Wie könnte die Pflege in Zukunft aussehen?
Wie könnte die Pflege in Zukunft ausse­hen? Bild: © Shannon Fagan | Dreamstime.com

Die Pflege in Deutsch­land steht vor gewal­ti­gen Heraus­for­de­run­gen. Dabei ist das für die öffentliche Gesund­heit drängendste und für den einzel­nen Pflegebedürftigen gefährlichste Problem der sogenannte Pflege­not­stand, also der Mangel an Pflegefachkräften. Die von unter­schied­lichs­ten Schre­ckens­mel­dun­gen übersättigte Öffentlichkeit erfährt davon oft nur, wenn sich aus einer konkre­ten Situa­tion die – zynisch gespro­chen – medial perfekte Welle herstel­len lässt, etwa ein Kind nicht auf der Inten­siv­sta­tion aufge­nom­men werden kann, weil diese unter­be­setzt ist, und stirbt.

Solche Heraus­for­de­run­gen fallen jedoch selten einfach vom Himmel. Vielmehr hat die Gesund­heits- und Sozial­po­li­tik in den vergan­ge­nen Jahren schwere handwerk­li­che Fehler gemacht. Mit den letzten großen Refor­men durch die Pflegestärkungsgesetze etwa wurden beinahe ausschließ­lich Verbes­se­run­gen für die Pflegebedürftigen umgesetzt, nicht aber für die Pflegekräfte. Damit wurde der zweite Schritt vor dem ersten gegan­gen. Plötzlich gab es einen deutlich ausge­wei­te­ten Leistungs­an­spruch aus der Pflege­ver­si­che­rung, aber nieman­den, der diesen Anspruch hätte umset­zen können. Nach den Refor­men gab es nämlich genauso wenig Pflegekräfte wie zuvor.

Vor diesem Hinter­grund steigt in unserer älter werden­den Gesell­schaft die Zahl der Pflegebedürftigen gegenüber der Zahl der vorhan­de­nen und nachwach­sen­den Pflegekräfte so schnell, dass bereits heute an vielen Orten Unter­ver­sor­gung besteht. Diese droht zum Dauer­zu­stand zu werden und eine Pflege in Würde drama­tisch zu erschwe­ren, wenn nicht sogar unmöglich zu machen. Um das zu verhin­dern, reicht nicht eine einzige Idee, eine einzelne Maßnahme. Vielmehr muss ein ganzes Maßnahmenbündel umgesetzt werden. Grund­an­nahme dabei ist: Ohne energi­sches, rasches Handeln lässt sich weder mit der gegenwärtigen noch mit der mittel­fris­tig zu erwar­ten­den Zahl an Pflegekräften die Zahl der Pflegebedürftigen angemes­sen versor­gen.

Zur Problem­be­wäl­ti­gung tun sich zwei Optio­nen auf:

  1. Die Zahl der Pflege­kräfte steigt
  2. Pflege­kräfte werden ersetzt

Keine Option ist ein Weiter-so.

Option 1: Die Zahl der Pflege­kräfte steigt

Diese Option bekommt medial die meiste Aufmerk­sam­keit. Mehr Pflegekräfte heißt Zuwan­de­rung, inländische Rückkehrer, längere Verweil­dauer durch förderliche Arbeits­be­din­gun­gen, Zuwachs durch Akade­mi­sie­rung. Mehr Pflegekräfte bedeu­tet aber auch kreati­ver Aufbau von Ressour­cen.

Im Fokus der Bericht­erstat­tung stand schon häufig die Anwer­bung von Fachkräften aus dem Ausland. Diese berei­tet mehr Probleme als erwar­tet. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu Konflik­ten in der Pflege beschreibt die Probleme in aller Offen­heit:[1] Pflegefachkräfte aus Südeuropa und Südosteuropa übernehmen in ihren Herkunftsländern Manage­ment­auf­ga­ben, die sie in Deutsch­land nicht ausführen dürfen. Vielmehr sollen sie hier Körperpflege durchführen und Essen­ta­bletts über die Etagen tragen, was sie für unter ihrem Niveau halten. Dadurch entsteht bei den in Deutsch­land ausge­bil­de­ten Pflegefachkräften der Eindruck, dass die neuen Kolle­gin­nen und Kolle­gen gar nicht praxis­taug­lich sind.

Tatsächlich gibt es in der Realität unter­schied­li­che Pflege­kul­tu­ren. In den Herkunftsländern darf die Profes­sion Pflege regelmäßig mehr selbst entschei­den. Gerade die erste Welle der Pflegefachkräfte aus Spanien war schockiert darüber, wie wenig sie hier selbst­be­stimmt arbei­ten dürfen, wie vollständig jeden­falls in der Behand­lungs­pflege alle wesent­li­chen Fragen von Ärzten beant­wor­tet werden und nicht von ihnen. Es hilft nieman­dem, ausländische Pflegekräfte in hoher Zahl nach Deutsch­land zu locken, nur um dann zu sehen, wie sie hier den Beruf wechseln oder wieder in ihre Heimatländer zurückgehen, weil sie den Eindruck haben, zwar gut bezahlt, aber trotz­dem unter Wert zu arbei­ten.

Daran hat sich bis heute kaum etwas spürbar geändert. Solange die Profes­sion Pflege in Deutsch­land nicht deutlich aufge­wer­tet wird, und zwar mit konkre­ten Kompe­ten­zen aus einer echten Übertragung von heilkund­li­chen Tätigkeiten, wird sich dieses Problem in allen Einrich­tun­gen wieder­ho­len. Modell­vor­ha­ben nach § 63 Absatz 3c SGB V sind für eine Lösung ungeeig­net. Der Gemein­same Bundes­aus­schuss (G‑BA) hatte sich bereits 2011 zu einer Übertragung bei den Diagno­sen Diabe­tes Typ 1 und 2, Demenz, Chroni­sche Wunden und Hyper­to­nie durch­ge­run­gen.[2]

Demnach stellt der Arzt Diagnose und Indika­tion und entwirft einen Thera­pie­plan, an den sich die Pflege­fach­kraft halten muss. Zu den möglichen Aufga­ben der Pflege­fach­kraft sollten die Erfas­sung einer Polyphar­ma­zie im Alter, Ernährungsberatung und Hyper­to­nie­schu­lung, die Versor­gung chroni­scher Wunden und die Verord­nung von Hilfs­mit­teln gehören. Aller­dings blieb nach dem Beschluss umstrit­ten, was dieser eigent­lich bedeu­tet. Während der GKV-Spitzen­ver­band für eine Substi­tu­tion plädierte, bezeich­ne­ten Kassenärztliche Bundes­ver­ei­ni­gung, Deutsche Kranken­haus­ge­sell­schaft und Bundesärztekammer das Ergeb­nis als Delega­tion. Auch deshalb ist auf diesem Feld seitdem praktisch nichts passiert.

Das bloße Anwer­ben ausländischer Inter­es­sen­ten ohne anerkannte Quali­fi­ka­tion und deren anschlie­ßende Ausbil­dung in Deutsch­land ist aufgrund der zahlrei­chen Unzulänglichkeiten des deutschen Aufent­halts­rechts zu missbrauchsanfällig. Sinnvoll wären Ausbil­dungs­pro­jekte mit deutschem Curri­cu­lum und integrier­tem Sprach­un­ter­richt direkt im Ausland. Solche Projekte sind aber fast nie ohne Weite­res geeig­net für Ambulante Pflege­dienste mit ihren struk­tu­rell bedingt gerin­gen Trägergrößen. Hierfür müssen Netzwerk­pro­jekte initi­iert werden, damit die Politik nicht allein großen Konzer­nen der Sozial­wirt­schaft die Türen etwa in China und Vietnam öffnet, sondern mit langem Atem auch kleine und mittelständische Unter­neh­men aktiv einbin­det.

