Der ehemalige Krankenpfleger Niels H. wurde im Juni 2019 wegen 85-fachen Mordes an Klinikpatienten in Oldenburg und Delmenhorst zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Rechtsdepesche berichtete bereits.
Nach der Verurteilung von Niels H. hat die Staatsanwaltschaft (StA) Oldenburg weiteren leitenden Mitarbeitern des Oldenburger Krankenhauses eine Mitverantwortung an den Tötungsdelikten durch Unterlassen in insgesamt 63 Fällen vorgeworfen.
Die Angeklagten
Zum besseren Verständnis des Artikel hier eine Übersicht der fünf angeklagten Personen des Oldenburger Klinikums:
- Der Angeschuldigte „AA“ war während des gesamten Handlungszeitraums Geschäftsführer des Klinikums
- Der Angeschuldigte „Prof. Dr. BB“ war während Niels H.s Tätigkeit im Oldenburger Klinikum ärztlicher Leiter der kardiochirurgischen Intensivstation 211
- Der Angeschuldigte „CC“ war auf der Station 211 Leiter des Bereichs Pflege und damit Niels H.s direkter Vorgesetzter
- Die Angeschuldigte „DD“ war während der gesamten Zeit Pflegedirektorin des Klinikums
- Der Angeschuldigte „Prof. Dr. EE“ war und ist ärztlicher Leiter der Anästhesieabteilung
Den Beteiligten „Prof. Dr. BB“ und „CC“ wird vorgeworfen, eine Mitschuld durch Unterlassen an drei Todesfällen (Nummer 1 bis 3) auf Station 211 im Oldenburger Klinikum zu tragen.
Den Angeschuldigten „Prof. Dr. EE“ soll in den 60 Todesfällen (Nummer 4 bis 63) im Klinikum Delmenhorst eine Mitschuld treffen.
Den Angeschuldigten „AA“ und „DD“ wird vorgeworfen, an allen 63 Fällen (Nummer 1 bis 63) eine Mitschuld zu tragen.
So kam es zu den Morden von Niels H.
Niels H. arbeitete von Juni 1999 bis Dezember 2002 als Krankenpfleger im Oldenburger Klinikum. In dieser Zeit war er bis zum 9.12.2001 auf der kardiochirurgischen Intensivstation 211 tätig. In dieser Zeit ermordete er in mindestens 31 Fällen Patienten durch nicht indizierte Beibringung verschiedener Medikamente.
Als die Angeschuldigten „AA“, „BB“, „CC“ und „DD“ es spätestens im Oktober 2001 für möglich erachteten, dass Niels H. die oben genannten Taten vollzogen haben könnte, griffen diese jedoch nicht ein und versetzten Niels H. zum 10.Dezember 2001 auf die Anästhesieabteilung im selben Klinikum.
Der dort tätige ärztliche Leiter „EE“ erkannte von Zeit zu Zeit, spätestens aber am 20.September 2002, dass Niels H. auch auf dieser Station Handlungen vornahm, die geeignet waren, den dort stationierten Patienten erhebliche Gesundheitsschäden zuzufügen und deren Leben zu gefährden. Typischerweise versetzte Niels H. die Patienten in reanimationspflichtige Zustände, wobei die Wiederbelebungsmaßnahmen nur in seltenen Fällen erfolgreich griffen.
Vorgesetzte griffen nicht ein – Beihilfe durch Unterlassen?
Obwohl die Angeschuldigten „AA“ und „DD“ im Oktober 2001, sowie „Prof. Dr. EE“ im September 2002 von den lebensbedrohliche Taten wussten, unternahmen sie nichts, um die Patienten vor Niels H. zu schützen, die Ermittlungsbehörden schalteten sie nicht ein.
Stattdessen sorgten sie dafür, dass der „Killer-Pfleger“ die Einrichtung „sang- und klanglos“ verließ. „Prof. Dr. EE“ habe Niels H. persönlich angeboten, ihn drei Monate lang unter Fortzahlung seiner Bezüge freizustellen. Zusätzlich dazu soll er ein sehr gutes Zeugnis erhalten, wenn er das Klinikum „freiwillig“ verlasse. Dieses wurde von der Pflegedirektorin „DD“ unterschrieben.
Mithilfe des Zeugnisses gelang es Niels H. problemlos, sich eine Stelle im Klinikum Delmenhorst zu verschaffen, wo er seine Taten in den Folgejahren fortsetzte.
Aus dem – insgesamt pflichtwidrigen – Vorverhalten resultierte nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Oldenburg eine Verpflichtung der Angeschuldigten „AA“, „DD“ und „Prof. Dr. EE“, die von Niels H. ausgehende Gefahr für die Patienten zu unterbinden. Da dies nicht geschah, konnte Niels H. im späteren Verlauf weitere Morde an Patienten des Delmenhorster Klinikums zu verüben.
Die Morde und Mordversuche hätten laut Staatsanwaltschaft verhindert werden können, indem man die Ermittlungsbehörden über die Verdachtslage informiert, oder Niels H. ohne die Ausstellung eines guten Zeugnisses freigestellt hätte.
