Lebenserhaltende Maßnahmen sollen abgestellt werden: Tochter wehrt sich
Eine Frau wird in einer Klinik behandelt – die genauen Umstände sind nicht bekannt – und wird lebenserhaltenden Maßnahmen unterzogen. Diese lebenserhaltenden Maßnahmen sollen nun allerdings abgeschaltet werden, nachdem der gerichtlich vorläufig bestellte Betreuer der Frau sich dafür ausgesprochen hatte.
Das wollte die Tochter der Frau nicht hinnehmen. Deshalb wandte sie sich mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an das zuständige Betreuungsgericht.
Mit dem Antrag versucht sie die anstehende Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zu verhindern. Ihrer Meinung nach solle das Betreuungsgericht die Entscheidung des Betreuers für das Abstellen der lebenserhaltenden Maßnahmen noch mal kontrollieren.
Betroffene bekommt etwas mehr Zeit
Das Betreuungsgericht (AG Recklinghausen) hat ein Einschreiten gegen die bereits angekündigte Zustimmung des Betreuers zunächst abgelehnt.
Aus diesem Grund wandte sich die Tochter mit ihrem Antrag an die nächste Instanz – den Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen.
Dieser hat veranlasst, dass die lebenserhaltenden Maßnahmen tatsächlich nicht zum vereinbarten Zeitpunkt abgestellt werden sollen. Zumindest solange, bis eine rechtskräftige Entscheidung über den Antrag der Tochter vorliegt.
Lebenserhaltende Maßnahmen rechtlicher Rahmen
Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs, habe das AG Recklinghausen gegen den Justizgewähranspruch der Antragstellerin (Artikel 4 Absatz 1 LV in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 GG) verstoßen.
Justizgewähranspruch (vgl. 1 BvR 1542/06):
„Der sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Justizgewähranspruch umfasst das Recht auf Zugang zu den Gerichten und eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter“.
Nach § 1829 Absatz 1 Satz 1 BGB bedarf die Einwilligung des Betreuers in einen ärztlichen Eingriff die Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die Gefahr besteht, dass der oder die Betreute durch die Maßnahme stirbt.
Ohne eine solche Genehmigung darf die Maßnahme nur dann durchgeführt werden, wenn mit einem Aufschub der Maßnahme eine Gefahr nach § 1829 Absatz 1 Satz 2 BGB verbunden ist.
Nach § 1829 Absatz 2 BGB kann das Betreuungsgericht die Entscheidung des Betreuers widerrufen, wenn der oder die Betreute aufgrund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt.
Sollten sich Arzt und Betreuer einig darüber sein, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Patienten nach § 1827 BGB (Patientenverfügung) entspricht, ist keine Genehmigung des Betreuungsgerichts notwendig.
Schutz des Patienten vor Missbrauch der Betreuerbefugnisse
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gibt es mehrere Möglichkeiten, durch die Patienten vor einem etwaigen Missbrauch der Betreuerbefugnisse geschützt werden.
Zum einen geschieht dies durch eine wechselseitige Kontrolle zwischen Arzt und Betreuer bei einer Entscheidungsfindung hinsichtlich des Patientenwillens.
Zum anderen können insbesondere der Ehegatte, Lebenspartner, Verwandte oder Vertrauenspersonen des Betreuten jederzeit eine betreuungsgerichtliche Kontrolle der Betreuerentscheidung in Gang setzen. Davon machte die Tochter im vorliegenden Fall Gebrauch.
Der verfassungsrechtliche Justizgewähranspruch verlangt mithin eine förmliche, rechtsmittelfähige Entscheidung, die auch einen Negativattest zum Gegenstand haben kann, wenn sich eine Genehmigungspflicht gemäß § 1829 Absatz 4 BGB nicht ergibt.
Diesen Anforderungen wird das Schreiben des AG Recklinghausen, in dem der Antrag der Tochter abgelehnt wurde, nicht gerecht.
Weitere medizinische Maßnahmen potenziell möglich
Bei seinem Beschluss hat der Verfassungsgerichtshof auch die schwere gesundheitliche Situation der Mutter und ihren in einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachten Willen berücksichtigt, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr bei ihr angewendet werden sollen, wenn alle diagnostischen Möglichkeiten aller Fachrichtungen vollständig ausgeschöpft sind.
Dass diese Situation unzweifelhaft eingetreten ist, lässt sich nach Aktenlage nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen.
Fazit
Während der gesetzliche Betreuer in Absprache mit den Ärzten die Beendigung der Maßnahmen befürwortete, versuchte die Tochter, diese Entscheidung gerichtlich anzufechten. Der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen hat daraufhin entschieden, die Maßnahmen vorläufig fortzusetzen, bis eine abschließende rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Der Verfassungsgerichtshof kam zu dem Schluss, dass eventuell nicht alle diagnostischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.
FAQ
Was sind lebenserhaltende Maßnahmen?
Lebenserhaltende Maßnahmen umfassen medizinische Eingriffe und Behandlungen, die dazu dienen, das Leben eines schwerkranken Patienten zu verlängern. Dazu gehören unter anderem künstliche Beatmung, künstliche Ernährung, Flüssigkeitszufuhr und andere intensivmedizinische Maßnahmen. Diese Maßnahmen kommen meist dann zum Einsatz, wenn die Vitalfunktionen des Patienten ohne medizinische Hilfe nicht mehr aufrechterhalten werden können. Ob und in welchem Umfang diese Maßnahmen angewendet werden, hängt häufig vom Gesundheitszustand des Patienten, dessen mutmaßlichem oder geäußertem Willen sowie von rechtlichen Entscheidungen ab.
Wie lange dürfen lebenserhaltende Maßnahmen durchgeführt werden?
Lebenserhaltende Maßnahmen werden so lange durchgeführt, bis entweder der medizinische Zustand des Patienten eine Fortsetzung nicht mehr erfordert oder eine rechtskräftige Entscheidung getroffen wird, sie zu beenden. Entscheidend sind dabei der Wille des Patienten, der in einer Patientenverfügung festgelegt sein kann, und die rechtliche Bewertung durch den gesetzlichen Betreuer und das Betreuungsgericht. Im vorliegenden Fall wurden die Maßnahmen vorläufig fortgesetzt, bis eine endgültige Entscheidung durch den Verfassungsgerichtshof getroffen wurde.
VGH Nordrhein-Westfalen vom 12. April 2024 – VerfGH 44/24.VB‑2