Wann kommt eine Kompressionstherapie zum Einsatz?
Rechtsdepesche: Wann ist eine Kompressionstherapie angezeigt und wann soll sie angewendet werden?
Jocelyn Dietrich: Eine Kompressionstherapie kann eigentlich immer anwendet werden. Sowohl in der Phlebologie als auch in der Lymphologie. Alle Krankheitsbilder, die wir in diesen beiden Bereichen vorfinden, können kompressionstherapeutisch behandelt werden.
Rechtsdepesche: Macht es denn bei einem offenen Bein Sinn, mit einer Kompression an die Wunde heranzugehen?
Dietrich: Ein Ulcus cruris muss komprimiert werden. In der Phlebologie zählt die Kompression zur Grundtherapie und selbstverständlich ist bei einem florierenden Ulcus die richtige Wundauflage zu verwenden.
Auch eine Lymphdrainage wirkt in solchen Fällen sehr effektiv, denn hierdurch wird das extrazelluläre Ödem beseitigt und die perfekten Voraussetzungen zur Abheilung der Ulzeration geschaffen. Die Kompression ist also bei den Krankheitsbildern der Phlebologie nicht wegzudenken.
Rechtsdepesche: Sie haben gerade davon gesprochen, dass die Kompression nicht wegzudenken ist. Welche Kompressionssysteme gibt es denn?
Dietrich: Kompressionssysteme entwickeln sich immer weiter. Klassisch kennen wir die Schichtverbände aus Polstermaterial und Kurzzugbinden. Dann gibt es die MAK-Systeme, die seit einiger Zeit auch von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Darüber hinaus gibt es noch Mehrkomponentensysteme.
Wie erfolgt im Rahmen der Kompressionstherapie die Wundbehandlung?
Rechtsdepesche: Brauche ich denn dann gar keine Wundauflagen, reicht an der Stelle nur die Kompression?
Prof. Dr. Joachim Dissemond: Nein – wie bei allem im Leben, gehört ein vernünftiges Zusammenspiel dazu. Zunächst aber gilt: Das Ödem muss weg! Das eine ist die Ödem-Therapie, das andere der Rückfluss des Blutes durch die Venen, das sind die Hauptsäulen der Kompressionstherapie. Die Kompression ist für beides essentiell. Falls eine Wunde vorhanden ist, muss diese vernünftig abgedeckt werden und zwar steril, in einem feuchten Milieu.
Ferner muss man sich der Ursache widmen. Eine Wundtherapie ohne Behandlung der Ursachen ist nicht zielführend.
Die Wahl der Wundauflage muss im Übrigen in ein Gesamtkonzept eingebunden werden. Wir müssen weg von der deutschen Gewohnheit: Morgens kommt der Pflegedienst, legt den Kompressionsverband an, dann 6 bis 8 Stunden später wieder ab. Das kann es nicht sein. Die neue Vorgehensweise muss sein: Behalte den Kompressionsverband möglichst über 24 Stunden an! Das muss neuer Standard werden. Einmal am Tag den Verband anlegen, dann durchhalten und frühestens in 24 Stunden wieder wechseln.
Kompressionsverbände können nach Herstellerangabe sogar bis zu einer Woche verbleiben – das macht man insbesondere bei Wundpatienten meist nicht. 2 bis 3 Tage ist aber je nach eingesetztem System ok.
Wie geht man mit phlebologischen und lymphologischen Problemlagen um?
Rechtsdepesche: Wenn ich ein phlebologisches oder ein lymphologisches Problem habe, kann ich beide Bereiche mit einer Lymphdrainage bearbeiten oder ist die Lymphdrainage nur in der Lymphologie indiziert?
Dietrich: Die Bereiche gehören zusammen. Patienten mit chronisch venöser Insuffizienz und Ulcus cruris können auch gut lymphologisch behandelt werden. Lymphdrainagen sind da sehr sinnvoll. Die Ursache beider Krankheitsbilder ist unterschiedlich – einmal ist das Lymphgefäßsystem erkrankt, und einmal ist das venöse System.
