
„Historische Herausforderungen“ für neue Regierung
Der Ton für die kommenden vier Jahre dürfte gesetzt sein – und zumindest laut des Papiers haben die wahrscheinlichen Regierungsparteien begriffen, was auf dem Spiel steht. „Deutschland steht vor historischen Herausforderungen“, formulieren es CDU, CSU und SPD in den einleitenden Worten ihres Koalitionsvertrags. „Die Politik der kommenden Jahre wird maßgeblich darüber entscheiden, ob wir auch in Zukunft in einem freien, sicheren, gerechten und wohlhabenden Deutschland leben.“
Angesichts einer langanhaltenden Rezession, in großen Strecken maroden Infrastruktur, des weiter fortdauernden Russland-Ukraine-Kriegs und der sich zunehmend politisch, wirtschaftlich und militärisch von Europa distanzierenden USA sind die Bedingungen für die neue Bundesregierung alles andere als einfach.
Zudem gehen die Wunsch-Koalitionäre geschwächt in das neue Bündnis: Mit 28,6 Prozent, einem Plus von lediglich 4,4 Prozentpunkten, hatte die bis dahin oppositionelle Union weit weniger als erhofft von der großen Unzufriedenheit mit der vergangenen Ampelkoalition profitiert. Die SPD erreichte mit 16,4 Prozent und einem Minus von 9,3 Prozentpunkten zu 2021 gar das schlechtete Bundestags-Wahlergebnis in ihrer Geschichte.
Zum Start des neuen Bündnisses sorgten zudem die beiden „Sondervermögen“ für Verteidigung und Infrastruktur für verbreiteten Unmut. Diese stehen nämlich im Kontrast zum Wahlversprechen der Union, die eine eher konservative Haushaltspolitik verfolgen wollte – und wurden in der letzten Sitzung des alten, eigentlich abgewählten Bundestags mit Zweidrittelmehrheit und Grünen-Hilfe beschlossen.
146 Seiten schweres Papier
Jedoch: In der recht schnellen Zeit von sechseinhalb Wochen nach der Bundestagswahl – nach Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen – haben sich Union und SPD auf einen gemeinsamen Koalitionsvertrag für die nächste Legislaturperiode geeinigt. Auf 146 Seiten, von Wirtschaft über Finanzen, Migration und Integration, Außenpolitik und Verteidigung bis zu den Grundwerten der Zusammenarbeit der voraussichtlich nächsten Regierung, sind die Leitplanken der kommenden vier Jahre niedergeschrieben.
Der Koalitionsvertrag muss allerdings noch von allen drei Parteien gebilligt werden: Bei der CDU soll dies ein Kleiner Parteitag übernehmen, bei der CSU ist ein Vorstands-Beschluss geplant. Die SPD will, wie in den vergangenen Legislaturperioden, ihre Mitglieder über das Vertragswerk abstimmen lassen. Und natürlich muss Friedrich Merz bei seiner Kandidatur als Bundeskanzler eine Mehrheit erhalten.
Die Pläne für Gesundheitswesen und Pflege
Doch was planen die wahrscheinlichen Koalitionäre für das Gesundheits- und Pflegewesen? Auf immerhin neun Seiten im Koalitionsvertrag ist dargelegt, was sich hier verändern soll. Hier ist unsere Übersicht mit den Highlights, die Union und SPD in diesem Feld in Angriff nehmen wollen.
Stabilisierung der Beitragssätze
Als zentrales Problem sehen die Koalitionäre das strukturelle Defizit von Kranken- und Pflegeversicherung an. „Die Einnahmeentwicklung bleibt deutlich hinter der Entwicklung der Ausgaben zurück“, stellt das Papier fest. Hier gelte es gegenzusteuern, mit einem Mix aus strukturellen Anpassungen und kurzfristigen Maßnahmen. „Ziel ist es, die seit Jahren steigende Ausgabendynamik zu stoppen und die strukturelle Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen zu schließen.“
Auf der Einnahmenseite setzt (oder hofft) die Koalition auf ein höheres Beschäftigungsniveau, das mehr Sozialbeiträge ins System einspeisen würde. Auf der Ausgabenseite soll es eine „Kommission unter Beteiligung von Expertinnen und Experten und Sozialpartnern“ richten: Bis Frühjahr 2027 soll diese konkrete Maßnahmen vorschlagen, um den Gesundheitshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen.