Einer der wichtigs­ten Gründe, woran die erfolg­rei­che Anwer­bung ausländischer Fachkräfte in signi­fi­kan­ter Zahl bisher schei­terte, waren die langwie­ri­gen Anerken­nungs­ver­fah­ren auf Landes­ebene sowie die mindes­tens ebenso langwie­ri­gen Visa-Verfah­ren in den deutschen Botschaf­ten. Als eine der konkre­ten Maßnah­men aus der Konzer­tier­ten Aktion Pflege wurde deshalb mit Förderung des Bundes­mi­nis­te­ri­ums für Gesund­heit in Saarbrücken die Deutsche Fachkräfteagentur für Gesund­heits- und Pflege­be­rufe (DeFa) gegründet.[3]

Wesent­li­ches Motiv ist die Beschleu­ni­gung: Von der Anwer­bung im Ausland bis zum Arbeits­be­ginn in Deutsch­land dauert es aktuell nach Abschluss der Sprach­aus­bil­dung bis zu 18 Monate, bis die Pflegefachkräfte vor Ort zur Verfügung stehen. Die DeFa übernimmt für eine Verwaltungsgebühr von nur 350 Euro pro Fall das komplette Antrags­ver­fah­ren. Aktuell ist sie auf den Philip­pi­nen und in Mexiko vor Ort präsent. Ob diese wichtige Maßnahme Erfolg hat, wird sich erst zeigen, wenn ausländische Pflegefachkräfte nicht nur in großer Zahl in Deutsch­land angekom­men, sondern hier auch im Beruf geblie­ben sind.

Da eine gelin­gende Anwer­bung ausländischer Fachkräfte also schwe­rer ist als gedacht – gelingt es, Pflegekräfte zur Rückkehr zu bewegen? Der Pflegebevollmächtigte der Bundes­re­gie­rung, Staatssekretär Andreas Wester­fell­haus, hatte im Sommer 2018 mit seinem Positi­ons­pa­pier „Mehr Pflege­KRAFT“ für Aufse­hen gesorgt.[4] So sollten Rückkehrer eine Prämie von 5.000 Euro, Aufsto­cker von Teilzeit in Vollzeit 3.000 Euro und auch die Einrichtungsträger Prämien für das Finden und Binden von Pflegekräften erhal­ten.

In dem Papier wurde ein konkre­ter Vorschlag für förderliche Arbeits­be­din­gun­gen gemacht, nämlich ein zeitlich befris­te­tes 80:20-Modell zur Unterstützung der Regene­ra­tion, das heißt 80 Prozent Arbeits­zeit bei 100 Prozent Gehalt.

Ein weite­rer Bestand­teil des Papiers war, in den Vergütungsverhandlungen zwischen Kassen und Leistungs­er­brin­gern Zuschläge für die Einführung innova­ti­ver Konzepte für attrak­tive Arbeits­be­din­gun­gen zu verein­ba­ren. Mit einem solchen Bonus könnten Maßnah­men eines Arbeit­ge­bers für mehr Dienstplanstabilität und weniger Rückrufen aus dem Frei, mitar­bei­ter­ori­en­tierte Arbeits­zeit­mo­delle oder Gesundheitsförderung der Beschäftigten finan­ziert werden. Alle diese Vorschläge des Pflegebevollmächtigten stellen bis heute den Goldstan­dard für Maßnah­men zur Gewin­nung zusätzlicher Pflegekräfte aus dem Inland dar. Leider hat in der Breite noch kein einzi­ger Vorschlag Eingang in den Pflege­all­tag gefun­den.

