Welche Nachwirkungen kann eine Narkose nach sich ziehen?
Durch eine Narkose wird das Bewusstsein eines Patienten für einen mehrtägigen Zeitraum eingeschränkt. Sie sind beim Ausschleusen aus dem OP zwar ansprechbar (sogenannte „Awareness“), schlafen aber im Anschluss häufig wieder ein (vergleichbar auch mit intraoperativen Wachzuständen).
Folgende Symptome sind typische Nachwirkungen einer Vollnarkose:
- Schwindel, Übelkeit, Erbrechen
- Kreislaufstörungen
- Halsschmerzen und Heiserkeit
- Müdigkeit
- selten Blutdruck- und Herzrhythmusstörungen
Durch die Auswirkungen des Betäubungsverfahrens auf die vitalen Funktionen kann der Patient nach Anästhesien im Zusammenhang mit diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen noch für einige Zeit akut gefährdet sein. Stürze in dieser Phase der akuten Gefährdung müssen verhindert werden und werden dem Bereich des voll beherrschbaren Risikos zugeordnet.
Was ist ein voll beherrschbares Risiko?
Von einem voll beherrschbaren Risiko spricht man bei einem ärztlichen oder pflegerischen Fehler, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, wobei der Arzt oder die Pflegekraft jedoch die Beherrschung über die Situation gehabt hat, eine Verletzung des Körpers und der Gesundheit des Patienten also durch pflegerische Maßnahmen verhindern hätte können.
Voll beherrschbare Risiken sind Behandlungsrisiken, die durch die Tätigkeiten im Praxisbetrieb, beispiesweise bei OPs, hervorgerufen werden, aber durch eine ordnungsgemäße Beobachtung und mit entsprechenden Maßnahmen verhindert werden müssen.
Voll beherrschbar sind letztlich all jene Bereiche im Umfeld ärztlichen Tuns, die von der Person des konkreten Patienten unabhängig und von den individuellen Eigenheiten seines Organismus nicht beeinflusst sind (BeckOK BGB/Katzenmeier, 57. Ed. 1.2.2021, BGB § 630h Rn. 24).
Wie sind narkotisierte Patienten vor Unfällen zu schützen?
Der Zustand eines narkotisierten Patienten muss nach der OP noch für einige Tage beobachtet werden, da die Nachwirkungen so lange anhalten können.
Den Ärzten und Krankenpflegekräften obliegt die Verantwortung, den Patienten nach einer OP fachgerecht zu betreuen und Komplikationen sowie Verletzungen aufgrund der Nachwirkungen zu vermeiden. Auch bei Lokalanästhesien tragen die Patienten häufig leichte Nebenwirkungen mit sich.
Patienten neigen häufig dazu, nach einer ambulanten Operation selbst mit dem Auto nach Hause zu fahren. Kommt es hierbei aufgrund von Kreislaufbeschwerden zu einem Unfall, so trägt der Arzt, beziehungsweise die zuständigen Pflegekräfte, daran Schuld, da er die Fahrt hätte verhindern müssen.
Auch Bettgitter am Aufwachbett zur Sturzsicherung sind eine Maßnahme, schweren Unfällen nach einer Narkose vorzubeugen. Was passieren kann, wenn die Bettgitter fehlen, lesen Sie im nächsten Abschnitt. Das Landgericht Dortmund hat ein Krankenhaus dafür verurteilt, den Sturz eines narkotisierten Patienten im Aufwachraum nicht durch geeignete Maßnahmen verhindert zu haben (Urteil vom 4. März 2021 – 4 O 152/19).
Gegenüber den Schutzmaßnahmen steht jedoch immer das Persönlichkeits- und Freiheitsrecht des Patienten. Diese Rechte greifen auch dann, wenn der Patient aufgrund der Betäubung nicht bei vollem Bewusstsein ist.
Tipp: Aus der haftungsrechtlichen Perspektive empfiehlt es sich, die Einwilligung des Patienten zum Hochziehen des Bettgitters in der postoperativen Phase, versehen mit einem entsprechenden Aufklärungshinweis über die Gefahren, die sich aus einem Sturz aus dem Bett im narkotisierten Zustand ergeben können, vor der Operation schriftlich einzuholen.
Fallbeispiel: Sturz nach Narkose-OP im Aufwachraum
Der 71-jährige Kläger hatte sich im Sommer 2017 einer Arthoskopie im linken Knie auf der Station der Beklagten unterzogen. Die Operation wurde in Allgemeinnarkose durchgeführt. Nach der OP wurde der Kläger in den Aufwachraum gebracht, wo es zum Sturz aus dem Bett kam. Am Bett waren keine Gitter befestigt.
Beim Sturz schlug der Kläger mit dem Kopf auf dem Fußboden auf. Die ersten Folgen waren eine Prellmarke im Stirnbereich, ein abgebrochener Zahn, eine schlaffe Parese des linken Arms, Kribbelparästhesien in den übrigen Extremitäten sowie eine Rückenmarksprellung.
