Sturz
Stürze zählen zu den juris­ti­schen Haftungs­fal­len. Bild: Wiscon­si­nart | Dreamstime.com

Welche Nachwir­kun­gen kann eine Narkose nach sich ziehen?

Durch eine Narkose wird das Bewusst­sein eines Patien­ten für einen mehrtä­gi­gen Zeitraum einge­schränkt. Sie sind beim Ausschleu­sen aus dem OP zwar ansprech­bar (sogenannte „Aware­ness“), schla­fen aber im Anschluss häufig wieder ein (vergleich­bar auch mit intra­ope­ra­ti­ven Wachzu­stän­den).

Folgende Symptome sind typische Nachwir­kun­gen einer Vollnar­kose:

  • Schwin­del, Übelkeit, Erbre­chen
  • Kreis­lauf­stö­run­gen
  • Halsschmer­zen und Heiser­keit
  • Müdig­keit
  • selten Blutdruck- und Herzrhyth­mus­stö­run­gen

Durch die Auswir­kun­gen des Betäu­bungs­ver­fah­rens auf die vitalen Funktio­nen kann der Patient nach Anästhe­sien im Zusam­men­hang mit diagnos­ti­schen oder thera­peu­ti­schen Eingrif­fen noch für einige Zeit akut gefähr­det sein. Stürze in dieser Phase der akuten Gefähr­dung müssen verhin­dert werden und werden dem Bereich des voll beherrsch­ba­ren Risikos zugeord­net.

Was ist ein voll beherrsch­ba­res Risiko?

Von einem voll beherrsch­ba­ren Risiko spricht man bei einem ärztli­chen oder pflege­ri­schen Fehler, wenn sich ein allge­mei­nes Behand­lungs­ri­siko verwirk­licht hat, wobei der Arzt oder die Pflege­kraft jedoch die Beherr­schung über die Situa­tion gehabt hat, eine Verlet­zung des Körpers und der Gesund­heit des Patien­ten also durch pflege­ri­sche Maßnah­men verhin­dern hätte können.

Voll beherrsch­bare Risiken sind Behand­lungs­ri­si­ken, die durch die Tätig­kei­ten im Praxis­be­trieb, beispies­weise bei OPs, hervor­ge­ru­fen werden, aber durch eine ordnungs­ge­mäße Beobach­tung und mit entspre­chen­den Maßnah­men verhin­dert werden müssen.

Voll beherrsch­bar sind letzt­lich all jene Berei­che im Umfeld ärztli­chen Tuns, die von der Person des konkre­ten Patien­ten unabhän­gig und von den indivi­du­el­len Eigen­hei­ten seines Organis­mus nicht beein­flusst sind (BeckOK BGB/Katzenmeier, 57. Ed. 1.2.2021, BGB § 630h Rn. 24).

Wie sind narko­ti­sierte Patien­ten vor Unfäl­len zu schüt­zen?

Der Zustand eines narko­ti­sier­ten Patien­ten muss nach der OP noch für einige Tage beobach­tet werden, da die Nachwir­kun­gen so lange anhal­ten können.

Den Ärzten und Kranken­pfle­ge­kräf­ten obliegt die Verant­wor­tung, den Patien­ten nach einer OP fachge­recht zu betreuen und Kompli­ka­tio­nen sowie Verlet­zun­gen aufgrund der Nachwir­kun­gen zu vermei­den. Auch bei Lokal­an­äs­the­sien tragen die Patien­ten häufig leichte Neben­wir­kun­gen mit sich.

Patien­ten neigen häufig dazu, nach einer ambulan­ten Opera­tion selbst mit dem Auto nach Hause zu fahren. Kommt es hierbei aufgrund von Kreis­lauf­be­schwer­den zu einem Unfall, so trägt der Arzt, bezie­hungs­weise die zustän­di­gen Pflege­kräfte, daran Schuld, da er die Fahrt hätte verhin­dern müssen.