Prävention
Die Koalitionäre wollen Krankheitsvermeidung, Gesundheitsförderung und Prävention verstärkt ins Blickfeld nehmen. Vorsorgeuntersuchungen für Kinder („U‑Untersuchungen“) sollen erweitert werden und mehr Familien erreichen. Angebote auf kommunaler Ebene für vulnerable Gruppen sollen gestärkt werden. Ein weiteres Thema ist der Kampf gegen Einsamkeit in der Gesellschaft, die sich nachweislich negativ auf körperliche und seelische Gesundheit auswirkt.
Ambulante Versorgung
Ein großer Programmpunkt im Koalitionsvertrag ist die ambulante Versorgung. Für eine möglichst zielgerichtete Versorgung soll das Hausarztsystem verbindlich werden, mit Ausnahme der Augenheilkunde und Gynäkologie. Hausärzte sollen ihren Patienten eine Termingarantie mit einem Zeitkorridor gewähren; für eine Behandlung binnen eines bestimmten Zeitraums werden die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet – ansonsten werden die Patienten ambulant im Krankenhaus behandelt. Für das Honorarsystem für niedergelassene Ärzte sollen zuküftig Jahrespauschalen gelten, statt das bisherige Quartalssystem.
Die sektorenübergreifende Versorgung soll durch sektorenunabhängige Fallpauschalen (Hybrid-DRGs) weiter gefördert werden, um Ambulant und Stationäre weiter zu verzahnen. Ein „Fairnessausgleich“ soll für eine bessere Verteilung der Praxen sorgen: Fachärztinnen und Fachärzte in unterversorgten Gebieten sollen ohne Budgetgrenzen arbeiten können, außerdem sind in unterversorgten (oder von Unterversorgung bedrohten) Gebieten Honorarzuschläge; in mit über 120 Prozent erheblich überversorgten Gebieten dagegen Abschläge geplant.
Apotheken
Um die Apotheken wirtschaftlich zu stärken, ist eine Aufhebung des Skonti-Verbots geplant; das Apotheken-Packungsfixum soll von derzeit 8,35 Euro einmalig auf 9,50 Euro steigen. Und: „In Abhängigkeit vom Versorgungsgrad kann es insbesondere für ländliche Apotheken in einem Korridor bis zu 11 Euro betragen.“ Apotheken sollen von Bürokratie und Dokumentationspflichten befreit werden; die Koalition steht zum Fremdbesitzverbot für Apotheken. „Den Apothekerberuf entwickeln wir zu einem Heilberuf weiter.“
Gesundheitswirtschaft
Die pharmazeutische Industrie und die Medizintechnik will die neue Koalition als Leitwirtschaft stärken, das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (AMNOG) im Hinblick auf personalisierte Medizin weiterentwickeln. Der Zugang zu innovativen Therapien und Arzneien will man sichern. Um die Versorgungssicherheit zu stärken, will man dazu beitragen, Produktionsstandorte für kritische Arzneimittel und Medizinprodukte nach Deutschland und Europa rückzuverlagern.
Krankenhausreform
Die Koalition steht zu der unter Gesundheitsminister Karl Lauterbach begonnenen Reform der deutschen Kliniklandschaft: „Wir entwickeln eine qualitative, bedarfsgerechte und praxistaugliche Krankenhauslandschaft aufbauend auf der Krankenhausreform der letzten Legislaturperiode fort und regeln dies gesetzlich bis zum Sommer 2025“, heißt es im Koalitionsvertrag. Länder werden, besonders im ländlichen Raum, Ausnahmen und erweiterte Kooperationen beschließen können. „Die Lücke bei den Sofort-Transformationskosten aus den Jahren 2022 und 2023 sowie den bisher für die GKV vorgesehenen Anteil für den Transformationsfonds für Krankenhäuser finanzieren wir aus dem Sondervermögen Infrastruktur.“
Die Zuweisung der Leistungsgruppen soll zum Jahresbeginn 2027 erfolgen, dann starten auch die Vorhaltevergütungen – welche das derzeitige reine Fallpauschalen-System ergänzen sollen.
Pflegereform
Von einer „Generationenaufgabe“, die Pflege zukunftsfest zu machen, ist im Koalitionsvertrag die Rede. Mit einer großen Pflegereform soll die nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung gesichert, sowie ambulante und häusliche Pflege gestärkt werden. Geplant ist, dass Pflegebedürftige und Angehörige leichter und unbürokratischer Leistungen in Anspruch nehmen können.
Wie bei den GKV-Finanzen, ist auch für die Pflege eine Kommission geplant, die wichtige Stellschrauben in den Blick nehmen soll: unter anderem den Leistungsumfang in der Pflege, die Ausdifferenzierung der Leistungsarten, Stärkung von pflegenden Angehörigen sowie der sektorenübergreifenden pflegerischen Versorgung, Anreize zur eigenverantwortlichen Vorsorge sowie die Frage der versicherungsfremden Leistungen. Auch um die Begrenzung der Pflege-Eigenanteile wird sich das Gremium kümmern, das – Achtung! – noch im laufenden Jahr ihre Ergebnisse vorlegen soll.
