Der Myom-Fall: Was war geschehen?
Im Myom-Fall geht es um eine Frau, bei der eine doppelfaustgroße Gebärmutterschwulst (Myom) festgestellt wurde. Der Chefarzt des Krankenhauses, in dem das Myom festgestellt wurde, riet ihr schließlich dazu, die Geschwulst operativ entfernen zu lassen. Sie willigte ein.
Die Operation übernahm der Chefarzt selbst. Doch erst während der Operation musste er feststellen, dass das Myom fest mit der Gebärmutter verwachsen war. Das Myom konnte somit nur dann entfernt werden, wenn die ganze Gebärmutter entfernt wird.
Einen solchen Fall hatte der Chefarzt allerdings nicht mit der Patientin abgesprochen. Von ihr hatte er nur die Einwilligung in die Entfernung des Myoms, nicht aber in die der gesamten Gebärmutter, falls nötig.
Trotzdem entschied er sich dazu, die Gebärmutter vollständig zu entfernen. Er nahm an, er würde damit im Sinne der Patientin handeln. Doch dem war nicht so.
Chefarzt wird zunächst freigesprochen
Mit einem so weitgehenden Eingriff war die Patientin nicht einverstanden. Vor Gericht klagte sie gegen den Arzt und warf ihm fahrlässige Körperverletzung vor.
Während das Landgericht Essen in erster Instanz den Tatbestand einer Körperverletzung als erfüllt ansah, stimmte es jedoch nicht der Auffassung zu, der Arzt habe die Einwilligung der Patientin fahrlässig angenommen.
Nach Auffassung des Gerichts hätte der Arzt sehr wohl davon ausgehen dürfen, die Patientin wäre mit dem Eingriff, wie er schließlich durchgeführt wurde, einverstanden gewesen.
Weil sie in den vorangegangenen Jahren bereits zwei Fachärzte zu Rate gezogen hatte, durfte der Chefarzt „mehr voraussetzen, als bei einem Laien auf medizinischem Gebiet sonst zu erwarten war“.
Außerdem wollte der Arzt die Patientin nicht über das Notwendigste hinaus beunruhigen. Deshalb habe er nichts von einer notfalls erforderlichen Entfernung der Gebärmutter erwähnt.
Aus diesen Überlegungen folgte zunächst der Freispruch des Chefarztes. Doch die Patientin ging in Revision. Der Bundesgerichtshof wertete den Fall schließlich anders.
Bundesgerichtshof stellt schließlich Schuld fest
Der Bundesgerichtshof ist der Ansicht, dass die Überlegungen des Landesgerichts einige Fragen offen lassen:
Hätte der Chefarzt nicht schon bei der Besprechung des Eingriffs daran denken können, dass das Myom möglicherweise fest mit der Gebärmutter verwachsen sein könnte, was die vollständige Entfernung nötig machen würde? Und wäre er dann nicht verpflichtet gewesen, die Patientin auf diese Möglichkeit hinzuweisen und ihr zusätzliches Einverständnis für diesen folgenschweren Eingriff einzuholen?
Für den Bundesgerichtshof gibt es keine Rechtfertigung für die Annahme des Chefarztes, die Patientin wäre sicherlich damit einverstanden, dass ihr notfalls die Gebärmutter vollständig entfernt wird.
Der Arzt hätte bedenken müssen, dass die Patientin lieber mit dem Myom an der Gebärmutter leben würde als ohne das gesamte Organ. Auch dann, wenn der Zustand mit Myom möglicherweise lebensbedrohlich wäre und die Patientin auch ohne das Organ leben könnte.
Patientin hat Recht auf körperliche Unversehrtheit
In Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass eine Operation immer auch einen solchen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Patienten bedeutet.
Entsprechend gilt der Artikel auch dann, wenn eine Patientin ihre körperliche Unversehrtheit nicht aufgeben möchte. Selbst, wenn dadurch ihr Leben gerettet wird.
Der Arzt hat sich somit zum Richter darüber gemacht, unter welchen Umständen die Patientin ihre körperliche Unversehrtheit aufgeben sollte.
Es ist zwar sein Recht und seine Pflicht Menschen zu heilen. Das Selbstbestimmungsrecht der Patientin begrenzt aber die ärztlichen Pflichten.
BGH, 28.11.1957 – 4 StR 525/57
„Es wäre ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit, wenn ein Arzt – und sei es auch aus medizinisch berechtigten Gründen – eigenmächtig und selbstherrisch eine folgenschwere Operation bei einem Kranken, dessen Meinung rechtzeitig eingeholt werden kann, ohne dessen vorherige Billigung vornähme.“
Urteil: Chefarzt handelte fahrlässig
Der Bundesgerichtshof stellte schließlich eine fahrlässige Körperverletzung fest. Dass der Chefarzt fahrlässig gehandelt hat, bezieht sich in dem Fall nicht auf den Eingriff an sich.
Nach Beginn der Operation hätte der Arzt schlecht abbrechen können, um abzuwarten, bis er die zusätzliche Einwilligung der Patientin einholen kann.
