In ihrem einleitenden Vortrag berichtete Dr. Anya Miller über die Bedeutung einer individuellen Versorgung in der Behandlung lymphologischer Patienten. Anders als der Arzt in der herkömmlichen Therapie, der sich beim Auftreten eines Effekts fragt: Wo kommt das her?, interessiere den Lymphtherapeuten bei der Behandlung: Wo geht es hin?, so erläuterte die Berliner Ärztin. Die „hohe Wissenschaft der Lymphologie“ widme sich unter dieser Fragestellung einem Krankheitsbild, das wissenschaftlich nicht zu beweisen sei. Das bekannte Stemmer-Zeichen, beim Versuch die Haut am Gelenk des zweiten Zehs anzuheben, biete einen Anhaltspunkt. Aber im Wesentlichen läge die Diagnose sprichwörtlich in den Händen des Therapeuten, so Miller. Ein Großteil der Lymphprobleme werde durch einfaches Hinfassen offenbar. Die zugrundeliegende Fragestellung laute hierbei: „Wird es dick? Wann wird es dick? Wie dick wird es?“
Ergänzende Versorgung
Oft werden Lymphprobleme von Hautschädigungen begleitet, weshalb eine adäquate und individuelle Hautpflege Bestandteil der Therapie sein sollte. Nicht entsprechend versorgte Hautprobleme können durch eine Kompressionstherapie zusätzlich verstärkt werden, die immer mit einer Lymphtherapie einhergehen sollte. Insgesamt findet eine die Lymphtherapie begleitende Kompressionsversorgung mit Bandagen oder medizinischen Kompressionsstrümpfen aber zu selten statt, so Miller. Manche Patienten, die sich beispielsweise in der Apotheke beraten lassen, verfügen zum Teil über Präparate. Zur Therapie des Lymphödems gebe es, Miller zu Folge, jedoch keine Medikamente. Ebenso wenig steht eine „Standard-Operation“ zur Verfügung.
Unklare Evidenzlage
Die Evidenzlage für die Lymphtherapie ist unklar. Das macht es wiederum schwierig, gegenüber den Kostenträgern zu argumentieren, denn die Krankenkassen bevorzugen abbildbare und beschreibbare wirtschaftsökonomische Größen. Es handelt sich generell um eine teure und längerfristige Maßnahme, die sich oft wiederholende Anwendungen beinhaltet. Bei den Betroffenen wird in diesem Zusammenhang beobachtet, dass die entstauenden Maßnahmen des Lymphtherapeuten als Massage mit Wellness-Benefit angesehen werden und sehr beliebt sind. Auch die manchmal begleitend angewendete Intermittierende pneumatische Kompressionstherapie (IPK, früher: Apparative intermittierende Kompressionstherapie – AIK) wird gut toleriert. Das notwendige begleitende Tragen der Medizinischen Kompressionsstrümpfe (MKS) ist hingegen sehr unbeliebt. Es wäre nach Ansicht der Expertengruppe wünschenswert, wenn der Patient sich aus seinem „Massage-Rhythmus“ löst und das Tragen der MKS so selbstverständlich empfindet, wie das Tragen einer Brille.
Eine klare Evidenzlage, wie bei Arzneimitteln, gibt es bei medizinischen Kompressionsstrümpfen nicht. Das liegt nach Ansicht der Expertengruppe im Verantwortungsbereich der herstellenden Industrie. Diese zeigt kein unmittelbares Interesse an der Ausgestaltung und Durchführung aufwändiger Studien, die zum einen kostspielig, zum anderen unnötig wären. Umfangreiche Wirksamkeitsnachweise, wie etwa bei Pharmazeutika, sind bei MKS nicht notwendig. Ohne belastbare Studien lässt sich wiederum eine Evidenz nicht beschreiben. Doch zur Abschätzung der aktuellen Versorgungslage fehlt es leider an konkreten Zahlen. Generell lässt sich aber feststellen, dass viele Materialien inadäquat verwendet werden. Manche Betroffene bekommen mehr als sie benötigen, viele erhalten wenig oder keine angemessene Versorgung. In manchen Fällen ist das zumindest initial kein Versäumnis der Versorger, so Miller. „Das mit den Strümpfen geht bei mir nicht“, fasst ihrer Erfahrung nach eine oft erlebte Einstellung der Patienten gut zusammen. Die Expertengruppe schätzt, dass ein Materialwert von 80 Millionen Euro an MKS daher ungenützt in deutschen Schränken gelagert wird.
