Seit Beginn der Coronapandemie stehen die Versäumnisse der Politik gegenüber dem deutschen Gesundheitssystem stärker im Fokus. Die dort vorherrschenden Probleme – schlechte Bezahlung, belastende Arbeitszeiten, fehlendes Personal und Nachwuchsmangel – sind seit langem bekannt.
Vor diesem Hintergrund wirkt Long Covid besonders bedrohlich: Denn auf die angespannte Situation im Gesundheitswesen rollt möglicherweise eine Welle von Long-Covid-Pflegefällen zu, deren Größe sich aufgrund der fehlenden Studienlage bisher kaum abschätzen lässt.
Auswirkungen auf das Gesundheitssystem
Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) warnte diesbezüglich in einem Interview mit der ZEIT: „Long Covid ist ein Riesenproblem. Wir haben nicht im Ansatz die Kapazität, die vielen Fälle zu versorgen. Es gibt nicht genügend spezialisierte Ärzte, nicht genügend Behandlungsplätze, wir haben noch keine Medikamente. Hier kommt wirklich etwas auf uns zu. Ich glaube, dass das Problem unterschätzt wird.“
Auch Kinder und Jugendliche sind betroffen. Zwar scheint Long Covid bisher auf sehr junge Menschen nur sehr geringe Auswirkungen zu haben. Spätestens aber mit Eintritt in die Pubertät können bei Jugendlichen ähnliche Probleme auftreten wie bei den erwachsenen Long-Covid-Patienten.
Bei ihnen spielt besonders der psychologische Faktor eine große Rolle. Schon seit Beginn der Pandemie werden immer wieder Stimmen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen laut, die ihre Jugend sowie Schul- und Studienzeit – die im Zuge der Coronapandemie und den damit verbundenen Lockdown-Maßnahmen erhebliche Einschränkungen hat erfahren müssen – mit den sorglosen Jahren früherer Generationen vergleichen.
Für eine Generation, die sich jetzt schon um viele Erlebnisse betrogen sieht, kann eine Long-Covid-Erkrankung – und damit die Aussicht, auch den Einstieg ins Berufsleben nur sehr eingeschränkt zu erleben – deshalb besonders belastend sein.
Zusatzfaktor Gesundheitssektor: Berufskrankheit bei Pflegenden
Für Menschen in Pflegeberufen ist eine Coronaerkrankung – und damit auch die Möglichkeit an Long Covid zu erkranken – deutlich wahrscheinlicher als für andere Berufsgruppen. Inzwischen wurde in Berufen, die mit einem erhöhten Infektionsrisiko einhergehen – wie beispielsweise Pflegeberufe, Erzieher in Kitas und Lehrkräfte an Schulen -, COVID-19 als Berufskrankheit anerkannt.
Allerdings gilt das noch nicht für etwaige Folgeschäden. Viele Versicherungen übernehmen diese Kosten aktuell nicht, da das Krankheitsbild noch zu wenig eindeutig ist.
Long Covid: Gefahr für das Rentensystem?
Die Auswirkungen von Long Covid auf Arbeitsmarkt und Rentensystem könnten drastisch sein. Long Covid trifft auch junge, sportlich aktive Menschen, die normalerweise – zumindest für einige Jahrzehnte – von den Folgen chronischer Krankheiten nicht betroffen sind. Aber auch für diese Gruppe besteht bei einer Long-Covid-Erkrankung das Risiko, für längere Zeit nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren zu können.
Und das hat Folgen. Bisher trat eine Berufsunfähigkeit vor allem aufgrund von psychischen Krankheiten oder Rückenbeschwerden auf. Aber seit 2020 haben die Anträge auf Berufsunfähigkeit durch Corona deutlich zugenommen. Im Jahr 2020 haben rund 106.000 Menschen entsprechende Leistungen beantragt, 2021 waren es mit 132.000 schon ein Drittel mehr.
Nach einer aktuellen Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) ist seit Beginn der Pandemie mehr als jeder Fünfte erwerbstätige AOK-Versicherte als Folge einer COVID-19-Erkrankung ausgefallen. Fast vier Prozent der Erkrankten waren anschließend durch Long Covid für einen durchschnittlichen Zeitraum von sieben Wochen arbeitsunfähig.
