Mindestlohn nur in Ausnahmefällen? Das beliebte Versorgungsmodell mit osteuropäischen Pflegekräften, die für vergleichbar wenig Geld bei ihren Betreuten wohnen, sie rundum verpflegen und bei Bedarf rund um die Uhr zur Stelle sind, wird juristisch in Frage gestellt.
Zumindest aber wird es erheblich teurer als bisher: Wer als sogenannte 24-Stunden-Pflegekraft pflegebedürftige Menschen von morgens bis abends betreut, und sich für Notfälle bei den Betreuten auch nachts bereithalten muss, hat Anspruch auf den Mindestlohn über die tatsächlich geleistete Arbeits- und Bereitschaftszeit – also im Prinzip auf eine Vergütung rund um die Uhr.
Mindestlohn: Nur ein Bruchteil ausbezahlt
In diesem Sinne entschied das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg zugunsten einer Pflegerin aus Bulgarien, die in Deutschland als häusliche Pflegekraft eingesetzt war. (Az.: 21 Sa 1900/19).
Gemäß des Urteils habe diese nun Anspruch auf fast 43.000 Euro als Arbeitslohn für ihre siebenmonatige Einsatzzeit in Deutschland. Weil sie von ihrem bulgarischen Arbeitgeber nur knapp 7.000 Euro ausgezahlt bekommen habe – die ihrer ursprünglich vertraglich vereinbarten Arbeitszeit entsprachen –, stünde ihr nun eine Nachzahlung von knapp 36.000 Euro zu.
Arbeit von früh morgens bis spät abends – und nachts Bereitschaftsdienst
Die Frau war bei einer 90-jährigen Seniorin eingesetzt worden, die in einer Seniorenwohnanlage in Berlin lebt. Um sie rund um die Uhr versorgen zu können, zog die Pflegerin bei der älteren Dame ein. Von 6 Uhr morgens bis 22 oder 23 Uhr nachts unterstützte sie ihre Betreute mit Körperpflege, Hilfe beim Essen, der Führung des Haushalts und Gesellschaftleisten. Für den Fall, dass die Seniorin auch während der Nachtstunden Hilfe benötigte, musste sie ebenfalls zur Stelle sein.
Ihr bulgarischer Arbeitgeber hatte sie über einen Vertrag mit einer deutschen Vermittlungsagentur entsandt. Diese warb bereits in der Öffentlichkeit mit dem Angebot „24-Stunden-Pflege zu Hause“. Im Vertrag mit der Pflegebedürftigen hatte sich die Pflegerin zu einer umfassenden Betreuung, einschließlich der Haushaltsführung bei der Betreuten, verpflichtet. Dagegen war im Pflegevertrag mit der Seniorin jedoch nur eine Arbeitszeit von 30 Stunden pro Woche festgehalten – die, wie man sich denken kann, im buchstäblichen Sinne „nur auf dem Papier standen“. Spätestens am Dienstagnachmittag dürfte das vertraglich vereinbarte Wochenpensum an Arbeitszeit bereits „aufgebraucht“ gewesen sein.
Arbeitgeberfirma bezog sich auf vertraglich vereinbarte Arbeitszeit
Aufgrund der Diskrepanz zwischen vertraglich vereinbarter und der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit zog die Pflegerin vor Gericht. Sie habe de facto rund um die Uhr die Betreuung der älteren Dame sichergestellt und habe deshalb für die gesamte Zeit einen Anspruch auf den Mindestlohn. Der Arbeitgeber hatte die behaupteten Arbeitszeiten bestritten und sich auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit – die 30 Stunden wöchentlich – berufen und zurückgezogen.
Das Gericht gab der Bulgarin zum allergrößten Teil Recht: Die Klägerin habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme neben ihren vergüteten Arbeitszeiten in erheblichem Umfang vergütungspflichtige Bereitschaftszeiten zur Sicherstellung der Betreuung erbringen müssen, so das Gericht. In den Zeiten, zu denen sich keine andere Person zur Betreuung in der Wohnung der älteren Dame aufgehalten habe, sei die Klägerin verpflichtet gewesen, die Betreuung für den Fall der Fälle sicherzustellen. Lediglich für einen kleinen Teil der von der Klägerin angeführten Arbeitszeit wies das Gericht die Klage ab. Hierbei handelte es sich um Zeiten, welche die Seniorin mit Familienangehörigen in ihrer Wohnung oder im Restaurant verbracht habe; hierfür ließe sich keine Arbeitsbereitschaft herleiten.
Ähnlicher Fall aus dem Jahr 2020
Das aktuelle Urteil erinnert an einen sehr ähnlich gelagerten Fall, den das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg bereits 2020 verhandelt hatte. Auch damals ging es um eine 24-Stunden-Pflegekraft aus Bulgarien, die ihre Ansprüche geltend machte. Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt, das sich ebenfalls mit dem Fall beschäftigt hatte, bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz ein Jahr später. Damals legte das Gericht die tatsächliche Arbeitszeit auf 21 Stunden täglich fest, wobei die nächtliche Arbeitsbereitschafts-Leistung anteilig einfloss.
Im nun vorliegenden Fall hat das Landesarbeitsgericht die Revision zum Bundesarbeitsgericht nicht zugelassen. Es besteht jedoch für die unterlegene Seite die Möglichkeit, Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen.