Rechtsdepesche: Wir werden die Rahmenbedingungen für den patentfreien Arzneimittelmarkt ändern. Wir lockern Rabatt- sowie Festbetragsregeln und sorgen dafür, dass zuverlässige europäische Hersteller bei Vertragsabschluss bevorzugt werden“, so Bundesgesundheitsminister Lauterbach. Wie beurteilen Sie diese Maßnahmen?
Andreas Aumann: Die Politik versucht den Eindruck zu vermitteln, dass sie den Ernst der Lage erkannt hat. Allerdings handelt es sich bei den bisher vorgeschlagenen Lösungsmaßnahmen zur Vermeidung von Lieferengpässen leider nur um Teillösungen oder – wie bei der befristeten Aussetzung der Festbeträge – um Nebelkerzen. Ein Aussetzen der Festbeträge bei Kinderarzneimitteln für gerade einmal drei Monate wird das strukturell bedingte Problem von Lieferengpässen in diesem Bereich nicht lösen. Die letzten Veröffentlichungen sind daher ernüchternd. Sämtliche Maßnahmen sollen sich zunächst nur auf bestimmte Arzneimittelkategorien beschränken wie Kinderarzneimittel, Onkologika und Antibiotika. Die Lieferproblematik betrifft aber die gesamte Grundversorgung. Insgesamt werden die Maßnahmen sehr viel Bürokratie und zusätzliche Kosten mit sich bringen, gerade wenn es um eine mögliche Bevorratung geht, welche die Probleme nicht löst. Unsere Vorschläge haben wir im „Masterplan Pharma“ erläutert.
Lieferengpässe: Deutsche Produktion macht Prozesse besser steuerbar
Rechtsdepesche: Wo kommen die meisten Rohstoffe für Medikamente her? Verlagern sich im Zuge der kriegsbedingten „Zeitenwende“ auch die Transportwege?
Aumann: Die Lage ist nicht ganz leicht zu beschreiben, es bestehen Abhängigkeiten zu Handelspartnern im Ausland. Mit einer Produktion in Deutschland bzw. Europa lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer zuverlässigen, verbesserten, kontinuierlichen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln erhöhen. Aufgrund der engmaschigen behördlichen Überwachung „vor Ort“ sind die Prozesse viel besser kontrollier- bzw. steuerbar.
Es kann gegebenenfalls schneller seitens der Unternehmen mit erforderlichen Anpassungen reagiert werden – bei gleichzeitig kürzeren Transportwegen. Damit kann ein Beitrag zur Gewährleistung der öffentlichen Gesundheit geleistet und der im Rahmen der Daseinsvorsorge vorhandene Anspruch der Menschen auf eine Versorgung mit lebenswichtigen Arzneimitteln besser durchgesetzt werden. Vor allem aber würde ein erhöhter Produktionsanteil in Europa dazu führen, dass wieder mehr Anbieter auf dem Markt verfügbar sind.
Wenn ein Anbieter aufgrund technischer Schwierigkeiten dann nicht liefern kann, sind genügend weitere Unternehmen vorhanden, die einspringen können. Dies ist bei der aktuell gegebenen Marktkonzentration insbesondere bei der Herstellung vieler Wirkstoffe durch wenige Anbieter vor allem in Asien immer seltener der Fall.
Rechtsdepesche: Inwieweit gibt es Pläne, die Produktion von Arzneien aus Asien nach Europa/Deutschland zu verlegen?
Aumann: Im Falle besonders versorgungsrelevanter Arzneimittel wie etwa Antibiotika, die aktuell fast ausschließlich in China produziert werden, ist der Aufbau einer eigenen europäischen Produktion bzw. Rückverlagerung der Produktion sehr sinnvoll. Eine solche Rückverlagerung bedeutet aber auch, dass Investitionen notwendig sind. Eine Arzneimittelproduktion in Europa wird automatisch zu höheren Preisen führen. Doch die damit gewonnene größere Versorgungssicherheit sollte uns das wert sein.
Es ist regulatorisch und pharmazeutisch nicht trivial, Standorte zu verlegen. Bei nahezu allen Prozessen müssen pharmazeutische Hersteller erneut alle behördlichen Auflagen erfüllen (Audits, Prozesse, Stabilitätsdaten etc.). Wir sprechen hier von Jahren, nicht Monaten. Der Aufbau von Produktionsanlagen dauert etwa fünf Jahre. Die Fertigproduktherstellung, das heißt die Herstellung des Arzneimittels, ist nach Durchführung der technischen und regulatorischen Aufgaben in Europa mit ausreichender Vorlaufzeit, um die technischen Voraussetzungen für die Produktion zu erfüllen, realisierbar.