Neue Organi­sa­ti­ons­mo­delle werden nur margi­nal helfen, die Zahl der Pflegekräfte zu steigern. Das aus den Nieder­lan­den stammende Pflege­mo­dell „Buurtz­org“ etwa verspricht eine Pflege ohne Pflege­dienst­lei­tung.[5] Bei aktuell jeweils ca. 15.000 ambulan­ten und stationären Pflege­ein­rich­tun­gen in Deutsch­land, von denen alle eine Pflege­dienst­lei­tung vorhal­ten müssen, würde man durch Buurtz­org theore­tisch 30.000 hochqua­li­fi­zierte Pflegefachkräfte in die direkte Pflege zurückgeben können. Praktisch wird das nicht gelin­gen, da zum einen wohl die wenigs­ten Verant­wort­li­chen Pflegekräfte wieder in der direk­ten Pflege arbei­ten wollen, zum anderen die Qualitätsprüfrichtlinien des MDK diesem Vorha­ben diame­tral entge­gen­ste­hen und man nicht zuletzt auch bei Buurtz­org in hoher Zahl Fachkräfte als Coaches braucht. Was sehr wohl gelin­gen kann, ist eine neue Begeis­te­rung von Pflegekräften für ihren Beruf aus diesen neuen Organi­sa­ti­ons­mo­del­len, wenn sie sich durch eine weitge­hend selbst­ge­stal­tete Zusam­men­ar­beit in den Teams überzeugen lassen, der Pflege erhal­ten zu bleiben.

Was kurzfris­tig für mehr Pflegekräfte sorgen könnte, wäre eine deutlich attrak­ti­vere monetäre Hinter­le­gung des Freiwil­len Sozia­len Jahres (FSJ). Bisher erhal­ten die „FSJler“ nur etwas über 300 Euro Taschen­geld pro Monat, oft auch weniger. Das sollte ersetzt werden durch eine Vergütung analog der für die Pflege-Azubis, nämlich von deutlich über 1.000 Euro. Der größte verges­sene Schatz aber sind die pflegen­den Angehörigen. Diese sind oft die besten Pflege­spe­zia­lis­ten. Sie könnten in Pflege­kur­sen nach § 45 SGB XI oder bei Kontak­ten in den Pflegestützpunkten oder den Service­stel­len der Kassen angespro­chen werden, ob sie ihre ganz praktisch erwor­be­nen Kennt­nisse nicht auch profes­sio­nell anwen­den möchten, nachdem die Pflege ihrer Angehörigen beendet ist. Da diese infor­mel­len Spezia­lis­ten meist gar keinen Pflege­ba­sis­kurs brauchen, um im Minijob oder in Vollzeit in die Pflege einzu­stei­gen, sollten sie zusätzlich über freiwil­lige modulare Quali­fi­zie­rungs­an­ge­bote beglei­tet werden.

Option 2: Pflege­kräfte werden ersetzt

Keine der bisher betrach­te­ten drei Optio­nen allein wird zu einem Ende des Pflege­not­stands führen. Die Pflege wird sich deshalb auch der Frage stellen müssen, wie Pflegekräfte ersetzt werden können. Niemand möchte gern ersetzt werden. Deshalb führt oft schon die Frage­stel­lung zu reflex­haf­ter Ableh­nung.

Welche konkre­ten Handlungsmöglichkeiten gibt es trotz­dem? Eine große Chance liegt in der Aufga­ben­mi­gra­tion, also der Übergabe von Verant­wor­tung an andere Profes­sio­nen. Das bereits erwähnte PpSG etwa sieht vor, dass im Rahmen des Pflege­bud­gets auch pflege­ent­las­tende Maßnah­men durch die Kostenträger finan­ziert werden, zum Beispiel wenn Krankenhäuser Aufga­ben wie die Essens­aus­gabe oder den Wäschedienst vom Pflege­per­so­nal auf andere Perso­nal­grup­pen übertragen.

Mit der Aufga­ben­mi­gra­tion ist eine Chance für den Pflege­be­ruf verbun­den, sich seiner Gründe und Grenzen zu verge­wis­sern: Ist die Pflege für alles zuständig? Gründet ihr Selbst­bild wirklich auf Kümmern und Kuscheln? Was sind die ureige­nen Aufga­ben und was die der Angehörigen oder Betreuer, der Thera­peu­ten oder Ärzte, der Beratungs­stel­len oder Kostenträger? Diese Diskus­sion beginnt in der Pflege gerade erst, öffentlich zu werden, und ist noch längst nicht entschie­den.