Wenn man die venösen Abflussbehinderungen im Bereich der Unterschenkel und Füße nicht frühzeitig behandelt, kann sich zusätzlich noch eine lymphologische Erkrankung entwickeln. Die Erkrankung findet ja im Gewebe statt, und das Lymphsystem ist ja im Gewebe verortet. Gewebeschäden machen keinen Halt vor dem Lymph-Gefäßsystem.
Macht die intermittierende Kompressionstherapie Sinn?
Rechtsdepesche: Was ist von der intermittierenden Kompressionstherapie zu halten? Die Ressource Mensch wird ja in der Pflege immer rarer.
Dietrich: Die manuelle Lymphdrainage ist in der Lymphologie nicht ersetzbar! Die intermittierenden Kompressionstherapie (IPK) ist gut für die phlebologischen Krankheitsbilder geeignet. Die lymphologischen Krankheitsbilder sind meist komplexer und bedecken mehrere Regionen, die von der IPK nicht abdeckt werden können.
Rechtsdepesche: Bei den phlebologischen Krankheitsbildern – kann die IPK den Physiotherapeuten ersetzen oder nicht?
Dissemond: Nein. Bisher wird die IPK auch hier als ergänzende Maßnahme eingestuft. Aber es gibt verschiedene Ansätze, die zu einem Umdenken anregen. Wir sind derzeit noch auf der Suche nach einem Standard. Die aktuelle Leitlinie sagt „ja“ zur IPK als Ergänzung und „nein“ als Ersatz. Zum Entstauen ist die IPK bei den phlebologischen Krankheitsbildern ganz sicher nützlich.
Zu bedenken ist auch, dass viele Patienten die manuelle Kompressionstherapie nicht anwenden wollen. Sie gilt mitunter als lästig und wird deshalb oft nicht mit letzter Konsequenz durchgezogen. Hier kommt die IPK ins Spiel, manchmal unterstützend oder als Teilersatz, wenn nichts anderes möglich ist.
Gibt es eine Rangfolge zwischen Bandage und Kompressionsstrumpf?
Rechtsdepesche: Im Hilfsmittelarsenal stehen ja auch Wickel und Kompressionsstrümpfe zur Verfügung. Gibt es da eine Rangfolge, wann was eingesetzt wird?
Dietrich: Ein Strumpf wird angemessen und nach Maß gestrickt, d.h. der Strumpf ist statisch. Seine Größe und der Druck sind beständig. Kompressionsbandagen finden hingegen Anwendung, wenn Umfänge reduziert werden sollen. Denn die Kompressionsbandagen werden täglich immer wieder neu angelegt und können – die richtige Anwendung vorausgesetzt – dem Kompressionsbedarf flexibel angepasst werden. Außerdem gibt es auch Patienten, die die Strümpfe nicht vertragen. Bei denen muss dann bandagiert werden.
Rechtsdepesche: Wenn ich jetzt eine offene Wunde haben würde, wäre unter der Bandage eine Wundauflage möglich? Aber diese Bandagen lockern sich doch in wenigen Minuten, sobald ich mich bewege. Wie schafft man es also beim Anlegen, dass der Druck auf der Bandage konstant gleich bleibt und zwar über Stunden?
Dissemond: Grundsätzlich für beide Behandlungsphasen gibt es zudem die medizinisch-adaptiven Kompressionsbandagen (MAK). Die MAK-Systeme sind vergleichbar mit aufgeschnittenen Kompressionsstrümpfen, die über Klettverschlüsse individuell eingestellt werden können. Bei mehreren dieser Systeme kann so der Kompressionsdruck variabel eingestellt werden.
