
Ist Selbstgefährdung legal oder nicht? Folgende Situation dürfte wohl der Albtraum aller Notfallversorger sein: Ein Patient, der einen schweren Unfall hatte, ist auf eine Bluttransfusion angewiesen, um zu überleben – doch es ist nicht klar, ob die bewusstlose Person jene wirklich möchte, oder etwa aus religiösen Gründen grundsätzlich ablehnt. Selbstgefährdung durch Patientenwillen?
Selbstgefährdung durch den Patientenwillen
Mitten in der Hektik und Dramatik des Geschehens bleibt nichts anderes übrig, als den Patientenwillen genau zu erörtern, sollten Anhaltspunkte für eine mögliche Verweigerung der Transfusion auftraten. Rechtlich ist das Dilemma um die Selbstgefährdung groß: Wird das Spenderblut gegen den Willen des Verunfallten gegeben und überlebt dieser, könnte er das behandelnde Ärzteteam wegen Körperverletzung verklagen.
Umgekehrt steht ein Totschlag durch Unterlassen im Raum, sollten sich die Ärzte gegen die Transfusion entscheiden – und sich bei der rechtlichen Prüfung herausstellt, dass der Patient diese womöglich doch gewollt hätte.
Mit dieser spannenden Fallkonstellation, in vier Variationen, beschäftigten sich die Teilnehmer am zweiten Programmtag der Winterakademie 2024 auf Gran Canaria.
In seinem Vortrag „Habe ich das Recht auf Selbstgefährdung?“ referierte Kongress-Initiator Prof. Dr. Volker Großkopf über Spannungsfeld bei ärztlichen Behandlungen: das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung, Selbstgefährdung und körperliche Unversehrtheit, Körperverletzung, Freiheitsberaubung oder Nötigung sowie der möglichen unterlassenen Hilfeleistung.
Die Rechtsgüter müssten im Zweifelsfall gegeneinander abgewogen werden.
Von Einwilligungen und rechtfertigendem Notstand
Das gängige Mittel, um einer Körperverletzung durch ärztliches Handeln vorzubeugen, ist daher die Einwilligung des Patienten. Diese setze Einsichtsfähigkeit und Aufgeklärtheit voraus und könne grundsätzlich schriftlich, mündlich, konkludent (durch schlüssiges Handeln) oder aber mutmaßlich erfolgen – wenn der Patient nicht mehr in der Lage ist, sich zu äußern.
„Es ist ganz wichtig, ein Einwilligungsmanagement in Euren Einrichtungen zu etablieren, denn dies schützt Euch vor strafrechtlicher Inanspruchnahme“, appellierte Großkopf an die Teilnehmer. „Wenn ihr allein das schon in Eure Einrichtungen mitnehmt, hat es sich bereits gelohnt.“
Eine gesetzliche Pflicht, Eingriffe an sich zu erdulden, komme nur in absoluten Ausnahmefällen in Frage – etwa bei der Pockenimpfungs-Kampagne vor einigen Jahrzehnten. „Die Pflicht zur Pockenimpfung damals war rechtlich in Ordnung, weil es eine Ausrottungsimpfung war“, so Großkopf. Auf eine ähnliche Grundlage stützt sich die Impfpflicht gegen Masern, die seit 2020 für Besucher und Beschäftigte von Einrichtungen wie Kindergärten oder Schulen gilt. Bei Corona dagegen habe die Impfpflicht, letztlich nur für die Teilgruppe des Gesundheitspersonals realisiert, auf viel wackligeren Beinen gestanden.
Im Zweifelsfall „retten“ kann einen Behandler der sogenannte rechtfertigende Notstand, der in § 34 StGB geregelt ist. Dabei sei zu prüfen, ob als Grundlage eine Gefahr gegeben sei, die gegenwärtig bestehe, der Eingriff geeignet ist, das mildeste zur Verfügung stehende Mittel, sowie die Angemessenheit des Vorhabens.
„Transfusion ist Körperverletzung“
Und wie entschieden sich die genannten vier Fallszenarien letztlich? Im ersten Fall lehnte ein Patient, der den Zeugen Jehovas angehört und Bluttransfusionen aus Bekenntnisgründen ablehnt, vor Eintritt seiner Bewusstlosigkeit die Transfusion ab – die Ärzte gaben sie, sobald der Mann nicht mehr bei Bewusstsein war, dann aber doch.
