angepasst werden? Diese erfordern nach §§ 135, 139 SGB V bestimmte Eigenschaften und Qualitätsmerkmale, die offenbar dazu führen, dass es die meisten Produkte für die Technisierung der Pflege nicht ins Hilfsmittelverzeichnis schaffen. Allein die notwendige Angabe des Indikationsbereichs stellt für viele besonders interessante Produkte eine Hürde dar. Welcher Indikation etwa soll man die Kuschelrobbe „Paro“[7] zuordnen? Fachlich angemessen wäre in ihrem Fall als Indikation nicht Demenz, sondern die Pflegediagnose Soziale Deprivation. Dafür dürfte sich die GKV aber kaum zuständig fühlen. Zudem kostet diese Kuschelrobbe bei eBay nicht unter 3.000 Euro. Nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot haben die Kassen aber sogar die Pflicht, zwischen „notwendig“ und „nice to have“ zu unterscheiden.
Offensichtlich besteht neben dem Problem der Neutralität der Präqualifizierungsstellen an dieser Stelle auch ein grundsätzliches Aufmerksamkeitsdefizit: So wurden bis zu einer energischen Intervention des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, der damalige Staatssekretär Karl-Josef Laumann, die Inkontinenzprodukte im GKV-Hilfsmittelverzeichnis rund 23 Jahre lang nicht überarbeitet. Die ersten Real-Time-Messgeräte, die es schon eine gefühlte Ewigkeit auf dem Markt gibt, haben es erst 2017 in das bis vor kurzem noch 32.000 Produkte umfassende Hilfsmittelverzeichnis geschafft, wofür es erst mehrerer Urteile von Sozialgerichten bedurfte.[8] So kommt auch ein aktuelles Rechtsgutachten im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbands zu dem Schluss, dass es dringend gesetzlicher Änderungen bedarf, damit die technischen Assistenzsysteme tatsächlich Eingang in das Hilfsmittelverzeichnis finden.[9]
Obwohl theoretisch die Finanzierungsgrundlagen mit den §§ 40 Absatz 4 SGB XI und 33 SGB V bestehen, zeigt die Praxis bisher Strohfeuer statt Leuchttürme. Immer wieder werden nur Modellprojekte, Innovationszentren, Musterhäuser und Cluster angeschoben. Berühmtberüchtigtes Beispiel ist der Hausnotruf, der es bisher als einziges Produkt in den Pflegehilfsmittelkatalog geschafft hat. Das wird weder den Möglichkeiten der Pflegetechnik und Pflegeforschung noch den Anforderungen an eine Pflege für das 21. Jahrhundert gerecht. Das muss sich ändern.
Wird durch mehr Technik in der Pflege alles besser? Das hängt, wie immer bei Technik, vom Nutzer ab. Die antizipierten Risiken liegen auf der Hand: Pflegekräfte befürchten eine Verfremdung der Interaktion zwischen ihnen und den Pflegebedürftigen. Sie befürchten eine Deprofessionalisierung des Pflegeberufs, wenn automatisierte Datenerfassung und Datenauswertung die individuelle Krankenbeobachtung ersetzen. Und sie fragen sich, welche Stellung etwa die akademisierten Pflegefachleute in einer durchtechnisierten Arbeitswelt haben werden. Lässt sich ihre Tätigkeit künftig noch mit jener der Assistentinnen in Hauswirtschaft und körperbezogenen Pflegemaßnahmen zu einem Berufsbild zusammenfassen?
Pflegebedürftige befürchten eine Anonymisierung der Entscheidungen: Wer bestimmt beim GPS-Tracking den Aktionsradius des Geofencing? Sie befürchten eine mehr oder weniger subtile erzwungene Normierung ihres Verhaltens, denn Sensoren reagieren immer auf Abweichungen von Normwerten. Wer gern scharf isst und dadurch stark schwitzt, wird das vielleicht lassen, wenn immer wieder eine Pflegekraft ins Zimmer gelaufen kommt und nachsieht, ob alles in Ordnung ist.
Beide Gruppen, Pflegebedürftige wie Pflegekräfte, befürchten im Zuge eines permanenten Datenaustauschs eine permanente Überwachung aller Beteiligten. Das erhöht das Subversionsrisiko. Schon jetzt spielt in der Pflege die Überwachung im buchstäblichen Sinne eine nicht immer allen Beteiligten bewusste, aber erhebliche Rolle: Pflege besteht zentral auch aus einer möglichst lückenlosen Dokumentation von Auffälligkeiten, der Erhbung von Risiken und obligatorischen Beratungen. Technik in der Pflege kann sogar bedeuten, dass Pflegekräfte ihren Arbeitgeber wechseln, weil er ihnen zu technisch und zu wenig „menschlich“ geworden ist und sie sich das in den letzten Jahren vor der Rente nicht mehr antun wollen.
Gleichzeitig sind die sich aus einer Technisierung der Pflege ergebenden Chancen unbestreitbar: Gerade Telemedizin, etwa in Form der durch das PpSG im § 87 Absatz 2a SGB V zugelassenen „telemedizinischen Leistungen“ und „Videosprechstunden“, kann Pflegebedürftigen erheblichen Stress ersparen, indem deutlich weniger Krankentransporte erforderlich sind. Sie ermöglichen eine Entlastung der Pflegekräfte und ein Empowerment der Pflegebedürftigen. Und sie sind oft die einzige Chance auf einen Arztkontakt, wenn kein Arzt in der Nähe Hausbesuche macht und der Pflegebedürftige immobil ist.
