Die ersten Nachrichten über die Reisebewegungen von COVID-19-infizierten Personen aus den asiatischen Ursprungsgebieten in unsere europäischen und deutschen Regionen lasen sich zu Jahresbeginn noch wie Science-Fiction. Durch die langsam gewonnenen Erkenntnisse zu den Auswirkungen von zum Beispiel regionalen Karnevalsveranstaltungen als Super-Spreader-Events wurde die Gefährdung für jeden deutlich greifbarer. Schon bald zeichnete sich eines der großen Probleme zu Beginn der Corona-Krise ab: Mund-Nasen-Schutzmasken? Schutzmäntel und ‑overalls? Fehlanzeige! Es mangelte an ausreichender Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal und die Bevölkerung, um den notwendigen Schutz vor dem neuen Virus zu gewährleisten.
Hersteller von Einwegprodukten bestimmen den Markt
Schnell wurden sämtliche Ressourcen ausgeschöpft und neue Wege gebahnt, um Materialien wie Schutzmasken, Schutzmäntel und ‑overalls zu beschaffen, herzustellen und an die richtigen Stellen zu verteilen. Dazu zählen allen voran auch die vielen hilfswilligen und innovativen Branchenteilnehmer der Textilserviceindustrie, die versuchen mit Mehrwegtextilien dem Mangel vor allem im Bereich der medizinischen Mund-Nasen-Schutzmasken entgegenzutreten und die Bedarfsstellen dadurch – nachhaltig – zu unterstützen.
Neben dem großen Vorteil der regionalen Beschaffungsmöglichkeiten von Mehrwegartikeln haben die Branchenteilnehmer der Textilserviceindustrie noch ein weiteres Argument auf ihrer Seite: Durch intelligente Kreislaufwirtschaftsmodelle verringern sie die unglaublichen Mengen an zusätzlichem Müll und stellen zugleich für die Mehrwegartikel mindestens das gleiche oder sogar ein höheres Hygieneniveau gegenüber Einwegartikeln bereit. Und trotzdem: Einige der einstmals engagierten Branchenteilnehmer in dieser Wertschöpfungskette haben sich aus diesem kurzfristig aufgebauten Geschäftsfeld wieder zurückgezogen oder ihre Aktivtäten zumindest zurückgefahren. Woran liegt das?
Der Wilde Westen ist in unserem Vorgarten
Politik und Gesundheitswesen, national und europäisch, gerieten in einen aufgezwungenen Reaktionsmodus, hatten kaum noch eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Der Versuch, sich in der Beschaffung auf international geltende Qualitätssicherungsvereinbarungen und Normen zu berufen, lief ins Leere. Mehr als 50 Prozent der jahrelang durch Rahmenvereinbarungen beschafften Gesichts- und Schutzmasken erfüllten bei genauerem Hinsehen nicht die von ihren Herstellern deklarierten Eigenschaften und Schutzstufen: Nur beispielhaft sei hier der Ärger der Uniklinik Münster genannt, die 50.000 bestellte und dringend benötigte Masken der Schutzstufe FFP2 nach Lieferung im April 2020 stichprobenweise prüfen ließ. Bei dieser Qualitätsprüfung der neuen Masken stellte sich heraus, dass die Masken nur zu 40 Prozent dicht sind. Sie sollen es aber zu 95 Prozent sein. Daraufhin wurden die undichten Atemschutzmasken sofort zurückgeschickt. Ähnliches widerfuhr auch dem Bundesgesundheitsministerium, das zentral beschaffte Masken an Arztpraxen auslieferte.
Ungültige oder gar gefälschte Zertifikate von Herstellern und Prüfinstituten komplettieren den Eindruck: der Wilde Westen ist in unserem Vorgarten.
Verschiedene internationale Normen bestimmen die Qualitätsanforderungen
Es ist aber auch verwirrend: Allein für die Produktgruppe der Atemschutzmaske, die bei uns unter dem allseits bekannten Kürzel „FFP2“ bekannt und als Produkt der Persönlichen Schutzausrüstung deklariert ist, konkurrieren neben der Europäischen Norm 149 fünf weitere regionale oder internationale Normen um die Deutungshoheit für Qualitätsanforderungen an diese Produktgruppe:
- das Kürzel „N95“ des amerikanischen NIOSH (National Institute for Occupational Safety and Health)
- „KN95“ als chinesische Ausprägung
- „P2“ der Nachbarregion Australien und Neuseeland
- die „Korea 1st Class“-Spezifikation
- und die japanischen „DS“-Anforderungen
Zwar bewegen sich die einzelnen Technischen Spezifikationen entlang vergleichbarer Leistungscharakteristika, werden jedoch mit unterschiedlichen Mindestleistungsanforderungen belegt. Kaum anders sieht es mit den Leistungsanforderungen für den „Medizinischen Mund-Nasenschutz“ aus, die in Europa durch die EN 14683 definiert werden, in anderen Regionen der Welt beispielsweise als YY0469 (China) oder ASTM F2100/2101 (USA).