Die grundlegenden Strukturen sind größtenteils noch vorhanden, politisch könnten dabei verstärkte Förderungen unterstützen. Bei der Wirkstoff-Herstellung hat Deutschland/Europa durch deren Abwanderung in andere Teile der Welt sehr viel verloren. Dieser Prozess ist nur schwer reversibel. Das „Zurückholen“ der Wirkstoffproduktion ist nur bedingt realisierbar. Selbst bei idealen Vorzeichen ist eine schnelle Verlagerung eine längerfristige Aufgabe.
Es ist ein umfassendes Konzept erforderlich, das strukturell an den Ursachen für die Abwanderung und Auslagerung der Wirkstoffproduktion ansetzt. Dies bedeutet, dass hier nicht nur industriepolitisch angesetzt werden kann – so würden Subventionen allein die strukturellen Probleme nicht beheben. Es muss gleichzeitig auch der Nachfragermarkt in den Blick genommen werden – denn ohne einen attraktiven Markt wird man keine Produktion anlocken können.
Rechtsdepesche: Das bedeutet?
Aumann: Dies bedeutet konkret, dass insbesondere auch der Preis- und Kostendruck in nationalen Gesundheitssystemen in den Blick genommen werden müsste – dies scheut man jedoch grundsätzlich und in Zeiten knapper Kassen besonders. Es ist jedoch so, dass eine stabile Versorgung auch über „regionale“ Produktion und die Vergütungssituation im Krankenversicherungssystem eng miteinander verknüpft sind.
Daher wird es unumgänglich sein, hier die „Komfortzone“ zu verlassen – schon allein, um die noch in Deutschland/Europa bestehende Wirkstoffherstellung vor weiterer Abwanderung zu sichern.
Daher müssen nunmehr dringend Korrekturen vorgenommen werden, um im Arzneimittelbereich einen nachhaltigen Wettbewerb mit dem Ziel des Erhalts der Anbietervielfalt zu sichern und dadurch eine kontinuierliche Arzneimittelversorgung zumindest in versorgungsrelevanten Bereichen zu gewährleisten.
Um mit einer Produktion in Deutschland bzw. Europa die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln zu erhöhen, bedarf es unter anderem auch der Modifikation der bestehenden Ausschreibungsregelungen für Rabattverträge. Bei der Zuschlagserteilung müssen die Krankenkassen verpflichtet werden, in einem echten Mehrbietermodell mindestens einen Bieter mit deutscher bzw. EU-Produktion bei insgesamt drei Zuschlägen zu berücksichtigen, wobei Ein-Partner-Zuschläge bei entsprechender Angebotslage grundsätzlich untersagt sind.
Darüber hinaus sollten Wirkstoffe/Arzneimittel, die in den letzten zwei Jahren mehrfach einen Versorgungsengpass aufgewiesen haben, für die Dauer von zwei bis drei Jahren nicht mehr ausgeschrieben werden. Damit stünden die Arzneimittel aller Anbieter zur Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung. Diese Anreize können im Ergebnis die Versorgung in Deutschland verbessern.
Lieferengpässe: Ohne Investitionen geht es nicht
Rechtsdepesche: Wie lässt sich Ihrer Meinung nach die medikamentöse Grundversorgung langfristig sicherstellen, ohne dass wahlweise Apotheken oder Endverbraucher die Kosten tragen?
Aumann: Wie oben bereits erläutert wird eine Arzneimittelproduktion in Europa mit Mehrkosten verbunden sein und automatisch zu höheren Preisen führen. Doch die damit gewonnene größere Versorgungssicherheit sollte uns das wert sein. Es darf nicht mehr allein um den günstigsten Preis gehen, vielmehr sollten wir uns als Gesellschaft fragen: Was ist uns eine sichere Arzneimittelversorgung wert?
Niemand kann von der pharmazeutischen Industrie erwarten, dass Arzneimittel unter Herstellungskosten angeboten werden. Es muss sich folglich grundlegend etwas ändern. Unsere Vorschläge liegen seit geraumer Zeit vor, wir schlagen deshalb vor, Kostendämpfungsmaßnahmen wie etwa das Preismoratorium zu streichen und die Rabattverträge so anzupassen, dass pharmazeutische Unternehmen wirtschaftlich arbeiten können.
Zur Person: Andreas Aumann ist seit dem 1. Januar 2020 Pressesprecher und Geschäftsfeldleiter Kommunikation beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. Außerdem ist er Mitglied des BPI-Managementboards für den Bereich Kommunikation.