„Digital first – Bedenken second.“ Dies war einer der Wahl-Slogans einer mittlerweile in der Bundesregierung vertretenen Partei – doch inwieweit lässt sich die Devise aufs Gesundheits- und Pflegewesen übertragen? „Wenn man überhaupt etwas Positives aus der nun allmählich hinter uns liegenden Coronapandemie herausziehen kann, ist es, dass wir uns endgültig dem Digitalen zugewandt haben. Ich hoffe, dass die letzten Faxgeräte in den Behörden durch moderne PC-Technik ersetzt werden; der QR-Code, der längst totgesagt war, erlebte eine Renaissance“, betonte Kongress-Initiator Prof. Dr. Volker Großkopf in seiner Eröffnungsrede.
„Noch vor einigen Jahren hätte man jemanden für verrückt erklärt, wenn dieser erklärte, dass er seine Fortbildung per Online-Konferenz macht, denn Zoom & Co. kannte kaum jemand. Wir schonen die Umwelt, wir sparen Zeit, wir brauchen nicht hin und her fahren“, so Großkopf weiter. „Aber es fehlt etwas: die Begegnung untereinander, das Gespräch. Wir alle sind nun mal soziale Menschen. Zum Glück können wir nun die Gesichter wieder erkennen, die nicht mehr hinter Masken verborgen sind.“
Die Chancen, aber auch die Risiken der fortschreitenden Digitalisierung waren das Kernthema der vierten Auflage der „Pflegefortbildung des Westens“ (JHC) am Donnerstag, 19. Mai, in den Kölner Sartory-Sälen. Inklusive des Vorgänger-Veranstaltungsformats, dem vormaligen JuraHealth Congress, war es bereits die 15. Veranstaltung seit 2008. Erstmals seit 2019 fand der Kongresstag wieder live vor Publikum statt – 2020 und 2021 war die Pflegefortbildung des Westens als reines Online-Event über die Bühne gegangen. Mehr als 300 Gäste fanden den Weg nach Köln, und erlebten einen wie gewohnt anregenden Kongresstag voller Einsichten, Neuerungen von der Industrieausstellung und den großen, breiten Austausch mit Branchen-Kolleginnen und ‑Kollegen.
Doch wehe dem, der an den Vorzügen des Digitalen nicht teilnehmen kann oder will – weil er oder sie es nie gelernt haben, oder sich im fortgeschrittenen Alter nicht mehr aneignen wollen. Darauf machte auch Moderator Jörg Schmengler von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) aufmerksam. „Die Wahrnehmung des Rechts auf eine analoge Welt wird immer schwieriger. Die zweitgrößte Bank Deutschlands etwa hat in der Corona-Zeit ihr Filialnetz von 1000 auf 400 reduziert. Und das mit dem Schuhekaufen ist knifflig, wenn es in der Innenstadt keine Läden mehr gibt.“ – „Es ist ein Segen und ein Fluch zugleich. Eine Riesenchance, die aber auch Risiken birgt“, fand auch Marina Filipović, Pflegedirektorin und Vorstandsmitglied der Uniklinik Köln, in ihrem Grußwort.
In ihrem Heimatland Kroatien etwa sei die Digitalisierung schon viel weiter. „Dort sind E‑Rezepte schon längst Standard. Meine Schwester war bei ihrem Besuch in Köln erstaunt, beim Arzt ein Stück Papier überreicht zu bekommen.“ Auch Angelika Zegelin, emeritierte Professorin für Pflegewissenschaften an der Universität Witten/Herdecke, berichtete von Widerständen unter Auszubildenden gegen allzuviel Technik. „Da heißt es schon mal, ich bin gerade in die Pflege gegangen, damit ich das nicht habe – dass ich am Menschen arbeite.“ Dass es zur demografischen Lücke keine verlässlichen Zahlen gebe, sei eine gesundheitliche Katastrophe, betonte sie.