Weiterhin leidet der Kläger seitdem unter einer Harnblasen- und Mastdarmentleerungsstörung mit Inkontinenz, Deafferentierungsschmerz, leicht kognitiven Funktionseinschränkungen und einer schweren motorischen Beeinträchtigung, allen voran dem Verlust der Gehfähigkeit, woraufhin er über 8 Monate stationär in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik behandelt werden musste.
Bei seiner Entlassung am 3. April 2018 sei der Patient laut des Berichts mit einem Rollator auf der Station mobil gewesen. Der Kläger jedoch gab an, seit diesem schädigenden Eriegnis 24/7 pflegebedürftig zu sein, sich nur sehr langsam bewegen zu können und bei der Fortbewegung mit dem Rollator starke Schmerzen zu verspüren. Autofahren sei ihm wie auch diverse Haushalts- und Gartentätigkeiten nicht möglich und auch bei der Körperhygiene und beim Essen benötige er tatkräftige Unterstützung und sei Medikamentabhängig. Vor seinem Sturz habe der Patient als Rentner ein normales, sportliches und unbeschränktes Leben führen können.
Der Kläger begehrte vor dem Gericht eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 300.000 Euro. Weiterhin forderte er von der Beklagten die Zahlungen der Haushaltsführungs-/Pflegemehrbedarfsschäden…
- …von 903 Euro bis zu seinem 75. Lebensjahr ab dem 1. April 2018
- …in Höhe von 10.800 Euro für den Zeitraum vom 1. April 2018 bis zum 31. März 2019
- …über 1.000 Euro für entstandene Pflege‑, Hilfsmittel‑, Fahrt- und Medikamentskosten
Die Beklagte wieß Schuldzuweisungen ob einer Sorgfaltspflichtverletzung von sich. Die Narkose des Patienten sei unauffällig verlaufen und auch kooperativ und kognitiv sei der Kläger im Wachzustand vor dem Unfall komplett bei sich gewesen.
Narkose und fehlende Sicherung für den Sturz verantwortlich
Die Klage des Patienten ist berechtigt. Die Behandlung des Klägers im Aufwachraum war tatsächlich fehlerhaft. Der Anspruch ergibt sich für en Kläger aus §§ 630a, 280, 278, 31, 249, 253 BGB beziehungsweise §§ 823, 31, 831, 249, 253 BGB.
Der Kläger ist nicht, wie von der Beklagten behauptet, „eigenverschuldet im Schlaf“ aus dem Bett gefallen. Vielmehr stand der Kläger noch unter der Einwirkung des Narkosemittels. Er habe sich deswegen beim Sturz nicht abfangen können, die Betäubung unterdrückte jeglichen Schutzreflex, sodass er mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Aus diesem Grund wiegen die Verletzungen des Patienten so schwer.
Sturz hätte verhindert werden müssen
Der Fall des Klägers ist dabei dem Bereich des voll beherrschbaren Risikos zuzuordnen. Der Kläger befand sich aufgrund der Nachwirkungen der Narkose sowie der dadurch bedingten grundsätzlichen Sturzgefährdung in einer konkreten, eine besondere Sicherungspflicht des Personals der Beklagten auslösenden pflegerischen Maßnahme.
An dieser war auch das Pflegepersonal unmittelbar beteiligt, da ein Patient nach Narkosen zwingend notwendig im Aufwachraum zu überwachen ist, der nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht nur der rechtzeitigen Erkennung und Behandlung von Komplikationen nach diagnostischen und therapeutischen Eingriffen unter Allgemein- oder Regionalanästhesie dient, sondern auch der Einleitung einer adäquaten Schmerztherapie, der Behandlung von Übelkeit und Erbrechen sowie von Störungen der Körpertemperatur.
Ein Beweis, dass von ärztlicher Seite alle verfügbaren Maßnahmen zur Sturzverhinderung ergriffen worden sind, konnte die Beklagte nicht erbringen. Eine sorgfältige Beobachtung des Patienten im Aufwachraum fand nicht statt.
Zudem waren keine Bettgitter am Aufwachbett befestigt worden. Die Anweisung, dass Bettgitter nur bei unruhigen Patienten anzubringen seien griff in diesem Fall nicht. Laut des Sachverständigers drehen sich Knie-OP-Patienten in der Nacht überaus häufig, ein Sturz sei daher jederzeit anzunehmen gewesen. Durch das Weglassen der Bettgitter wurde ein Unfallrisiko billigend in Kauf genommen. Dagegen spricht auch nicht das Argument der Freiheitsberaubung.
Die Kammer ist der Ansicht, dass der Sturz durch ein Bettgitter definitiv verhindert worden wäre und gibt den Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüchen des Klägers recht.
Hinweis: Gegen die Entscheidung wurde Berufung vor dem OLG Hamm eingelegt.