Eine weitere Handlungsmöglichkeit besteht darin, Aufga­ben von infor­mel­len Helfern übernehmen zu lassen. Zwar spielt das Ehren­amt in Deutsch­land aufgrund der nach wie vor hohen Erwar­tungs­hal­tung an den Staat eine wesent­lich gerin­gere Rolle als etwa in den Verei­nig­ten Staaten. Gerade deshalb besteht hier aber auch beson­ders viel Poten­zial. Es muss ja nicht gleich ein Sozia­les Pflicht­jahr für Frührentner sein. Statt immer neuer Inves­ti­tio­nen in die sekundäre Pflegeinfra­struk­tur sollte zum Beispiel ganz praktisch und nahe am Leben die Ehren­amts­pau­schale unverzüglich von derzeit 720 Euro im Jahr auf den Wert der Übungsleiterpauschale von 2.400 Euro im Jahr angeho­ben werden. In diesem Zusam­men­hang sollte auch das Gemeinnützigkeitsprivileg entfal­len. Bisher erhal­ten nur in einer gemeinnützigen Einrich­tung mitwir­kende Menschen eine solche Ehren­amts­pau­schale. Das wird schon längst nicht mehr der Wirklich­keit der Pflege gerecht, da gerade die profes­sio­nelle Ambulante Versor­gung ganz überwiegend durch private Pflege­dienste erfolgt.

Die radikalste Variante einer Reform der infor­mel­len Pflege wäre eine Revolu­tion: Das Pflege­geld nach § 37 SGB XI auf das Niveau der Pflege­sach­leis­tun­gen nach § 36 SGB XI zu erhöhen. Damit wäre, ähnlich wie beim Betreu­ungs­geld­ge­setz, die finan­zi­elle Absiche­rung der Pflege durch Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn, die oft unbemerkt rund um die Uhr statt­fin­det, genauso hoch wie die Pflege durch profes­sio­nelle Pflegekräfte. Selbst wenn dann die Prüfintervalle der Beratungs­be­su­che nach § 37 Absatz 3, 4 SGB XI verkürzt werden sollten, könnte Pflege in vielen familiären Settings so attrak­tiv werden, dass deutlich weniger Pflegekräfte in Anspruch genom­men werden müssten.

Da nicht abseh­bar ist, dass die Politik zu einer solchen Revolu­tion bereit wäre, ergeben sich die wichtigs­ten Handlungsmöglichkeiten aus Digita­li­sie­rung und Techni­sie­rung. Was bedeu­tet dabei Techni­sie­rung? Ganz wesent­lich Robotik, AAL,[6] somato­gene Senso­rik und Telen­ur­sing. Die Pflege­ro­bo­tik hat in Deutsch­land – anders als beispiels­weise in Japan – noch kaum Fuß gefasst. Dabei könnte gerade sie die Arbeit der Pflegekräfte wesent­lich erleich­tern und durch entlas­tete Rücken zu entschei­den­den arbeits­me­di­zi­ni­schen Verbes­se­run­gen führen. Tatsächlich jedoch werden innova­tive Techni­ken kaum genutzt und kommen zudem ganz überwiegend aus dem Ausland.

Für den Techno­lo­gie­stand­ort Deutsch­land ist diese fehlende Markt­durch­drin­gung nicht nur ein Armuts­zeug­nis, sondern existenzgefährdend. Woran liegt es? Die GKV sagt, es würden zu wenige Anträge gestellt. Die Anbie­ter sagen, die Antrags­ver­fah­ren seien zu kompli­ziert.

