Der Sachverhalt
Die Patientin, damals 66 Jahre alt, erhielt am 10. Dezember 2008 in dem von der Beklagten betriebenen Klinikum eine Knieendoprothese. Der postoperative Verlauf war zunächst unauffällig. Zwei Tage später, am 12. Dezember 2008, zeigte die Patientin jedoch zunehmende Verwirrtheit. Eine Untersuchung mittels Schädel-CT ergab keinen Befund. Aufgrund ihrer Verwirrtheit wurde der Patientin am Abend des 12. Dezembers bei der Zubereitung des Essens geholfen und sie wurde im Bett gelagert. Wegen anhaltender Unruhe und Verwirrtheit wurde sie für die Nacht auf die Intensivstation verlegt und am Morgen des 13. Dezembers um 5:45 Uhr zurück in ihr Stationszimmer gebracht.
Es wurde ein „extrem hohes Sturzrisiko“ diagnostiziert, das auf der Sturzrisikoskala mit 12 Punkten bewertet wurde. Am Vormittag des 13. Dezembers stürzte die Patientin im Beisein einer Pflegekraft beim Transfer auf den WC-Stuhl, wobei sie sich nicht verletzte. In der Pflegedokumentation wurde vermerkt, dass die Patientin am Morgen noch sehr verwirrt und unbeholfen war. Sie benötigte Anregung, um einfache Tätigkeiten zu verstehen und auszuführen.
Gegen 10:30 Uhr klarte die Patientin auf, konnte Abläufe und Personen wieder richtig einordnen. Der Dienstarzt wurde über den Vorfall am Morgen informiert und untersuchte das OP-Gebiet, wobei keine Verletzungen festgestellt wurden.
Das Mittagessen wurde der Patientin auf den Nachttisch gestellt. Um 11:45 Uhr stürzte sie von der Bettkante sitzend und erlitt eine Unterschenkelmehrfachfragmentfraktur, die noch am selben Tag operativ behandelt wurde. In der Folgezeit traten Komplikationen auf, die zur Amputation des linken Unterschenkels im März 2010 und nach einem erneuten Sturz im November 2010 auch des linken Oberschenkels führten.
Die Kläger argumentierten, dass der Zustand der Patientin beim Mittagessen weitere Schutz- und Obhutsmaßnahmen erforderlich gemacht hätte, deren Unterlassen einen groben Behandlungsfehler darstelle. Zudem sei die Patientin nicht darüber aufgeklärt worden, dass sie sich nicht alleine mobilisieren dürfe. Das Landgericht Bonn wies die Klage ab, ebenso das Oberlandesgericht Köln die Berufung. Hiergegen legten die Kläger Nichtzulassungsbeschwerde ein.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes
Die Nichtzulassungsbeschewerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Absatz 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückweisung des Rechtsstreites an das Berufungsgericht.
Verletzung der Schutzpflichten des Krankenhausträger
Der BGH stellte fest, dass der Krankenhausträger vertragliche Pflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Patienten hat. Dies umfasst unter anderem die Notwendigkeit, zumutbare Vorkehrungen zu treffen, um Sturzrisiken zu minimieren.
Verfahrensfehler und Anspruch auf rechtliches Gehör
Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an den Sachvortrag der Kläger überspannt und deren Beweisanträge nicht berücksichtigt. Dies stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 103 Absatz 1 GG dar.
Notwendigkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens
Das Berufungsgericht hat ohne die erforderliche eigene Sachkunde über medizinische und pflegerische Standards entschieden und damit den Sachvortrag der Kläger nicht angemessen gewürdigt. Ein Sachverständigengutachten wäre notwendig gewesen, um die Frage nach zusätzlichen Schutzmaßnahmen zu klären.
Bewertung des extrem hohen Sturzrisikos
Die Annahme des extrem hohen Sturzrisikos durch das Berufungsgericht wurde nicht hinreichend in die Entscheidungsfindung einbezogen. Die besondere Gefährdungslage der Patientin hätte eine detailliertere Betrachtung und entsprechende Schutzmaßnahmen erfordert.
