Ein Bewohner eines Seniorenheims begibt sich in der Nacht gegen 0:45 raus aus dem Heim. Da er augenscheinlich hilflos wirkt, werden Jugendliche auf ihn aufmerksam, die daraufhin die Polizei alarmieren. Die Beamten wollen ihn zurück ins Seniorenheim bringen, dies ist jedoch mit einigen Hürden verbunden, da weder auf die Klingel am Haupteingang noch auf Anrufe reagiert wird. Sie steigen deshalb durch ein geöffnetes Fenster und machen durch Rufe auf sich aufmerksam.
Das Seniorenheim besteht aus fünf Wohnbereichen mit je 21 Bewohnern beziehungsweise 8 Bewohnern im letzten Wohnbereich. Ab 19:30 wird die Haupttür geschlossen, lediglich durch die Seitentür kann das Seniorenheim noch verlassen werden. Hierbei wird dann ein Signal an einen Pager ausgelöst. Die Rufe der Beamten bleiben ebenso erfolglos wie ein gegen 2:00 Uhr getätigter Notruf eines hinzugekommenen Heimbewohners. Die Polizeibeamten rufen die Pflegedienstleiterin an, ihre Nummer ist auf einem Zettel mit Notfallnummern aufgeführt gewesen.
Als diese gegen 2:50 eintrifft, bringt sie zunächst den Bewohner mithilfe eines Rollstuhls zurück in die Einrichtung. Erst dann kommt auch der Nachtdienstmitarbeiter hinzu und fragt, was die Anwesenden im Seniorenheim machen würden. Die Pflegedienstleiterin übergibt ihm den Bewohner und weist auf Blutspuren an seinen Füßen sowie auf eine Unterkühlung hin. Der Bewohner wird von ihm auf sein Zimmer gebracht und gelagert, eine ärztliche Untersuchung wird nicht veranlasst.
Im Anschluss an den Vorfall bittet die Pflegedienstleiterin den Mitarbeiter, der auch Mitglied und Vorsitzender im Betriebsrat ist, sowie seine Kollegin, die ebenfalls im Nachtdienst in dem Seniorenheim tätig ist, um eine Stellungnahme. Dem Betriebsratsvorsitzenden zufolge muss die Nachtschelle der Eingangstür sowie die Rufanlage nicht ordnungsgemäß funktioniert haben. Doch für die Pflegedienstleiterin scheint dies nicht auszureichen und beantragt deshalb die Zustimmung des Betriebsrates zur außerordentlichen fristlosen Kündigung. Der Betriebsrat jedoch verweigert die Kündigung und auch das Arbeitsgericht weist den Antrag der Pflegedienstleiterin auf ersatzweise Zustimmung zurück. Anschließend reicht sie Beschwerde beim Landesarbeitsgericht Hamm ein (Az.: 7 TaBV 3/16).
Außerordentliche Kündigung nur mit wichtigem Grund
Prinzipiell ist es möglich, dass die nicht erteilte Zustimmung des Betriebsrates zur außerordentlichen Kündigung durch eine Zustimmung des Arbeitsgerichts ersetzt wird – sofern sie unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist. § 626 Absatz 1 BGB schreibt vor, dass dafür ein wichtiger Grund vorliegen muss. Genauer gesagt heißt das, dass Tatsachen vorliegen müssen, die das Arbeitsverhältnis für den Kündigenden unzumutbar machen, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter jeweiliger Interessenabwägung. Zudem muss die außerordentliche Kündigung immer die letzte mögliche Maßnahme (ultima ratio) sein, wenn keine anderen milderen Mittel mehr in Betracht kommen.
Laut Entscheidung des Landesarbeitsgerichts liegt in diesem Fall kein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vor:
- Dass der Mitarbeiter nicht auf die Rufe und die Klingel reagiert hat, war nachzuvollziehen.
- Wenn eine Reaktion auf die Nachtglocke – unabhängig von einem Defekt – sichergestellt werden will, hätte es einer klaren technischen Lösung bedurft oder einer entsprechenden Anweisung, die hier nicht gegeben war.
- Das Nichthören der Rufe konnte nicht zwingend als arbeitsvertragliche Pflichtverletzung gewertet werden.
- Bezüglich der getätigten Notrufsignale über die Pager liegt die Darlegungslast bei der Arbeitgeberin: sie muss darlegen, dass sämtliche Pager in besagter Nacht voll funktionsfähig gewesen sind. Dies war ihr nicht gelungen.
- Auch der Vorwurf, der Mitarbeiter habe wegen eines unterlassenen Kontrollgangs ein „sperrangelweit“ aufstehendes Fenster nicht gesehen, wurde zurückgewiesen. Es hat sich in der Anhörung herausgestellt, dass in den arbeitsvertraglichen Aufgaben des Nachtdienstes keine gesonderten Kontrollgänge vorgesehen waren. Vielmehr sollten sie im Rahmen der anderen pflegerischen Versorgungsdurchgänge gemacht werden (Medikamentengabe, Lagerung, Nahrungszubereitung). Ein unterlassener Kontrollgang war also ausgeschlossen.
- Dass keine nächtliche ärztliche Untersuchung des Bewohners veranlasst wurde, stellte ebenso wenig eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung dar. Schließlich sah auch die darauffolgende Frühschicht keine Notwendigkeit für eine ärztliche Untersuchung.
Insgesamt wurde die Beschwerde damit als unbegründet abgewiesen, da hier keine vertraglichen Pflichtverletzungen vorlagen. Vielmehr hätte es zunächst einer Abmahnung des Mitarbeiters bedurft.
Quelle: LAG Hamm vom 12. Juli 2016 – 7 TaBV 3/16 = RDG 2017, S. 20 ff.