Auch Bettgit­ter am Aufwach­bett zur Sturz­si­che­rung sind eine Maßnahme, schwe­ren Unfäl­len nach einer Narkose vorzu­beu­gen. Was passie­ren kann, wenn die Bettgit­ter fehlen, lesen Sie im nächs­ten Abschnitt. Das Landge­richt Dortmund hat ein Kranken­haus dafür verur­teilt, den Sturz eines narko­ti­sier­ten Patien­ten im Aufwach­raum nicht durch geeig­nete Maßnah­men verhin­dert zu haben (Urteil vom 4. März 2021 – 4 O 152/19).

Gegen­über den Schutz­maß­nah­men steht jedoch immer das Persön­lich­keits- und Freiheits­recht des Patien­ten. Diese Rechte greifen auch dann, wenn der Patient aufgrund der Betäu­bung nicht bei vollem Bewusst­sein ist.

Tipp: Aus der haftungs­recht­li­chen Perspek­tive empfiehlt es sich, die Einwil­li­gung des Patien­ten zum Hochzie­hen des Bettgit­ters in der postope­ra­ti­ven Phase, verse­hen mit einem entspre­chen­den Aufklä­rungs­hin­weis über die Gefah­ren, die sich aus einem Sturz aus dem Bett im narko­ti­sier­ten Zustand ergeben können, vor der Opera­tion schrift­lich einzu­ho­len.

Fallbei­spiel: Sturz nach Narkose-OP im Aufwach­raum

Der 71-jährige Kläger hatte sich im Sommer 2017 einer Artho­sko­pie im linken Knie auf der Station der Beklag­ten unter­zo­gen. Die Opera­tion wurde in Allge­mein­nar­kose durch­ge­führt. Nach der OP wurde der Kläger in den Aufwach­raum gebracht, wo es zum Sturz aus dem Bett kam. Am Bett waren keine Gitter befes­tigt.

Beim Sturz schlug der Kläger mit dem Kopf auf dem Fußbo­den auf. Die ersten Folgen waren eine Prell­marke im Stirn­be­reich, ein abgebro­che­ner Zahn, eine schlaffe Parese des linken Arms, Kribbel­par­äs­the­sien in den übrigen Extre­mi­tä­ten sowie eine Rücken­marksprel­lung.

Weiter­hin leidet der Kläger seitdem unter einer Harnbla­sen- und Mastdarm­ent­lee­rungs­stö­rung mit Inkon­ti­nenz, Deaffe­ren­tie­rungs­schmerz, leicht kogni­ti­ven Funkti­ons­ein­schrän­kun­gen und einer schwe­ren motori­schen Beein­träch­ti­gung, allen voran dem Verlust der Gehfä­hig­keit, worauf­hin er über 8 Monate statio­när in der Berufs­ge­nos­sen­schaft­li­chen Unfall­kli­nik behan­delt werden musste.

Bei seiner Entlas­sung am 3. April 2018 sei der Patient laut des Berichts mit einem Rolla­tor auf der Station mobil gewesen. Der Kläger jedoch gab an, seit diesem schädi­gen­den Erieg­nis 24/7 pflege­be­dürf­tig zu sein, sich nur sehr langsam bewegen zu können und bei der Fortbe­we­gung mit dem Rolla­tor starke Schmer­zen zu verspü­ren. Autofah­ren sei ihm wie auch diverse Haushalts- und Garten­tä­tig­kei­ten nicht möglich und auch bei der Körper­hy­giene und beim Essen benötige er tatkräf­tige Unter­stüt­zung und sei Medika­ment­ab­hän­gig. Vor seinem Sturz habe der Patient als Rentner ein norma­les, sport­li­ches und unbeschränk­tes Leben führen können.

