CIRS
Daniela Sulman war maßgeb­lich an der Entwick­lung des Pflege-CIRS betei­ligt. Bild: Hoffo­to­gra­fen

Rechts­de­pe­sche: Das neue Pflege-CIRS des Zentrums für Quali­tät in der Pflege (ZQP) gibt es jetzt seit Anfang April. Was ist das genau?

Daniela Sulmann: Das Pflege-CIRS ist ein einrich­tungs­über­grei­fen­des, frei zugäng­li­ches, werbe­freies und unabhän­gi­ges Berichts- und Lernan­ge­bot für die profes­sio­nelle Langzeit­pflege. CIRS steht für Criti­cal Incident Report­ing System. Unser Pflege-CIRS ist ein Angebot, um über kriti­sche Ereig­nisse aus der profes­sio­nel­len Langzeit­pflege zu berich­ten. Wir – also das ZQP – erstel­len dann praxis­ori­en­tierte fachli­che Tipps zum Umgang mit diesen Ereig­nis­sen, die sehr praxis­ori­en­tiert sind. Letzt­lich zielen diese darauf ab, wie solche Ereig­nisse in Zukunft vermie­den werden können.

Was ein kriti­sches Ereig­nis ausmacht

Rechts­de­pe­sche: Um welche Ereig­nisse geht es hierbei konkret?

Sulmann: Wir verste­hen hierun­ter alle Ereig­nisse, die in irgend­ei­ner Form in der profes­sio­nel­len Langzeit­pflege vorkom­men und die entwe­der einen poten­zi­el­len Gesund­heits­scha­den bei den pflege­be­dürf­ti­gen Menschen auslö­sen könnten oder auch schon einen Schaden ausge­löst haben. Das kann also so was sein wie eine falsche Medika­tion oder dass sich bei der Wundver­sor­gung die Hände nicht richtig desin­fi­ziert wurden.

Rechts­de­pe­sche: Mussten sie auch schon Berichte ableh­nen, zu denen Sie keine Empfeh­lun­gen geben konnten?

Sulmann: Wir bekom­men derzeit im Schnitt etwa täglich einen Bericht und zu den meisten wird auch eine Empfeh­lung von uns veröf­fent­licht. Natür­lich kommt es vor, dass uns Fälle berich­tet werden, die keine kriti­schen Ereig­nisse im Sinne des Pflege-CIRS sind. Ich schätze, derzeit sind das rund 25 Prozent. Da geht es dann zum Beispiel nicht um die profes­sio­nelle Langzeit­pflege. Oder es wird gar kein konkre­tes Ereig­nis, sondern allge­mein über Probleme berich­tet, wie zum Beispiel ‚In meinem Wohnbe­reich sind die Kolle­gen alle sehr grob zu den Bewoh­nern‘. Natür­lich ist das nicht zu tolerie­ren, aber es ist kein konkre­tes kriti­sches Ereig­nis für das Pflege-CIRS.

So funktioniert’s in der Praxis

Rechts­de­pe­sche: Angenom­men, ich bin eine Pflege­fach­kraft, die ein kriti­sches Ereig­nis bei der Arbeit mitbe­kom­men hat. Wie kann ich das Pflege-CIRS nutzen?

Sulmann: Im Grunde funktio­niert das so, dass über eine Einga­be­maske auf unserer Webseite anonym berich­tet werden kann. Das heißt, wir können keine persön­li­chen Daten des Absen­ders nachvoll­zie­hen, selbst wenn eine E‑Mailadresse angege­ben wurde. Der Bericht landet dann bei uns im ZQP.

Wir sichten ihn dann, ordnen ihn ein und schrei­ben anhand einer standar­di­sier­ten Methode eine Empfeh­lung. Die berich­tende Person kann dann durch eine Berichts­num­mer nachvoll­zie­hen, wenn die Empfeh­lung veröf­fent­licht wurde. Sie kann sich außer­dem per verschlüs­sel­ter E‑Mail dazu benach­rich­ti­gen lassen.

Wertschät­zung statt Fehler­fahn­dung

Rechts­de­pe­sche: Für Kranken­häu­ser beispiels­weise gibt es solche CIRS ja schon seit länge­rer Zeit. Wie lange hat es gedau­ert, das Pflege-CIRS zu entwi­ckeln?

Sulmann: Die Idee für ein Pflege-CIRS bestand bei uns schon vor Jahren, als wir anfin­gen, uns mit dem Thema Pflege­si­cher­heit zu befas­sen. Die Entwick­lung vom konkre­ten Konzept bis zur Veröf­fent­li­chung dauerte etwa zweiein­halb Jahre. Vorher haben wir uns inten­siv mit der Evidenz über Anfor­de­run­gen an CIRS befasst. Wir haben außer­dem Prakti­ke­rin­nen und Prakti­ker mit ins Boot geholt und Nutzer­tests durch­ge­führt.

Das System, was wir entwi­ckelt haben, ist aber auch nicht mit den Syste­men zu verglei­chen, die es in den Kranken­häu­sern gibt. Unser CIRS ist wirklich so was wie eine Lernplatt­form. Das ist was ganz anderes, als ein inter­nes System. Das heißt, wir veran­las­sen keine konkre­ten Organi­sa­ti­ons­ent­wick­lungs­maß­nah­men oder verän­dern das Risiko­ma­nage­ment. Wir wollen in erster Linie profes­sio­nell Pflegende für kriti­sche Ereig­nisse in der Langzeit­pflege sensi­bi­li­sie­ren und ihnen Anregun­gen geben, um aus Vorfäl­len zu lernen – entwe­der für sich persön­lich oder die Einrich­tung, in der man arbei­tet.