Fallbeurteilung nach dem anerkannten Stand der pflegerischen Wissenschaft und Forschung
Die Beklagte habe bei dem gebotenen prospektiven und protektiven Management für die Mittagszeit mit noch verbleibenden kognitiven und körperlichen Defiziten der Patientin rechnen müssen. Pflegeseits sei zu bedenken gewesen, dass sich die Patientin möglicherweise objektiv unvernünftig verhalten und den Versuch unternehmen könnte, zum Essen aufzustehen. In der gegebenen Situation hätte bei einer Betreuung nach dem wissenschaftlich anerkannten und gesicherten Standard zur Risikominimierung das Mittagessen zumindest so angereicht werden müssen, dass die Patientin es im Bett habe einnehmen können ohne in die Versuchung zu kommen, sich selbstständig an der Bettkante aufzusetzen.
Dies ist so nicht geschehen. Vielmehr habe die Pflegekraft das Mittagessen kommentarlos auf den Nachttisch gestellt, sich entfernt und es der Patientin überlassen, es irgendwie einzunehmen. Gerade durch das Abstellen des Essens auf dem Nachttisch sei ein Aufstehen oder Aufsetzen der Patientin an/auf der Bettkante provoziert und damit ein besonderes Risiko des Sturzes begründet worden, zumal die Patientin zu keinem Zeitpunkt darauf hingewiesen worden sei, dass sie jede selbstständige Mobilisation zu unterlassen habe.
Rechtskraft und Rückverweisung
Der BGH hat aus den vorgenannten Gründen die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und den Fall zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Dies ermöglicht eine neue Bewertung unter Berücksichtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und die Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens.
Fazit
Das Urteil des Bundesgerichtshofes zeigt deutlich, dass es für die Einrichtungen des Gesundheitswesens zwingend erforderlich ist, bei Sturzrisikopatienten ein Sturzassessment durchzuführen und das festgestellte Sturzrisiko zwingend einer adäquaten Kompensation zuzuführen. Nur so können rechtliche Konsequenzen vermieden werden. In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass das Handlungskonvolut sich am anerkannten Stand der pflegerischen wissenschaft und Forschung zu orientieren hat.
FAQ
Was sind die vertraglichen Pflichten einer Gesundheitseinrichtung zur Sturzvermeidung?
Die Gesundheitseinrichtung hat die Pflicht, notwendige und zumutbare Vorkehrungen zu treffen, um die körperliche Unversehrtheit der Patienten zu schützen und bestehende Risiken zu minimieren. Mithin muss bei einer möglichen Sturzgefahr ein entsprechendes Sturzrisikoassement durchgeführt werden und falls erforderlich notwendige Maßnahmen zur Schadenskompensation ergriffen werden.
Ist ein Patientensturz immer ein Pflegegefehler?
Der Patientensturz ist nur dann ein Pflegefehler, wenn die Gesundheitseinrichtung die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ausser acht gelassen wurde. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Gesundheitseinrichtung die vertragliche Pflicht hat, Patienten vor Schäden zu bewahren. Insoweit müssen die Gesundheitseinrichtung die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen, um zu verhindern, dass sich ein aufgrund von konkreten Gefahren für den Patienten bestehendes Sturzrisiko, verwirklicht.
Kann bei einem sturzgefährdeten Patienten das Mittagessen auf der Bettkante eingenommen werden?
Nach dem wissenschaftlich anerkannten und gesicherten Standard zur Risikominimierung sollte bei sturzgefährdeten Patienten das Mittagessen so angereicht werden, dass diese Patienten es am Tisch oder falls dies nicht möglich ist im Bett so einnehmen können, ohne dass diese Patieten in die Versuchung kommen, sich selbstständig an der Bettkante aufzusetzen. Dazu ist es erforderlich das Essen auf den ausgeklappten Tisch zu stellen und diesen über das Bett zu schwenken sowie die Patient durch das Hochstellen des Kopfteils in eine halbsitzende Position zu bewegen.