Der Kläger begehrte vor dem Gericht eine Schadens­er­satz­zah­lung in Höhe von 300.000 Euro. Weiter­hin forderte er von der Beklag­ten die Zahlun­gen der Haushalts­füh­rungs-/Pfle­ge­mehr­be­darfs­schä­den…

  • …von 903 Euro bis zu seinem 75. Lebens­jahr ab dem 1. April 2018
  • …in Höhe von 10.800 Euro für den Zeitraum vom 1. April 2018 bis zum 31. März 2019
  • …über 1.000 Euro für entstan­dene Pflege‑, Hilfsmittel‑, Fahrt- und Medika­ments­kos­ten

Die Beklagte wieß Schuld­zu­wei­sun­gen ob einer Sorgfalts­pflicht­ver­let­zung von sich. Die Narkose des Patien­ten sei unauf­fäl­lig verlau­fen und auch koope­ra­tiv und kogni­tiv sei der Kläger im Wachzu­stand vor dem Unfall komplett bei sich gewesen.

Narkose und fehlende Siche­rung für den Sturz verant­wort­lich

Die Klage des Patien­ten ist berech­tigt. Die Behand­lung des Klägers im Aufwach­raum war tatsäch­lich fehler­haft. Der Anspruch ergibt sich für en Kläger aus §§ 630a, 280, 278, 31, 249, 253 BGB bezie­hungs­weise §§ 823, 31, 831, 249, 253 BGB.

Der Kläger ist nicht, wie von der Beklag­ten behaup­tet, „eigen­ver­schul­det im Schlaf“ aus dem Bett gefal­len. Vielmehr stand der Kläger noch unter der Einwir­kung des Narko­se­mit­tels. Er habe sich deswe­gen beim Sturz nicht abfan­gen können, die Betäu­bung unter­drückte jegli­chen Schutz­re­flex, sodass er mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Aus diesem Grund wiegen die Verlet­zun­gen des Patien­ten so schwer.

Sturz hätte verhin­dert werden müssen

Der Fall des Klägers ist dabei dem Bereich des voll beherrsch­ba­ren Risikos zuzuord­nen. Der Kläger befand sich aufgrund der Nachwir­kun­gen der Narkose sowie der dadurch beding­ten grund­sätz­li­chen Sturz­ge­fähr­dung in einer konkre­ten, eine beson­dere Siche­rungs­pflicht des Perso­nals der Beklag­ten auslö­sen­den pflege­ri­schen Maßnahme.

An dieser war auch das Pflege­per­so­nal unmit­tel­bar betei­ligt, da ein Patient nach Narko­sen zwingend notwen­dig im Aufwach­raum zu überwa­chen ist, der nach den Ausfüh­run­gen des Sachver­stän­di­gen nicht nur der recht­zei­ti­gen Erken­nung und Behand­lung von Kompli­ka­tio­nen nach diagnos­ti­schen und thera­peu­ti­schen Eingrif­fen unter Allge­mein- oder Regio­nal­an­äs­the­sie dient, sondern auch der Einlei­tung einer adäqua­ten Schmerz­the­ra­pie, der Behand­lung von Übelkeit und Erbre­chen sowie von Störun­gen der Körper­tem­pe­ra­tur.

Ein Beweis, dass von ärztli­cher Seite alle verfüg­ba­ren Maßnah­men zur Sturz­ver­hin­de­rung ergrif­fen worden sind, konnte die Beklagte nicht erbrin­gen. Eine sorgfäl­tige Beobach­tung des Patien­ten im Aufwach­raum fand nicht statt.

Zudem waren keine Bettgit­ter am Aufwach­bett befes­tigt worden. Die Anwei­sung, dass Bettgit­ter nur bei unruhi­gen Patien­ten anzubrin­gen seien griff in diesem Fall nicht. Laut des Sachver­stän­di­gers drehen sich Knie-OP-Patien­ten in der Nacht überaus häufig, ein Sturz sei daher jeder­zeit anzuneh­men gewesen. Durch das Weglas­sen der Bettgit­ter wurde ein Unfall­ri­siko billi­gend in Kauf genom­men. Dagegen spricht auch nicht das Argument der Freiheits­be­rau­bung.

Die Kammer ist der Ansicht, dass der Sturz durch ein Bettgit­ter defini­tiv verhin­dert worden wäre und gibt den Schmer­zens­geld- und Schadens­er­satz­an­sprü­chen des Klägers recht.

Hinweis: Gegen die Entschei­dung wurde Berufung vor dem OLG Hamm einge­legt.