Auch der Patient kann da Hand anlegen. Diese Bandagemodelle sind für das Selbstmanagement gut geeignet. Klar ist aber auch: Wenn ein Patient zum Beispiel dement ist, oder 230 Kilo wiegt, sehr alt und unbeweglich ist – dann kann Selbstmanagement nicht funktionieren. Da ist man auf die Pflege angewiesen.
Dietrich: Es ist wünschenswert, dass der Verband irgendwann rutscht, weil der Umfang reduziert ist. Kompression und Bewegung reduzieren das Ödem. Es gibt aber Bandagen-Techniken, die dafür Sorge tragen, dass der Verband den Tag übersteht. Man will natürlich, dass der Patient den Verband so lange wie möglich trägt. Darüber hinaus gibt es Systeme, die auch für Personen geeignet sind, die ständig mit Kompression zu tun haben. Hier zu nennen sind Mehrkomponentensysteme mit Markern. Und hier gibt es Weiterentwicklungen, die die Eigenschaften von Kurz- und Langzug in einer Binde vereinen.
Rechtsdepesche: Ist ein Kompressionstrumpf auch anlegbar, wenn ich eine offene Wunde habe?
Dissemond: Ja, das ist möglich. Es sind schon vor 25 Jahren Ulcus-Strümpfe entwickelt worden mit zwei Lagen: ein leichter Unterstrumpf dient der Fixierung der Wundauflage und ist zugleich Gleitmittel für den Hauptstrumpf. Es gilt: Weg vom Dogma, ein Strumpf sei nur Prophylaxe.
Wie lange muss die Kompression fortgeführt werden?
Rechtsdepesche: Wenn jetzt die Wunde abgeheilt ist, das Bein ist verschlossen, kann ich dann aufhören zu komprimieren?
Dissemond: Es kommt auf die Ursache an. Ein Patient mit einer chronischen venösen Insuffizienz muss meist ein Leben lang komprimieren. Nach dem Ulcus ist vor dem Ulcus – so lautet ein Spruch.
Im Kompressionsstrumpfbereich stehen insgesamt vier Kompressionsklassen zur Verfügung. Bei der Auswahl des Strumpfes sollte immer die niedrigste Kompressionsklasse, die nötig ist, berücksichtigt werden, so steht es in unseren Leitlinien. Ein Strumpf der Klasse 1 dient dabei jedoch noch nicht der Thrombose-Prophylaxe, sondern reduziert auch meist effizient Ödeme und kann sogar zur Ulcus-Prophylaxe genutzt werden.
Rechtsdepesche: Liebe Frau Dietrich, stimmt die Beschreibung von Herrn Dissemond mit der lymphologischen Perspektive überein?
Dietrich: Die Lymphologie wird von einer anderen Strumpfart dominiert. Den sogenannten Flachstrickstrümpfen. Da geht es hoch bis zur Kompressionsklasse 5. Auch können in bestimmten Fällen mehrere Strümpfe übereinander angezogen werden, um den Druck zu erhöhen. Man muss immer schauen, welches Krankheitsbild zu behandeln ist.
Habe ich ein phlebologisches Krankheitsbild? Will ich das Volumen der Venen verringern? Oder habe ich ein lymphologisches Krankheitsbild? Da brauche ich eventuell mehr Druck mit einem anderen Material, eine andere Steifigkeit, da muss ich in den Flachstrickbereich gehen. Patienten tragen diese dann ihr ganzes Leben.
Rechtsdepesche: Da komme ich dann mit der Kompressionsklasse 1 nicht mehr zurecht, oder?
Dietrich: Richtig. Wir benötigen meist den Druck der Kompressionstrümpfe aus der Klasse 2. Im Sommer trage ich rundgestrickte Kompressions-Kniestrümpfe in der Kompressionsklasse 2 und empfinde diese nicht als unangenehm. Die Patienten im lymphologischen Bereich suchen auch eher den Druck.
