Selbstgefährdung
Prof. Dr. Volker Großkopf Bild: Michael Schanz

Ist Selbst­ge­fähr­dung legal oder nicht? Folgende Situa­tion dürfte wohl der Albtraum aller Notfall­ver­sor­ger sein: Ein Patient, der einen schwe­ren Unfall hatte, ist auf eine Bluttrans­fu­sion angewie­sen, um zu überle­ben – doch es ist nicht klar, ob die bewusst­lose Person jene wirklich möchte, oder etwa aus religiö­sen Gründen grund­sätz­lich ablehnt. Selbst­ge­fähr­dung durch Patien­ten­wil­len?

Selbst­ge­fähr­dung durch den Patien­ten­wil­len

Mitten in der Hektik und Drama­tik des Gesche­hens bleibt nichts anderes übrig, als den Patien­ten­wil­len genau zu erörtern, sollten Anhalts­punkte für eine mögli­che Verwei­ge­rung der Trans­fu­sion auftra­ten. Recht­lich ist das Dilemma um die Selbst­ge­fähr­dung groß: Wird das Spender­blut gegen den Willen des Verun­fall­ten gegeben und überlebt dieser, könnte er das behan­delnde Ärzte­team wegen Körper­ver­let­zung verkla­gen.

Umgekehrt steht ein Totschlag durch Unter­las­sen im Raum, sollten sich die Ärzte gegen die Trans­fu­sion entschei­den – und sich bei der recht­li­chen Prüfung heraus­stellt, dass der Patient diese womög­lich doch gewollt hätte.

Mit dieser spannen­den Fallkon­stel­la­tion, in vier Varia­tio­nen, beschäf­tig­ten sich die Teilneh­mer am zweiten Programm­tag der Winter­aka­de­mie 2024 auf Gran Canaria.

In seinem Vortrag „Habe ich das Recht auf Selbst­ge­fähr­dung?“ referierte Kongress-Initia­tor Prof. Dr. Volker Großkopf über Spannungs­feld bei ärztli­chen Behand­lun­gen: das Recht des Patien­ten auf Selbst­be­stim­mung, Selbst­ge­fähr­dung und körper­li­che Unver­sehrt­heit, Körper­ver­let­zung, Freiheits­be­rau­bung oder Nötigung sowie der mögli­chen unter­las­se­nen Hilfe­leis­tung.

Die Rechts­gü­ter müssten im Zweifels­fall gegen­ein­an­der abgewo­gen werden.

Von Einwil­li­gun­gen und recht­fer­ti­gen­dem Notstand

Das gängige Mittel, um einer Körper­ver­let­zung durch ärztli­ches Handeln vorzu­beu­gen, ist daher die Einwil­li­gung des Patien­ten. Diese setze Einsichts­fä­hig­keit und Aufge­klärt­heit voraus und könne grund­sätz­lich schrift­lich, mündlich, konklu­dent (durch schlüs­si­ges Handeln) oder aber mutmaß­lich erfol­gen – wenn der Patient nicht mehr in der Lage ist, sich zu äußern.

„Es ist ganz wichtig, ein Einwil­li­gungs­ma­nage­ment in Euren Einrich­tun­gen zu etablie­ren, denn dies schützt Euch vor straf­recht­li­cher Inanspruch­nahme“, appel­lierte Großkopf an die Teilneh­mer. „Wenn ihr allein das schon in Eure Einrich­tun­gen mitnehmt, hat es sich bereits gelohnt.“

Eine gesetz­li­che Pflicht, Eingriffe an sich zu erdul­den, komme nur in absolu­ten Ausnah­me­fäl­len in Frage – etwa bei der Pocken­imp­fungs-Kampa­gne vor einigen Jahrzehn­ten. „Die Pflicht zur Pocken­imp­fung damals war recht­lich in Ordnung, weil es eine Ausrot­tungs­imp­fung war“, so Großkopf. Auf eine ähnli­che Grund­lage stützt sich die Impfpflicht gegen Masern, die seit 2020 für Besucher und Beschäf­tigte von Einrich­tun­gen wie Kinder­gär­ten oder Schulen gilt. Bei Corona dagegen habe die Impfpflicht, letzt­lich nur für die Teilgruppe des Gesund­heits­per­so­nals reali­siert, auf viel wackli­ge­ren Beinen gestan­den.

Im Zweifels­fall „retten“ kann einen Behand­ler der sogenannte recht­fer­ti­gende Notstand, der in § 34 StGB geregelt ist. Dabei sei zu prüfen, ob als Grund­lage eine Gefahr gegeben sei, die gegen­wär­tig bestehe, der Eingriff geeig­net ist, das mildeste zur Verfü­gung stehende Mittel, sowie die Angemes­sen­heit des Vorha­bens.

„Trans­fu­sion ist Körper­ver­let­zung“

Und wie entschie­den sich die genann­ten vier Fallsze­na­rien letzt­lich? Im ersten Fall lehnte ein Patient, der den Zeugen Jehovas angehört und Bluttrans­fu­sio­nen aus Bekennt­nis­grün­den ablehnt, vor Eintritt seiner Bewusst­lo­sig­keit die Trans­fu­sion ab – die Ärzte gaben sie, sobald der Mann nicht mehr bei Bewusst­sein war, dann aber doch.

„Die Trans­fu­sion ist als Körper­ver­let­zung zu werten, denn das Selbst­be­stim­mungs­recht überwiegt in diesem Fall das Recht auf Leben“, so Großkopf. Der Unfall­pa­ti­ent habe seinen Willen klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, daran hätten sich die Behand­ler halten müssen. Trotz Selbst­ge­fähr­dung.

Im zweiten Fall rund um das Thema Selbst­ge­fähr­dung trug die bewusst­lose Person Schrift­stü­cke in seiner Kleidung, die eine Nähe zu den Zeugen Jehovas ledig­lich vermu­ten lassen; eine ausdrück­li­che Erklä­rung lag nicht vor. „Hier gilt: In dubio pro vita“, so Großkopf – denn weder sei sicher auf eine Mitglied­schaft zu schlie­ßen, noch ob er auch im Extrem­fall bei einer mögli­chen Verwei­ge­rung der Trans­fu­sion bleiben würde.

Kompli­ziert der dritte Fall, wo eine Patien­ten­ver­fü­gung mit Ausschluss von Bluttrans­fu­sio­nen vorlag, die Frau des Verun­fall­ten das Ärzte­team jedoch anflehte, das Spender­blut zu verab­rei­chen – was dieses dann auch tat. „Hier gilt die Patien­ten­ver­fü­gung weiter, denn auch die eigene Frau muss sich an den wenn auch nur mutmaß­li­chen Willen ihres Partners halten.“ Aller­dings kann eine Patien­ten­ver­fü­gung auch wider­ru­fen werden, selbst mündlich. „Etwa, wenn die Frau erklärt, dass ihr Mann seine Verfü­gung wider­ru­fen habe“, skizzierte Großkopf. Im anste­hen­den Verfah­ren dürfte es um die Wertung jener Aussage gehen.

Recht schnell einig war sich die Runde im vierten Fall zur Selbst­ge­fähr­dung, der sogar auf einer wahren Begeben­heit basiert: Hier brauchte der achtjäh­rige Sohn einer den Zeugen Jehovas angeschlos­se­nen Eltern die Trans­fu­sion. Diese verwei­gern sie für ihr Kind, erfolg­los wird versucht, bei dieser Selbst­ge­fähr­dung das Famili­en­ge­richt zu kontak­tie­ren. Darauf­hin geben auch hier die Ärzte das Spender­blut. „Das Recht auf Leben des Kindes überwiegt das Sorge­recht der Eltern“, so das einhel­lige Fazit.

Prof. Dr. Angelika Zegelin: „Die Pflege muss sich endlich organi­sie­ren“

Neben dem juris­ti­schen Tages­pro­gramm sorgte eine Video­kon­fe­renz mit der nach Gran Canaria zugeschal­te­ten Prof. Dr. Angelika Zegelin für Emotio­nen im Saal. Die jahrzehn­te­lange Pflege-Koryphäe und 1995 Mitgrün­de­rin des ersten Pflege-Studi­en­gangs Deutsch­lands an der Univer­si­tät Witten/Herdecke war vor einiger Zeit selbst als Regel­pa­ti­en­tin in einem Kranken­haus.

Wenn auch die Behand­lung medizi­nisch zufrie­den­stel­lend verlief, waren ihre Erfah­run­gen mit der Kranken­pflege im Klini­kum nieder­schmet­ternd und im völli­gen Gegen­satz zu dem, für das sich die Profes­so­rin im Ruhestand zeitle­bens einge­setzt hat; hierüber hatte sie bereits einen Gastkom­men­tar verfasst.

„Ich habe eine Pflege­rin nach ihrem Namen gefragt. Sie meinte, das ginge sie gar nichts an“, erzählte sie als Beispiel. Eines Nachts wählte sie den Notruf 112, weil sich auf ihren Alarm wegen eines einge­klemm­ten Fußes zwei Stunden lang niemand meldete.

Neben einer Entlas­tung der verblie­be­nen Pflege­kräfte von Bürokra­tie-Aufwand auf Station gelte es, Angehö­rige besser einzu­bin­den – und die Pflege solle vereint für bessere Bedin­gun­gen strei­ten.

„Bessere Arbeits­be­din­gun­gen bedeu­ten mehr ausge­bil­dete Leute. Ich bekomme von vielen gesagt, sie hören auf, weil sie im Prinzip nichts machen können, was sie gelernt haben. Vielleicht noch 10 Prozent“, schätzte sie. „Und die Pflege muss sich organi­sie­ren. Es gibt Berufs­grup­pen, die sind sehr stark organi­siert und finden politi­sches Gehör – die Pflege gehört nicht dazu.“