Vielmehr handelte er fahrlässig, weil er vor der Operation nicht mit der Patientin über eine mögliche Entfernung der ganzen Gebärmutter gesprochen hat. Das brachte ihn schließlich in die schwierige Lage, während der OP nicht mehr nach ihrem Einverständnis fragen zu können.
Das Verhalten ist nicht damit zu rechtfertigen, dass er die Patientin nicht zusätzlich beunruhigen wollte. Eher ist hier eine falsch verstandene Rücksichtnahme festzustellen, die darin resultierte, dass der Chefarzt seine Patientin nicht ausreichend aufklärte.
Bedeutung des Falls für die mutmaßliche Einwilligung
Von einer mutmaßlichen Einwilligung wird immer dann gesprochen, wenn eine an sich urteilsfähige Person nicht mehr nach ihrer Zustimmung für einen Eingriff gefragt werden kann. Der Eingriff wird dann im mutmaßlichen Interesse der Person durchgeführt.
Der Myom-Fall ist dabei besonders relevant für mutmaßliche Einwilligungen im Bereich der Operationserweiterungen [1]. Der Fall zeigt, dass bei Operationserweiterungen in der Regel nur eine Einwilligung in die ursprüngliche Operation vorliegt.
Die Einwilligung für die Operationserweiterung indessen kann nur vorliegen, wenn der Patient im Rahmen der ärztlichen Aufklärung auch über diese Möglichkeit aufgeklärt wurde und seine ausdrückliche Einwilligung gegeben hat.
Im Sinne der Selbstbestimmung eines Patienten resultiert daraus, dass Eingriffe in der Regel aufgeschoben werden müssen, bis die Einwilligung auch für die Operationserweiterung eingeholt werden kann. So ist zumindest dann vorzugehen, wenn ein Abbruch der OP ohne Gefährdung für den Patienten möglich ist.
Ohne Einwilligung darf die Operationserweiterung nur dann vollzogen werden, wenn das Leben des Patienten im gegenwärtigen Moment in Gefahr ist.
FAQ
Was ist der Myom-Fall?
Beim Myom-Fall geht es um eine Patientin, bei der eine Gebärmutterschwulst (Myom) festgestellt und operativ entfernt werden sollte. Während der Operation stellte der Chefarzt fest, dass das Myom mit der Gebärmutter verwachsen war und entfernte daher die gesamte Gebärmutter, ohne die ausdrückliche Einwilligung der Patientin hierfür zu haben.
Der Bundesgerichtshof entschied, dass das Verhalten des Chefarztes eine fahrlässige Körperverletzung darstellt, weil der die Patientin nicht über die Möglichkeit der vollständigen Gebärmutterentfernung aufgeklärt hatte.
Was ist eine mutmaßliche Einwilligung?
Der Myom-Fall verdeutlicht die Bedeutung der mutmaßlichen Einwilligung bei der Operationserweiterung. Eine mutmaßliche Einwilligung liegt vor, wenn eine an sich urteilsfähige Person, nicht mehr in einen Eingriff einwilligen kann. Sie tritt häufig im Fall von Operationserweiterungen auf.
Dort liegt in der Regel nur eine Einwilligung in die ursprüngliche OP vor. Fehlt die Aufklärung und Zustimmung für die Operationserweiterung, darf der Eingriff nur vorgesetzt werden, wenn das Leben des Patienten gegenwärtig in Gefahr ist. Ansonsten muss der Eingriff abgebrochen und zu einem späteren Zeitpunkt eine Einwilligung eingeholt werden.
Warum handelte der Chefarzt fahrlässig?
Der Chefarzt handelte fahrlässig, weil er die Patientin vor der Operation nicht über die mögliche Notwendigkeit einer vollständigen Gebärmutterentfernung informierte und ihre ausdrückliche Einwilligung dafür nicht einholte. Dieses Versäumnis führte dazu, dass er während der Operation eigenmächtig eine weitreichende Entscheidung traf, ohne sicherzustellen, dass dies im Sinne der Patientin war. Zudem hätte er die Möglichkeit einer solchen Komplikation vorhersehen und die Patientin entsprechend aufklären müssen.
Fazit
Der Myom-Fall unterstreicht die Bedeutung der umfassenden Patientenaufklärung und der Einholung einer ausdrücklichen Einwilligung vor medizinischen Eingriffen, insbsondere bei möglichen Operationserweiterungen. Der Fall zeigt, dass selbst gut gemeinte medizinische Entscheidungen rechtlich problematisch sein können, wenn das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht gewahrt wird.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung der Patienten hat höchste Priorität und begrenzt die ärztlichen Pflichten. Ärzte müssen sicherstellen, dass sie alle möglichen Risiken und Konsequenzen eines Eingriffs klar und vollständig kommunizieren, um informierte Entscheidungen ihrer Patienten zu gewährleisten.
Quellen:
- BGH vom 28.11.1957 – 4 StR 525/57, BGHSt 11, 111
- Tsambikakis, Saliger (2022): Strafrecht Medizin. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. München: C.H. Beck, 89–91.