Kompressionstherapie im Blick behalten
Meistens kommen in der begleitenden Kompressionstherapie bei Lymphpatienten MKS der Kompressionsklassen (KKL) I und II zum Einsatz, seltener Modelle der KKL III. Die Expertengruppe ist sich einig, dass höhere Klassen schwerer anzuziehen und unkomfortabler zu tragen sind. Höhere Kompressionsklassen werden schlechter von den Betroffenen toleriert. Der Trend entwickelt sich nach Ansicht der Expertengruppe daher hin zu den niedrigeren KKL. Verschiedene Modelle haben zudem unterschiedliche Effekte auf den Kompressionsdruck, der entsteht, wenn das Bein in Bewegung ist: den sogenannten Arbeitsdruck. Es wurde festgestellt, dass Flachstrickstrümpfe der KKL I vom Arbeitsdruck hier genauso effizient sind, wie Rundstrickstrümpfe der KKL III. In der Lymphtherapie kommen größtenteils flachgestrickte Kompressionsstrümpfe zum Einsatz, die optimal an außergewöhnliche Niveau-Unterschiede der behandelten Extremität anzupassen sind. Im Rundstrickverfahren bleibt die Anzahl der Maschen bei der Herstellung eines Strumpfes gleich. Daher ist dieser nur sehr eingeschränkt an variierende Beinumfänge anpassbar. Der Vorteil des Rundstrickverfahrens ist, dass diese Strümpfe keine Nähte haben, die sich insbesondere bei MKS höherer KKL schmerzhaft abdrücken, die angespannte Lebenssituation des Patienten weiter belasten und sogar Schädigungen auslösen können. „Nähte zu vermeiden ist derzeit die Prämisse der herstellenden Industrie“, betonte Miller.
Erst entstauen, dann erhalten
Die Kompression der betroffenen Extremitäten ist ein wesentlicher Bestandteil der Lymphtherapie, sie schließt im Idealfall immer zeitnah an die Entstauung an. Die Expertengruppe ist sich in diesem Zusammenhang einig, dass die Materialien der Kompressionstherapie nicht präventiv eingesetzt werden können. Ein Kompressionsstrumpf ist verschlissen, wenn er ein Jahr lang konsequent getragen wird. Eine Neuverordnung erfolgt halbjährlich. Die Expertengruppe sieht es allerdings als lebensfern an, anzunehmen, dass ein Mensch sich mit zwei Paar Strümpfen adäquat kleiden kann und benennt die Möglichkeit zur häufigeren Verordnung als notwendige strukturelle Veränderung bei der Versorgung von Menschen mit lymphatischen Erkrankungen. Bei der Betrachtung weiterer bekannter oder bereits vorhandener Strukturen kam die Expertengruppe zu dem Schluss, dass es derzeit an Netzwerken, sowie an spezialisierten Kliniken oder Kompetenzzentren mangelt. Solche Netzwerke sollten sich an typischen Fragestellungen von Patienten und Versorgern orientieren: „Wo gibt es Hilfe?“ und „Wo sendet man den Patienten hin?“ und diese kompetent, zeit- und ortsnah beantworten können.
Expertengruppe Lymphtherapie nimmt den Faden auf
Die Expertengruppe bewertet das innerhalb der Ärzteschaft eerkennbare Problembewusstsein hinsichtlich der Lymphtherapie als positiv. Auf Seiten der Patienten sei ein Problembewusstsein jedoch noch nicht voraus zu setzen. Beide Seiten, Patienten und Ärzte sollten zu „einem Blick auf das Bein“ im Rahmen von Routineuntersuchungen angeregt werden, um die Versorgungslage von Menschen mit lymphatischen Erkrankungen zu verbessern. Die Therapie dieser Patienten ist eine multidisziplinäre Versorgungsform, an der verschiedene Behandler beteiligt sind. Grundlage der erfolgreichen Therapie von Menschen mit lymphatischen Erkrankungen ist der zeitnahe und professionelle Austausch aller Beteiligten in barrierefreier Kommunikation auf Augenhöhe. Das Starnberger Medical Data Institute (MDI) wird mit der neuen „Expertengruppe Lymphtherapie“ die aktuelle Versorgungssituation erfassen, Strukturen benennen und Möglichkeiten aufzeigen.
Quelle: Jan Hinnerk Timm/MDI