Sachverhalt
In einem aktuellen Fall wurde auf Wunsch des Patienten durch seinen Hausarzt eine Laboruntersuchung durchgeführt. Die Laborwerte wiesen einen erhöhten PSA-Wert auf. Der PSA-Wert (prostataspezifisches Antigen) ist der empfindlichste Parameter in der Diagnostik des Prostatakarzinoms. Nach Eingang der Untersuchungsergebnisse beim Hausarzt erfolgte weder ein Gespräch mit dem Patienten, noch wurden diesem die Laborwerte ausgehändigt. Hierdurch wurde dem Patienten ein deutlich erhöhter PSA-Wert nicht mitgeteilt. Auch erfolgte im weiteren Verlauf anlässlich weiterer Vorstellungstermine keine Reaktion auf den erhöhten Wert. Erst drei Jahre später wurde ein Prostatakarzinom diagnostiziert. Das Karzinom hatte sich bereits ausgedehnt. Die Prognose ist aufgrund der Tumorausdehnung als schlecht zu bewerten. Der Patient macht umfangreiche Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche geltend.
Rechtliche Würdigung
Das bloße Abheften eines Befundes ohne Information an den Patienten und Berücksichtigung im weiteren Behandlungsverlauf stellt bereits für sich einen groben Behandlungsfehler im Sinne eines Organisationsfehlers dar.
Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln bzw. gesicherte medizinische Erkenntnisse in einer Weise verstoßen wird, dass der Fehler aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH, Urteil vom 19. Juni 2001, Az.: VI ZR 286/00). Der Arzt ist schon aus dem Behandlungsvertrag heraus verpflichtet, ihm zur Kenntnis gelangte Diagnosen und Befunde mitzuteilen. Dies gilt nach der Rechtsprechung umso mehr, wenn es sich um schwerwiegende und behandlungs- oder abklärungsbedürftige Befunde und Diagnosen handelt und der Arzt als Hausarzt in einer Langzeitbetreuung und damit auch als interdisziplinärer Koordinator tätig ist.
Der Arzt darf sich insbesondere auch nicht darauf verlassen, dass der Patient selbst nach den Befunden fragen wird oder dass die dem Arzt zur Kenntnis gelangten Befunde und Diagnosen dem Patienten durch andere (Mit-) Behandler mitgeteilt werden.
Jüngst bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH) in einer Entscheidung vom 26. Juni 2018 (BGH VI ZR 285/17) dass ein Arzt auch dann den Patienten über Befunde zu informieren hat, wenn diese erst nach Beendigung eines Behandlungsvertrages dem Arzt zur Kenntnis gelangen. Den Arzt trifft insofern auch eine aus dem Behandlungsvertrag nachwirkende Schutz- und Fürsorgepflicht (§ 280 Absatz 1, § 241 Absatz 2 BGB; BGH VI ZR 285/17). Der Arzt, der eine solche Information bekommt, muss den Informationsfluss aufrechterhalten. Er kann sich auch nicht mit dem Argument exkulpieren, dass ein solcher Fehler unter den gegebenen Umständen des Praxisalltags passieren könne. Der BGH wertete auch diesen Fall der unterbliebenen Information des Patienten als groben Behandlungsfehler (BGH VI ZR 285/17).
Wurde ein Patient durch einen groben Behandlungsfehler geschädigt, geht die Beweislast hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden vom Patienten auf den Arzt über, der dann beweisen müsste, dass der Gesundheitsschaden des Patienten auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre (§ 630h Absatz 5 Satz 1 BGB). Ein solcher Nachweis wird schon unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten nur in sehr seltenen Fällen zu erbringen sein. Etwaige Unsicherheiten zu den einzelnen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Patienten gehen regelmäßig zu Lasten des Arztes.
Fazit
Der Arzt muss einen fehlerfreien Behandlungsablauf in seiner Praxis sicherstellen. Er verletzt seine ärztlichen Pflichten gegenüber dem Patienten, wenn er ihn nicht unverzüglich über Diagnosen, Befunde und Behandlungsempfehlungen informiert. Werden diese Standards nicht eingehalten und kommt es deswegen zu Komplikationen beim Patienten, wird dies als ein grober Organisationsfehler des Arztes gewertet.
Quelle: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Jürgen Hersch, HDI Kundenservice AG, Köln