Müssen also die Zulas­sungs­kri­te­rien angepasst werden? Diese erfor­dern nach §§ 135, 139 SGB V bestimmte Eigen­schaf­ten und Qualitätsmerkmale, die offen­bar dazu führen, dass es die meisten Produkte für die Techni­sie­rung der Pflege nicht ins Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis schaf­fen. Allein die notwen­dige Angabe des Indika­ti­ons­be­reichs stellt für viele beson­ders inter­es­sante Produkte eine Hürde dar. Welcher Indika­tion etwa soll man die Kuschel­robbe „Paro“[7] zuord­nen? Fachlich angemes­sen wäre in ihrem Fall als Indika­tion nicht Demenz, sondern die Pflege­dia­gnose Soziale Depri­va­tion. Dafür dürfte sich die GKV aber kaum zuständig fühlen. Zudem kostet diese Kuschel­robbe bei eBay nicht unter 3.000 Euro. Nach dem Wirtschaft­lich­keits­ge­bot haben die Kassen aber sogar die Pflicht, zwischen „notwen­dig“ und „nice to have“ zu unter­schei­den.

Offen­sicht­lich besteht neben dem Problem der Neutralität der Präqualifizierungsstellen an dieser Stelle auch ein grundsätzliches Aufmerk­sam­keits­de­fi­zit: So wurden bis zu einer energi­schen Inter­ven­tion des Pflegebevollmächtigten der Bundes­re­gie­rung, der damalige Staatssekretär Karl-Josef Laumann, die Inkon­ti­nenz­pro­dukte im GKV-Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis rund 23 Jahre lang nicht überarbeitet. Die ersten Real-Time-Messgeräte, die es schon eine gefühlte Ewigkeit auf dem Markt gibt, haben es erst 2017 in das bis vor kurzem noch 32.000 Produkte umfas­sende Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis geschafft, wofür es erst mehre­rer Urteile von Sozial­ge­rich­ten bedurfte.[8] So kommt auch ein aktuel­les Rechts­gut­ach­ten im Auftrag des Verbrau­cher­zen­trale Bundes­ver­bands zu dem Schluss, dass es dringend gesetz­li­cher Änderungen bedarf, damit die techni­schen Assis­tenz­sys­teme tatsächlich Eingang in das Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis finden.[9]

Obwohl theore­tisch die Finan­zie­rungs­grund­la­gen mit den §§ 40 Absatz 4 SGB XI und 33 SGB V bestehen, zeigt die Praxis bisher Stroh­feuer statt Leuchttürme. Immer wieder werden nur Modell­pro­jekte, Innova­ti­ons­zen­tren, Musterhäuser und Cluster angescho­ben. Berühmtberüchtigtes Beispiel ist der Hausnot­ruf, der es bisher als einzi­ges Produkt in den Pflege­hilfs­mit­tel­ka­ta­log geschafft hat. Das wird weder den Möglichkeiten der Pflege­tech­nik und Pflege­for­schung noch den Anfor­de­run­gen an eine Pflege für das 21. Jahrhun­dert gerecht. Das muss sich ändern.

Wird durch mehr Technik in der Pflege alles besser? Das hängt, wie immer bei Technik, vom Nutzer ab. Die antizi­pier­ten Risiken liegen auf der Hand: Pflegekräfte befürchten eine Verfrem­dung der Inter­ak­tion zwischen ihnen und den Pflegebedürftigen. Sie befürchten eine Depro­fes­sio­na­li­sie­rung des Pflege­be­rufs, wenn automa­ti­sierte Daten­er­fas­sung und Daten­aus­wer­tung die indivi­du­elle Kranken­be­ob­ach­tung erset­zen. Und sie fragen sich, welche Stellung etwa die akade­mi­sier­ten Pflege­fach­leute in einer durch­tech­ni­sier­ten Arbeits­welt haben werden. Lässt sich ihre Tätigkeit künftig noch mit jener der Assis­ten­tin­nen in Hauswirt­schaft und körperbezogenen Pflege­maß­nah­men zu einem Berufs­bild zusam­men­fas­sen?