Schnellwarnsystem „RAPEX“ warnt vor unsicheren Import-Produkten
Um Arbeitenden und Patienten den notwendigen Schutz gewähren zu können, wird die Konformität von beschafften und gelieferten Masken seit einigen Monaten durch ein zusätzliches „vereinfachtes Prüfverfahren“ abgesichert, das von akkreditierten Prüfinstituten durchgeführt wird – eine notwendige Sicherheitsschleife, denn zum Zeitpunkt dieses Artikels sind im Schnellwarnsystem „RAPEX“ der Europäischen Kommission für Produktsicherheit über 100 Warnungen vor unsicheren Import-Produkten allein für den Begriff „Atemfiltrationsmaske“ aufgeführt.
Von „Mehrweg“: keine Spur
Wer nun einen genauen Blick auf die genannten Normen und Standards wirft, der wird aber vor allem eines vergeblich suchen: Das Wort „Mehrweg“ ist stark unterrepräsentiert, die Normen sind fokussiert auf Einwegprodukte. Und das bekamen die engagierten Branchenteilnehmer der Textilserviceindustrie bitter zu spüren.
Wer Mehrwegmasken herstellen wollte, aber nicht ausreichend eigene Produktionskapazitäten besaß, für den war es schwierig, in Deutschland externe Konfektionsressourcen zu aktivieren. Oft standen sie mit – teils aus hochqualifiziertem Barrierematerial hergestellten – Mehrweg-Maskenmodellen einwegorientierten Produktionsbedingungen und einwegorientierten normativen Vorgaben gegenüber.
Mussten diese Hersteller lange Wartezeiten für die Prüfung ihrer Produkte in völlig überlasteten Prüfinstituten nach unpassenden Normen überbrücken, dann wurde ihnen zudem auferlegt, als Ersatz für ein vollstufiges Konformitätsbewertungsverfahren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vorab eine Sonderzulassung gemäß § 11 Absatz 1 des Medizinproduktegesetzes (MPG) zu erlangen. Nur dann konnten sie ihre Ware in Deutschland ohne CE-Kennzeichnung in Verkehr bringen.
Haben die Branchenteilnehmer diesen Weg erfolgreich beschritten, so müssen sie anschließend potenziellen Abnehmern den Vorteil eines Mehrwegproduktes und die Potenziale der Kostendegression durch Mehrfachnutzung erläutern. Mag das im persönlichen und direkten Akquiseverhältnis noch funktionieren, so ist die Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen zur Beschaffung von Masken und Schutzmänteln kaum mehr möglich.
Einweg wird aus vermeintlich wirtschaftlichen Gründen bevorzugt
Zwar wollen die verantwortlichen Ministerien bei der Beschaffung von Schutzmaterial den Fokus auf regionale Hersteller und Handelsorganisationen legen, jedoch vergeben sie die Ausschreibungsdefinition und ‑organisation aus Ressourcengründen an Beratungsunternehmen, deren Kriterien für Zuschläge trotz der außergewöhnlichen Bedarfssituation traditionell sind:
- Sie sind preisfokussiert
- Eine Möglichkeit, Kosten per Nutzungszyklus anzugeben, ist in den Vergabeunterlagen nicht vorgesehen
- Eine Mehrwegmaske für sechs Euro verliert in der Wertung gegen ein Einwegprodukt für 0,60 Euro
Eine Mehrwegmaske kann bis zu sechzig Mal aufbereitet werden. Tatsächlich liegt damit der Bereitstellungspreis pro Nutzungszyklus beim Mehrwegprodukt mit 0,25 bis 0,30 Euro um ein Vielfaches geringer als beim Einwegprodukt.
Und zuletzt wird der Einweg-„Kreislauf“ auch auf Abnehmerseite mitgetragen: Hier ist man heilfroh alleine darüber, dass die Lieferketten aus Asien zumindest halbwegs repariert, dass die gröbsten Konformitäts- und Zertifikatsschnitzer aus dem Markt bereinigt wurden. Dass die Beschaffungspreise von Einwegprodukten heute um ein Vielfaches höher liegen als vor COVID-19 Lieferengpässen, das wird zähneknirschend hingenommen. Dass die unglaublichen Mengen an zusätzlichem Müllaufkommen durch intelligente Kreislaufwirtschaftsmodelle verringert werden können, das wird ausgeblendet.