„Die Transfusion ist als Körperverletzung zu werten, denn das Selbstbestimmungsrecht überwiegt in diesem Fall das Recht auf Leben“, so Großkopf. Der Unfallpatient habe seinen Willen klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, daran hätten sich die Behandler halten müssen. Trotz Selbstgefährdung.
Im zweiten Fall rund um das Thema Selbstgefährdung trug die bewusstlose Person Schriftstücke in seiner Kleidung, die eine Nähe zu den Zeugen Jehovas lediglich vermuten lassen; eine ausdrückliche Erklärung lag nicht vor. „Hier gilt: In dubio pro vita“, so Großkopf – denn weder sei sicher auf eine Mitgliedschaft zu schließen, noch ob er auch im Extremfall bei einer möglichen Verweigerung der Transfusion bleiben würde.
Kompliziert der dritte Fall, wo eine Patientenverfügung mit Ausschluss von Bluttransfusionen vorlag, die Frau des Verunfallten das Ärzteteam jedoch anflehte, das Spenderblut zu verabreichen – was dieses dann auch tat. „Hier gilt die Patientenverfügung weiter, denn auch die eigene Frau muss sich an den wenn auch nur mutmaßlichen Willen ihres Partners halten.“ Allerdings kann eine Patientenverfügung auch widerrufen werden, selbst mündlich. „Etwa, wenn die Frau erklärt, dass ihr Mann seine Verfügung widerrufen habe“, skizzierte Großkopf. Im anstehenden Verfahren dürfte es um die Wertung jener Aussage gehen.
Recht schnell einig war sich die Runde im vierten Fall zur Selbstgefährdung, der sogar auf einer wahren Begebenheit basiert: Hier brauchte der achtjährige Sohn einer den Zeugen Jehovas angeschlossenen Eltern die Transfusion. Diese verweigern sie für ihr Kind, erfolglos wird versucht, bei dieser Selbstgefährdung das Familiengericht zu kontaktieren. Daraufhin geben auch hier die Ärzte das Spenderblut. „Das Recht auf Leben des Kindes überwiegt das Sorgerecht der Eltern“, so das einhellige Fazit.
Prof. Dr. Angelika Zegelin: „Die Pflege muss sich endlich organisieren“
Neben dem juristischen Tagesprogramm sorgte eine Videokonferenz mit der nach Gran Canaria zugeschalteten Prof. Dr. Angelika Zegelin für Emotionen im Saal. Die jahrzehntelange Pflege-Koryphäe und 1995 Mitgründerin des ersten Pflege-Studiengangs Deutschlands an der Universität Witten/Herdecke war vor einiger Zeit selbst als Regelpatientin in einem Krankenhaus.
Wenn auch die Behandlung medizinisch zufriedenstellend verlief, waren ihre Erfahrungen mit der Krankenpflege im Klinikum niederschmetternd und im völligen Gegensatz zu dem, für das sich die Professorin im Ruhestand zeitlebens eingesetzt hat; hierüber hatte sie bereits einen Gastkommentar verfasst.
„Ich habe eine Pflegerin nach ihrem Namen gefragt. Sie meinte, das ginge sie gar nichts an“, erzählte sie als Beispiel. Eines Nachts wählte sie den Notruf 112, weil sich auf ihren Alarm wegen eines eingeklemmten Fußes zwei Stunden lang niemand meldete.
Neben einer Entlastung der verbliebenen Pflegekräfte von Bürokratie-Aufwand auf Station gelte es, Angehörige besser einzubinden – und die Pflege solle vereint für bessere Bedingungen streiten.
„Bessere Arbeitsbedingungen bedeuten mehr ausgebildete Leute. Ich bekomme von vielen gesagt, sie hören auf, weil sie im Prinzip nichts machen können, was sie gelernt haben. Vielleicht noch 10 Prozent“, schätzte sie. „Und die Pflege muss sich organisieren. Es gibt Berufsgruppen, die sind sehr stark organisiert und finden politisches Gehör – die Pflege gehört nicht dazu.“