Pflegebedürftige befürchten eine Anony­mi­sie­rung der Entschei­dun­gen: Wer bestimmt beim GPS-Track­ing den Aktions­ra­dius des Geofen­cing? Sie befürchten eine mehr oder weniger subtile erzwun­gene Normie­rung ihres Verhal­tens, denn Senso­ren reagie­ren immer auf Abwei­chun­gen von Normwer­ten. Wer gern scharf isst und dadurch stark schwitzt, wird das vielleicht lassen, wenn immer wieder eine Pflege­kraft ins Zimmer gelau­fen kommt und nachsieht, ob alles in Ordnung ist.

Beide Gruppen, Pflegebedürftige wie Pflegekräfte, befürchten im Zuge eines perma­nen­ten Daten­aus­tauschs eine perma­nente Überwachung aller Betei­lig­ten. Das erhöht das Subver­si­ons­ri­siko. Schon jetzt spielt in der Pflege die Überwachung im buchstäblichen Sinne eine nicht immer allen Betei­lig­ten bewusste, aber erheb­li­che Rolle: Pflege besteht zentral auch aus einer möglichst lückenlosen Dokumen­ta­tion von Auffälligkeiten, der Erhbung von Risiken und obliga­to­ri­schen Beratun­gen. Technik in der Pflege kann sogar bedeu­ten, dass Pflegekräfte ihren Arbeit­ge­ber wechseln, weil er ihnen zu technisch und zu wenig „mensch­lich“ gewor­den ist und sie sich das in den letzten Jahren vor der Rente nicht mehr antun wollen.

Gleich­zei­tig sind die sich aus einer Techni­sie­rung der Pflege ergeben­den Chancen unbestreit­bar: Gerade Teleme­di­zin, etwa in Form der durch das PpSG im § 87 Absatz 2a SGB V zugelas­se­nen „teleme­di­zi­ni­schen Leistun­gen“ und „Video­sprech­stun­den“, kann Pflegebedürftigen erheb­li­chen Stress erspa­ren, indem deutlich weniger Kranken­trans­porte erfor­der­lich sind. Sie ermöglichen eine Entlas­tung der Pflegekräfte und ein Empower­ment der Pflegebedürftigen. Und sie sind oft die einzige Chance auf einen Arztkon­takt, wenn kein Arzt in der Nähe Hausbe­su­che macht und der Pflegebedürftige immobil ist.

Die Techni­sie­rung hat dabei das Poten­zial, Pflegebedürftige zu emanzi­pie­ren und aus der perso­nel­len Abhängigkeit von den Pflegekräften zu befreien. Selbst wenn die entspre­chen­den Abfra­gen in den MDK-Prüfungen den Pflege­diens­ten bundes­weit sehr hohe Kunden­zu­frie­den­heit beschei­ni­gen, sagen doch gleich­zei­tig viele Pflegebedürftige, dass sie gern ihre Ruhe hätten und nicht dreimal am Tag einen Einsatz vom Pflege­dienst. Viele Pflegebedürftige haben ein erfülltes Privat­le­ben mit vielen Termi­nen und möchten ungern auf die Pflegekräfte warten müssen, weil die im Stau stecken oder beim vorhe­ri­gen Kunden einen Notfall hatten. Es ist also nicht auszu­schlie­ßen, dass eine Pflege mit deutlich weniger Pflegekräften auf Akzep­tanz bei den Pflegebedürftigen stoßen könnte, jeden­falls bei jenen, die sozial einge­bun­den leben. Auch aus diesen Setting-Aspek­ten ergeben sich wieder unmit­tel­bare Fragen an das Selbstverständnis der beruf­li­chen Pflege: Ist sie Ersatz­fa­mi­lie? Ist sie wirklich „mehr als ein Beruf“, wie ein sehr eindrücklicher, bereits 5,6 Millio­nen mal aufge­ru­fe­ner, aber der Pflege gleich­zei­tig neue Lasten aufle­gen­der Spot der Bundes­re­gie­rung sugge­riert?[10] Reicht es nicht, endlich den Beruf so aufzu­wer­ten, dass jede Pflege­kraft auf jeder Party stolz erzählen kann, als was sie arbei­tet?