Der Leidensdruck ist in dieser Patientengruppe ein ganz anderer. Im lymphologischen Bereich haben die Patienten entweder anlagebedingt ein geschädigtes Lymphgefäßsystem, oder es geht eine Krebserkrankung voraus. Die Patienten haben oft ein gutes Verhältnis zum Therapieplan und sehen die Kompression als positiven Bestandteil an.
Dissemond: Das ist tatsächlich anders bei unseren Patienten. Da wird eher kein Zusammenhang festgestellt. Patienten mit einem Lymphödem erkennen aber auch eher die Behandlungsfortschritte. Diese Einsicht fehlt leider vielen Patienten in der Phlebologie. Hier brauchen wir eindeutig mehr Patienten-Edukation.
Dietrich: Die Patienten in der Lymphologie haben den Vorteil, dass sie dauerhaft in der Behandlung sind. Auch hier spielt die Edukation eine große Rolle. Selbstmanagement wird in der Lymphologie groß geschrieben. Die Patienten der Lymphologie kommen 1–2 mal die Woche zur Behandlung und werden immer im Selbstmanagement geschult. Ich habe hierfür auch genügend Zeit und kann den Patienten die Bedeutung der Kompression vermitteln.
Trockene Haut durch die Kompressionstherapie – ein lösbares Problem?
Rechtsdepesche: Ich trage auch bisweilen Kompressionstrümpfe. Anschließend ist meine Haut immer sehr trocken. Ist das ein Phänomen, das mit diesen Strümpfen zu tun hat?
Dietrich: Ein ständiger mechanischer Reiz auf der Haut führt bei jedem zu trockener Haut – auch bei mir. Das ist normal, und ist auch bei den Bandagen zu beobachten. Kompression trocknet leider die Haut aus. Die Hautpflege ist da ein wesentlicher Faktor, um Infektionen vorzubeugen.
Dissemond: Dem stimme ich voll und ganz zu. Die Haut muss gepflegt werden! In der Kompressionstherapie muss sich einfach mehr um die Haut gekümmert werden. Die Hautpflege ist wichtig und kein Hexenwerk. Da reichen meist schon einfache Produkte aus dem Drogeriemarkt, beispielsweise mit Urea (Harnstoff) für kleines Geld. Und nicht zu vergessen: der Unterschenkel ist die trockenste Stelle des Menschen.
Dietrich: Wir sagen unseren Patienten immer: Kompression – egal ob durch Strümpfe oder Bandagen – wirkt dann, wenn man sie trägt. In der Lymphologie hat die Kompression einen sehr hohen Stellenwert und ist einfach nicht mehr weg zu denken.
Dissemond: In der Kompressionstherapie hat sich unheimlich viel getan. Das heisst: die Basis ist klar, aber viele sind leider trotzdem bei den Kompressionsbinden stehen geblieben. Wichtig ist: den Menschen als Individuum zu sehen und dann auf dessen individuelle Probleme eingehen. Ich erkenne immer wieder, dass die Kompressionstherapie nicht sehr beliebt ist.
Das Anziehen, Ausziehen – häufig scheitert es, dass die Patienten sagen, ich komme nicht mehr in meine Schuhe rein. Aber es gibt soviele unterschiedliche Materialien, die zur Behebung der Probleme eingesetzt werden können. Die Entwicklung ist rasant weiter gegangen.
Wir haben heute viele einfache und sichere Optionen wie beispielsweise Mehrkomponentensysteme mit nur einer Binde. Das fördert meist die Akzeptanz durch die Betroffenen.
Dietrich: Es gibt auch Kompressionssysteme, die es für den Anwender leichter machen. Zum Beispiel Mehrkomponentensysteme mit Markierungen, durch die man den richtigen Kompressionsdruck erreichen kann. Diese Mehrkomponentensysteme vereinen die Eigenschaft von Kurz- und Langzug – sogar in einer Binde. Dadurch haben Patienten sogar ein dünneres Verbandsprofil. Dies ist im Alltag durchaus hilfreich.
Rechtsdepesche: Vielen Dank für das hochinteressante Gespräch!