Die fünf Angeschuldigten des Oldenburger Klinikums hätten, trotz der Kenntnisse über die Gefahr, die Taten von Niels H. nicht verhindert, sondern sich – mit beiden Augen zugedrückt – damit abgefunden. Grund dafür sei die Tatsache gewesen, dass die Oldenburger Klinik bereits aufgrund zweier Skandale in die Medien geraten war und die Verantwortlichen eine weitere schlechte Reputation der Einrichtung verhindern wollten.
Anklage nur in drei Todesfällen zulässig
Das Schwurgericht des LG Oldenburg hat der Anklage der Staatsanwaltschaft nur in Bezug auf die drei Todesfälle in Oldenburg (Nummer 1 bis 3) stattgegeben. Wegen der 60 Fälle in Delmenhorst ist die Anklage nicht zugelassen worden.
Laut des LG bestand für die Mitarbeiter des Oldenburger Klinikums gegenüber den Patienten in Delmenhorst keine rechtliche Pflicht zum Handeln. Es fehle hierbei an der sogenannten „Garantenstellung“, die für die Verurteilung bei Unterlassungsdelikten rechtlich erforderlich sei.
Die Entscheidung des LG wurde auf Beschwerde der Kläger vom OLG Oldenburg in einem Urteil vom 23.7.2021 bestärkt. Die Anklage gegen die drei Angeschuldigten „AA“, „DD“ und „Prof. Dr. EE“ wurde zu Recht abgelehnt. Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit dieser drei Beteiligten für die Tötungen in Delmenhorst folgt weder aus einem aktiven Tun, noch aus einem – die Garantenstellung erforderndem – Unterlassen.
Somit beläuft sich die Anklage auf eine mögliche Mitschuld der Beteilgten „AA“, „Prof. Dr. BB“, „CC“ und „DD“ an den drei Morden im Klinikum Oldenburg. Der Fall wird in dem vom Schwurgericht gebilligtem Umfang demnächst vor dem Landgericht Oldenburg verhandelt.
Keine Garantenstellung von „AA“, „DD“ und „Prof. Dr. EE“
Bezüglich der Morde im Delmenhorster Klinikum liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Unterlassen. Nach diesem Vorwurf sind die Angeschuldigten nur dann für den Tod der Patienten verantwortlich, wenn sie nach § 13 Absatz 1 StGB rechtlich dafür einzustehen haben und wenn das Unterlassen mit der Verwirklichung des Tatbestands durch ein aktives Tun gleichzusetzen ist.
Die Nichterwähnung der gegen Niels H. bestehenden Verdachtsmomente im Zeugnis kann zwar als Vorwurf des Unterlassens dahingestellt werden, ein aktives Tun ist im Fall um die Morde von Niels H. allenfalls bei der Erstellung des Zeugnisses zu betrachten. Dies ist jedoch für sich genommen aufgrund eines fehlenden „Pflichtwidrigkeitszusammenhangs“ nicht strafbar oder pflichtwidrig.
Eine Strafbarkeit durch aktives Tun kommt ebenfalls nicht nach den Grundsätzen zur Beihilfestrafbarkeit durch sogenanntes „berufstypisches“ oder „neutrales“ Verhalten in Betracht. Dies wäre dann der Fall, wenn der Hilfeleistende wissentlich einen Tatbeitrag zu strafbaren Handlungen des Haupttäters erbringt. Allerdings lässt sich dies nicht ohne Weiteres auf Unterlassungsdelikte übertragen.
Ein Nicht-Handeln ist für sich genommen immer „neutral“. Außerdem ist in den Fällen der Beihilfe durch Unterlassen das Erfordernis einer Garantenstellung zu verlangen. Die Garantenstellung nimmt die Mitarbeiter des Gesundheitssektors in die Pflicht, durch ihr Handeln für den Schutz der Patienten, oder umgekehrt, als „Garanten“ für die Abwendung von strafbaren oder patientengefährdenden Handungen zu sorgen.
Eine Garantenstellung hat sich im Strafverfahren gegen die leitenden Klinikmitarbeiter in Bezug auf die Tötungsdelikte in Delmenhorst weder aus dem Gesetz, noch aus der Gewährübernahme oder aus pflichtwidrigem Verhalten der Angeschuldigten „AA“, „DD“ und „Prof. EE“ ergeben. Nicht-Handeln ist demnach nicht als strafbare Beihilfe durch Unterlassen gewertet worden, dafür die Angeschuldigten aus keinem Gesichtspunkt eine rechtliche Pflicht zum Handeln bestand. Für die Morde in Delmenhorst können die Mitarbeiter des Oldenburger Klinikums demnach nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Im Falle der Angeschuldigten „AA“, „Prof. Dr. BB“, „CC“ und „DD“ im Bezug auf die drei Morde (Nummer 1 bis 3) im Oldenburger Klinikum ist hingegen im Hauptverfahren die strafrechtliche Verantwortung zu ermitteln.
Eine ausführliche Darstellung des Beschlussverfahrens ist in der Ausgabe November/Dezember 2021 der Rechtsdepesche nachzulesen.