Technik und Digita­li­sie­rung beschleu­ni­gen daneben ganz wesent­lich den Daten­trans­fer zu den unter­schied­li­chen Stake­hol­dern (Ärzte, Thera­peu­ten, Angehörige, Kassen) und erleich­tern die Inter­ak­tion der Pflegebedürftigen mit ihnen. Aus dem Umset­zungs­ka­ta­log zum Online­zu­gangs­ge­setz (OZG) folgt, dass ab Ende 2022 nicht nur Hilfs­mit­tel, sondern auch Verband- und Arznei­mit­tel und Leistun­gen wie Verhin­de­rungs­pflege oder sogar Hilfe zur Pflege bei den Kostenträgern beantragt werden können. Hier kommen Digita­li­sie­rung und Techni­sie­rung sinnvoll zusam­men, und es ist zu hoffen, dass den Kostenträgern tatsächlich bis dahin die Umset­zung gelingt. Technik in der Pflege führt ganz eindeu­tig zu einer Verbes­se­rung der objek­ti­ven Sicher­heit und des subjek­ti­ven Sicherheitsgefühls, zum Beispiel bei Sensor­mat­ten, die Stürze melden, Ortungs­sys­te­men und Erinne­rungs­hil­fen für die Medika­men­ten­ein­nahme.

Ebenso eindeu­tig führt Technik jedoch auch zu neuen Gefah­ren, etwa durch Hacking und Missbrauch der Daten­sys­teme. Technik ersetzt und schützt Pflegekräfte. Ein eindrückliches und für jeder­mann nachvoll­zieh­ba­res Beispiel ist die Insulin­pumpe in Verbin­dung mit rtCGM (Real-Time-Messgerät zur Gluko­se­be­stim­mung). Sie ersetzt die Pflege­kraft, die ansons­ten zwei- oder dreimal täglich zum Pflegebedürftigen fahren müsste und sich nun im Ideal­fall ihren Vorbehaltstätigkeiten oder sogar heilkund­li­chen Tätigkeiten widmen kann. Deshalb ist, jeden­falls wenn man die gesell­schaft­lich vorerst nicht gewollte Absen­kung von Qualitätsniveaus unberücksichtigt lässt, Techni­sie­rung das poten­zi­ell am schnells­ten wirksame und effek­tivste Instru­ment gegen den Fachkräftemangel. Wer die Zukunft der Pflege noch erleben will, muss paradox agieren und sie überall dort, wo es möglich und verant­wort­bar ist, überflüssig machen.

Quellen:

  1. Pütz R, Kontos M, Larsen C, Rand S, Ruoko­nen-Engler M‑K (2019): Betrieb­li­che Integra­tion von Pflegefachkräften aus dem Ausland: Innen­an­sich­ten zu Heraus­for­de­run­gen globa­li­sier­ter Arbeitsmärkte. Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Verfügbar unter: http://bit.ly/2vm73wz.
  2. Vgl. Richt­li­nie nach § 63 Absatz 3c SGB V in der Fassung vom 20.10.2011.
  3. https://www.defa-agentur.de/
  4. Verfügbar unter: http://bit.ly/384aSUo
  5. https://www.buurtzorg-deutschland.de/
  6. Ambient Assis­ted Living (AAL, gelegent­lich auch „Active Assis­ted Living“).
  7. http://www.parorobots.com/
  8. Beispiel­haft: SG Nürnberg vom 27.1.2017 – S 11 KR 138/13.
  9. Dierks C, Retter S, Pirk J (2019): Möglichkeiten der Kosten­er­stat­tung techni­scher Assis­tenz­sys­teme (AAL) für pflegebedürftige Verbrau­che­rin­nen und Verbrau­cher nach gelten­dem Recht sowie Entwick­lung von konkre­ten Handlungs­emp­feh­lun­gen. Rechts­gut­ach­ten erstellt im Auftrag des Verbrau­cher­zen­trale Bundes­ver­ban­des. Verfügbar unter: http://bit.ly/2TnE4kh.
  10. https://youtu.be/__k_ay1L2Ro