Wie sehr das demografische Problem nach digitaler (Ab-)Hilfe schreit, verdeutlichte Prof. Dr. Großkopf in seinem späteren Vortrag „Wege aus der demografischen Katastrophe“. Denn wenn die Babyboomer aus den 1960er-Jahren in Rente gingen, werde sich die Lage schlagartig verschärfen. „So gut, wie es uns jetzt personell geht, wird es uns in den nächsten 30, 40 Jahren nicht mehr gehen. Wir haben jetzt sozusagen ein Best-Case-Szenario.“ Man müsse über ein höheres Rentenalter nachdenken, und ein Aufheben der starren Pensionierungs-Grenzen. „Arbeit hat eben auch etwas Sinnstiftendes, viele wollen gar nicht aufhören.“
Sein Kanzlei-Kollege, Rechtsanwalt Hubert Klein, ging auf die Frage des Datenschutzes angesichts der drängenden digitalen Durchdringung von Gesundheit und Pflege ein – mit dem immer noch aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, als auch der „sehr beliebten“ DSGVO. Doch Deutschland laufe Gefahr, den Bogen zu überspannen. „Was hätten wir uns in der Corona-Nachverfolgung ersparen können, wenn der Datenschutz nicht so penibel gehandhabt worden wäre? Dass ich an diesem und jenem Tag in der und jener Kneipe war, na und? Wir schützen uns in Deutschland zu Tode, das sage ich seit Jahren.“
„Technik tötet Menschlichkeit – diese These lässt sich in der Praxis nicht bestätigen“, postulierte dagegen Birgit Michels-Rieß, Einrichtungsleiterin bei den Bielefelder Bodelschwinghschen Stiftungen (Altenhilfe Bethel). „Bei den Einsätzen von digitalen Angeboten hat sich gezeigt, dass technische Systeme bei der Entwicklung und dem Einsatz die vorhandenen Pflegekräfte entlasten, und in ihrer Arbeit unterstützen müssen – und dabei gleichzeitig die Beziehungsarbeit nicht einschränken dürfen.“ Mit dem Thema Telemedizin beschäftigt sich Michael Czaplik von der RWTH Aachen.
Tele-Visiten könnten etwa durch eingesparte Fahrtzeiten Ressourcen sparen helfen; doch digitale Arztangebote erforderten langjährige praktische Erfahrung und eine gute Kommunikations-Fähigkeit. Beim begleitenden Satellitensymposium der Berufsgenossenschaft für die Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) gab es eine interessante Pro- und Contra-Debatte zur Digitalisierung zwischen Detlef Friedrich, Geschäftsführer der contec GmbH für Personalberatung in der Gesundheitsbranche, und Guido Heuel, Professor an der Katholischen Hochschule NRW, Standort Köln (KatHO).
Und zudem gab es einen neuen Zugang in der Siegerliste des Innovationsforums, das 2019 zur ersten „Pflegefortbildung des Westens“ Premiere gefeiert hatte. Zwölf Unternehmen nahmen mit ihren Neuentwicklungen und Produkten am Wettbewerb für Innovateure teil; es siegte die PlanHero GmbH aus Dresden, die ein KI-gestütztes Personalplanungs- und Schichtmanagement-System vorstellte. Dies wurde vor allem Dingen von den anwesenden Pflegedienstleitungen goutiert.
Auf dem zweiten Platz landeten die enna GmbH mit einem seniorengerechten Tablet- und Smart-Home-System, gefolgt von der LUCI GmbH, einer Kommunikations- und Social-Media-Plattform für Einrichtungen, Bewohner und Angehörige, um einfacher und günstiger zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. In den Vorjahren hatten die Pflegewissen-Quiz-App „SuperNurse“, die Smartphone-gestützte Gang- und Sturzpräventionsanalyse der Lindera GmbH und das Deutschkurs-Sprachangebot für Pflegekräfte der Bildungsprofis International UG das Rennen gemacht.
Die fünfte Pflegefortbildung des Westens wird am 11. Mai 2023 stattfinden, erneut „live und in Farbe“ auf der Bühne der Kölner Sartory-Säle.