Die Technisierung hat dabei das Potenzial, Pflegebedürftige zu emanzipieren und aus der personellen Abhängigkeit von den Pflegekräften zu befreien. Selbst wenn die entsprechenden Abfragen in den MDK-Prüfungen den Pflegediensten bundesweit sehr hohe Kundenzufriedenheit bescheinigen, sagen doch gleichzeitig viele Pflegebedürftige, dass sie gern ihre Ruhe hätten und nicht dreimal am Tag einen Einsatz vom Pflegedienst. Viele Pflegebedürftige haben ein erfülltes Privatleben mit vielen Terminen und möchten ungern auf die Pflegekräfte warten müssen, weil die im Stau stecken oder beim vorherigen Kunden einen Notfall hatten. Es ist also nicht auszuschließen, dass eine Pflege mit deutlich weniger Pflegekräften auf Akzeptanz bei den Pflegebedürftigen stoßen könnte, jedenfalls bei jenen, die sozial eingebunden leben. Auch aus diesen Setting-Aspekten ergeben sich wieder unmittelbare Fragen an das Selbstverständnis der beruflichen Pflege: Ist sie Ersatzfamilie? Ist sie wirklich „mehr als ein Beruf“, wie ein sehr eindrücklicher, bereits 5,6 Millionen mal aufgerufener, aber der Pflege gleichzeitig neue Lasten auflegender Spot der Bundesregierung suggeriert?[10] Reicht es nicht, endlich den Beruf so aufzuwerten, dass jede Pflegekraft auf jeder Party stolz erzählen kann, als was sie arbeitet?
Technik und Digitalisierung beschleunigen daneben ganz wesentlich den Datentransfer zu den unterschiedlichen Stakeholdern (Ärzte, Therapeuten, Angehörige, Kassen) und erleichtern die Interaktion der Pflegebedürftigen mit ihnen. Aus dem Umsetzungskatalog zum Onlinezugangsgesetz (OZG) folgt, dass ab Ende 2022 nicht nur Hilfsmittel, sondern auch Verband- und Arzneimittel und Leistungen wie Verhinderungspflege oder sogar Hilfe zur Pflege bei den Kostenträgern beantragt werden können. Hier kommen Digitalisierung und Technisierung sinnvoll zusammen, und es ist zu hoffen, dass den Kostenträgern tatsächlich bis dahin die Umsetzung gelingt. Technik in der Pflege führt ganz eindeutig zu einer Verbesserung der objektiven Sicherheit und des subjektiven Sicherheitsgefühls, zum Beispiel bei Sensormatten, die Stürze melden, Ortungssystemen und Erinnerungshilfen für die Medikamenteneinnahme.
Ebenso eindeutig führt Technik jedoch auch zu neuen Gefahren, etwa durch Hacking und Missbrauch der Datensysteme. Technik ersetzt und schützt Pflegekräfte. Ein eindrückliches und für jedermann nachvollziehbares Beispiel ist die Insulinpumpe in Verbindung mit rtCGM (Real-Time-Messgerät zur Glukosebestimmung). Sie ersetzt die Pflegekraft, die ansonsten zwei- oder dreimal täglich zum Pflegebedürftigen fahren müsste und sich nun im Idealfall ihren Vorbehaltstätigkeiten oder sogar heilkundlichen Tätigkeiten widmen kann. Deshalb ist, jedenfalls wenn man die gesellschaftlich vorerst nicht gewollte Absenkung von Qualitätsniveaus unberücksichtigt lässt, Technisierung das potenziell am schnellsten wirksame und effektivste Instrument gegen den Fachkräftemangel. Wer die Zukunft der Pflege noch erleben will, muss paradox agieren und sie überall dort, wo es möglich und verantwortbar ist, überflüssig machen.
Quellen:
- Pütz R, Kontos M, Larsen C, Rand S, Ruokonen-Engler M‑K (2019): Betriebliche Integration von Pflegefachkräften aus dem Ausland: Innenansichten zu Herausforderungen globalisierter Arbeitsmärkte. Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Verfügbar unter: http://bit.ly/2vm73wz.
- Vgl. Richtlinie nach § 63 Absatz 3c SGB V in der Fassung vom 20.10.2011.
- https://www.defa-agentur.de/
- Verfügbar unter: http://bit.ly/384aSUo
- https://www.buurtzorg-deutschland.de/
- Ambient Assisted Living (AAL, gelegentlich auch „Active Assisted Living“).
- http://www.parorobots.com/
- Beispielhaft: SG Nürnberg vom 27.1.2017 – S 11 KR 138/13.
- Dierks C, Retter S, Pirk J (2019): Möglichkeiten der Kostenerstattung technischer Assistenzsysteme (AAL) für pflegebedürftige Verbraucherinnen und Verbraucher nach geltendem Recht sowie Entwicklung von konkreten Handlungsempfehlungen. Rechtsgutachten erstellt im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbandes. Verfügbar unter: http://bit.ly/2TnE4kh.
- https://youtu.be/__k_ay1L2Ro