Lauterbach fürchtet, dass viele Erkrankte ihr früheres Leistungsniveau nicht mehr erreichen werden: „Viele denken: Na ja, nach ein paar Monaten sind die Beschwerden wieder weg. Aber das ist oft nicht so. Das wird auch für den Arbeitsmarkt relevant sein, weil viele leider nicht mehr zu ihrer alten Leistungsfähigkeit zurückkehren werden. Zum Teil fehlt auch die Betreuung durch Psychologen und Psychotherapeuten. Denn es ist hart, festzustellen, dass man sein Leben so wie früher nicht mehr ausüben kann“, so der Bundesgesundheitsminister.
Expertengemium zu Long Covid: „Dringend benötigte Maßnahmen“
Im Moment ist das Therapieangebot für Long-Covid-Patienten jedoch noch nicht bedarfsdeckend. So gibt es in den spezialisierten Long-Covid-Ambulanzen oftmals monatelange Wartezeiten.
Der ExpertInnenrat der Bundesregierung zu COVID-19 empfiehlt in seiner 9. Stellungnahme vom 15. Mai 2022 aus diesem Grund einige als dringend eingestufte Maßnahmen, die die Bereiche Versorgung, Forschung, Aufklärung, Kommunikation und Analyse abdecken sollen:
- Etablierung flächendeckender, intersektoraler und interdisziplinärer Versorgungsstrukturen für Betroffene aller Altersgruppen (Versorgungsalgorithmen, Netzwerke geschulter niedergelassener Haus- sowie Kinder- und Jugendärzte, weiteren Fachärzte, Kompetenzzentren, Spezialambulanzen und Rehabilitationskliniken). Aufbau und Refinanzierung ambulanter und stationärer Strukturen an Kliniken zur Bündelung der Fachexpertise und Verbesserung des Behandlungsangebots für Betroffene.
- Enge Verzahnung ambulanter und klinischer Versorgungsstrukturen mit konsentierten Qualitätskriterien in der Behandlung von Long/Post-Covid Betroffenen. Transparente Ausweisung entsprechender medizinischer Anlaufstellen zum Beispiel auf der Webseite des Robert Koch Instituts, der Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern.
- Ausweitung der Förderung der klinischen und translationalen Forschung, Grundlagenforschung und Versorgungsforschung zu Post-Covid sowie deren Koordination, Harmonisierung und Vernetzung.
- Etablierung von Zentren für klinische Studien unter anderem zur Prüfung von bereits zugelassenen und neuen Medikamenten sowie Behandlungsverfahren. Nutzung des Standortvorteils (pharmazeutische Industrie mit vielversprechenden Kandidaten für Medikamente und Medizinprodukte, Expertise zu ME/CFS und bestehende Studienplattformen).
- Aufklärungs- und Informationskampagnen für alle Akteure im Gesundheitswesen (einschließlich Gesundheitsämtern) und von sonstigen versorgungsrelevanten Berufsgruppen (zum Beispiel Lehrer, Juristen) in Form von Öffentlichkeitsarbeit sowie von Aus‑, Fort- und Weiterbildungsprogrammen.
- Aufklärung der Bevölkerung durch professionelle Gesundheitskommunikation darüber, was bekannt und noch unbekannt ist, wie man sich schützen kann (zum Beispiel die Bedeutung des Impfens auch als bestmöglicher Schutz vor Long/Post-Covid) und welche sonstigen Handlungsempfehlungen und Unterstützungsmöglichkeiten bestehen (siehe zum Beispiel die Leitlinie „Long/Post-COVID-Syndrom für Betroffene, Angehörige, nahestehende und pflegende Personen“ der AWMF). Dies sollte durch eine für alle Bevölkerungsgruppen ansprechende und intensivierte Impfkampagne begleitet werden.
- Erstellung einer detaillierten wissenschaftlichen Analyse mit qualitativer und quantitativer Einordnung von Long/Post-Covid.
- Einbindung von Patientenorganisationen (siehe hierzu Nationaler Aktionsplan und „Nationale Klinische Studien-Gruppe von Long COVID Deutschland“ und „Deutsche Gesellschaft für ME/CFS“ vom 18.2.2022).
Quellen:
- www.bundesregierung.de/resource/blob/975196/2040048/feffdcc21a9892def37df142e4feb9b6/9‑stellungnahme-long-covid-data.pdf?download=1
- www.spiegel.de/wirtschaft/corona-long-covid-patienten-droht-der-finanzielle-absturz-a-c2bfd32f-05f8-4b82-aa62-728e2ce71291
- www.longcovid-info.de
- www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/wird-das-long-covid-syndrom-zur-neuen-volkskrankheit-a-9d22706b-0002–0001-0000–000178589859