Dabei ist es absolut wichtig, den Leuten eine gewisse Wertschät­zung und einen respekt­vol­len Umgang mit den Berich­ten zu vermit­teln. Dazu gehört auch das Wording. Wenn ich eine Empfeh­lung schreibe, dann ist die nicht maßre­gelnd, urtei­lend oder in irgend­ei­ner Form negativ bewer­tend formu­liert, sondern rein sachlich. Unter anderem deshalb sprechen wir auch nicht von Fehlern oder Meldun­gen, weil das so negativ konno­tiert ist, sondern von kriti­schen Ereig­nis­sen und Berich­ten.

Wissen­schaft­lich fundierte Empfeh­lun­gen

Rechts­de­pe­sche: Wer schreibt denn die Empfeh­lun­gen zu den Berich­ten?

Sulmann: Die kommen von den Mitar­bei­te­rin­nen und Mitar­bei­tern des ZQP. Wir sind inter­dis­zi­pli­när aufge­stellt und haben somit einige Fachleute hier, die auch einen pflege­prak­ti­schen Hinter­grund haben. Sei es aus dem Pflege­ma­nage­ment oder den Pflege­wis­sen­schaf­ten. Für das Schrei­ben der Empfeh­lun­gen haben wir ein redak­tio­nel­les Metho­den­pa­pier aufge­stellt, das ein Sechs-Augen-Prinzip vorsieht.

Es gibt demnach immer eine Person, die den Bericht sichtet und eine Empfeh­lung erstellt. Danach geht das Schrei­ben an die nächste Person weiter, die für die Quali­täts­si­che­rung zustän­dig ist und die Empfeh­lung gegebe­nen­falls weiter­ent­wi­ckelt. In einem letzten Schritt wird dann eine abschlie­ßende Begut­ach­tung vorge­nom­men, bevor die Empfeh­lung veröf­fent­licht wird.

„Goldgrube“ für die Lehre

Rechts­de­pe­sche: Die dann hoffent­lich auch den gewünsch­ten Lernef­fekt hat. Was für Rückmel­dun­gen haben Sie bislang zu Ihrem Angebot bekom­men?

Sulmann: Insge­samt ist die Reaktion im Pflege­sys­tem bisher positiv und unter­stüt­zend. Um hier aber vorläu­fig Bilanz zu ziehen, wie das Angebot angenom­men wird, ist es noch zu früh. Das, was wir bisher an Rückmel­dung bekom­men haben, ist jeden­falls positiv. Zum Beispiel aus dem Bildungs­be­reich kommt positi­ves Feedback. Da schei­nen die Empfeh­lun­gen eine absolute Goldgrube zu sein, weil die Azubis oder Studie­ren­den hierdurch reale Fallkon­stel­la­tio­nen bespre­chen können und direkt auch die Lösung samt Quellen mit an die Hand gegeben bekom­men.

Im Rahmen von Nutzer­tests wurden teils Beden­ken geäußert, dass Pflege­kräfte vielleicht in ein schlech­tes Licht gerückt werden könnten, wenn im Pflege-CIRS berich­tete Pflege-Fehler in der Öffent­lich­keit aufge­grif­fen werden. Da ist – wie gesagt – ein sensi­bler, respekt­vol­ler Umgang und das entspre­chende Wording entschei­dend.

Starke Partner, große Pläne

Rechts­de­pe­sche: Das ZQP arbei­tet beim Pflege-CIRS auch mit einigen Koope­ra­ti­ons­part­nern wie der AWO und der Caritas zusam­men. Wie bringen die sich ein und was ist für die Zukunft geplant?

Sulmann: Die Koope­ra­ti­ons­part­ner haben uns zum einen bei der Entwick­lung des CIRS beratend unter­stützt und kommu­ni­zie­ren in Abspra­che mit uns auch darüber. Künftig werden wir sie ebenfalls einbe­zie­hen, wenn es um die Weiter­ent­wick­lung geht. Ein solches Angebot wie das Pflege-CIRS gibt es ja bisher noch gar nicht, deshalb können wir nicht auf bishe­rige Erfah­run­gen zurück­grei­fen. Dementspre­chend beobach­ten wir die Resonanz in den nächs­ten Jahren genau und passen unser Angebot möglichst an. Dazu gehört auch, dass wir über die Berichte und Empfeh­lun­gen hinaus, nach und nach immer mehr Praxis­ma­te­rial über unsere Seite anbie­ten werden.

Zur Person: Daniela Sulmann ist Diplom-Pflege­wir­tin und exami­nierte Kranken­schwes­ter. Sie ist Geschäfts­lei­te­rin im Zentrum für Quali­tät in der Pflege (ZQP). Als Exper­tin für Pflege­si­cher­heit war sie maßgeb­lich an der Entwick­lung des Pflege-CIRS betei­ligt, eines digita­len Berichts- und Lernsys­tems zur Förde­rung der Sicher­heit in der Langzeit­pflege.