Bürokratieabbau
Die Ankündigungen sind im Koalitionsvertrag groß: „Wir verringern Dokumentationspflichten und Kontrolldichten durch ein Bürokratieentlastungsgesetz im Gesundheitswesen massiv, etablieren eine Vertrauenskultur und stärken die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Professionen, statt sie mit Bürokratie aus Gesetzgebung und Selbstverwaltung zu lähmen“, heißt es deutlich. Alle Gesetze in diesem Bereich sollen einen Praxis-Check unterlaufen, Datenschutz‑, Bericht- und Dokumentationspflichten überprüft werden.
Auch die Kontrolldichte soll etwas sinken: Für die Regressprüfung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte ist eine Bagatellgrenze von 300 Euro geplant. „Die Verschreibung und Abrechnung von Heil- und Hilfsmitteln gegenüber den Krankenkassen vereinfachen wir wesentlich. Wir senken die Prüfquote bei Krankenhäusern erheblich.“ Mehr Stichproben, die dann hochgerechnet werden, sollen hier zum Einsatz kommen. Regelmäßig unauffällige Einrichtungen können mit selteneren Prüfungen rechnen. Zudem ist geplant, Doppel-Kontrollstrukturen bei Medizinischem Dienst und der Heimaufsicht abzubauen.
Digitalisierung
Die zum Jahresanfang eingeführte elektronische Patientenakte soll aus ihrer derzeitigen Testphase zu einer verpflichtenden sanktionsbewehrten Nutzung übergeleitet werden. Der Austausch zwischen den Versicherungsträgern und den Ärztinnen und Ärzten wird erleichtert, Doppeldokumentationen vermieden, hoffen die Parteien.
Für eine bessere Versorgung sollen gezielt Videosprechstunden, Telemonitoring und Telepharmazie verbessert und ausgeweitet, die Gematik GmbH zu einer „modernen Agentur“ werden. Und außerdem: „Alle Anbieter von Software- und IT-Lösungen im Bereich Gesundheit und Pflege müssen bis 2027 einen verlustfreien, unkomplizierten, digitalen Datenaustausch auf Basis einheitlich definierter Standards sicherstellen“, steht im Koalitionsvertrag.
Gesundheitsforschung
„Wir machen Deutschland zu einem Spitzenstandort für die Gesundheitsforschung und klinische Studien“, lautet die Ansage. Hierfür sollen Forschungshürden abgebaut und Regelungen EU-weit harmonisiert werden, etwa bei der neuartigen CAR-T-Zelltherapie bei Krebserkrankungen. In Mitteldeutschland soll ein länderübergreifendes Behandlungszentrum für Infektionskrankheiten entstehen.
Psychotherapie
Digitale Gesundheitsanwendungen und niedrigschwellige Online-Beratung in der Psychotherapie sollen Versorgung und Prävention in der Fläche und in Akutsituationen stärken helfen. Geplant ist eine Notversorgung durch Psychotherapeuten sowie die Umsetzung des Suizidpräventionsgesetzes. Für eine bessere psychosomatische Grundversorgung sollen die Hausarzt-Regresse abgeschafft, und psychosomatische Institutsambulanzen eingerichtet werden. Besonders der ländliche Raum sowie Kinder und Jugendliche sind hier im Blick. „Ziel ist eine bessere Versorgung und die Stärkung der Resilienz unserer Kinder und Jugendlichen“ – nach den Corona-Verheerungen gerade bei dieser Gruppe ist dies sicherlich keine schlechte Idee.
Corona-Nachwirkungen
Wer an typischen Long-Covid-Erkrankungen wie myalgischer Enzephalomyelitis, Chronischem Fatigue-Syndrom oder Post-Vac-Syndromen leidet, soll weiterhin Hilfe erhalten. Hierzu will die Koalition Versorgung und Forschung stärken. Die zurückliegende Pandemie wird eine Enquête-Kommission aufarbeiten, „insbesondere um daraus Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse abzuleiten“, so die Koalitionäre.
Gesundheitsberufe
Um den Stand des Pflegeberufs zu verbessern, soll die Pflege einen festen Sitz mit Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA) erhalten. Gehaltsunterschiede zwischen Stamm- und Leihpersonal sollen reduziert, Mehrkosten für Springerpools ausgeglichen werden. „Die Weiterqualifizierung von berufserfahrenen Pflegefachkräften durch das DQR-Anerkennungsverfahren vereinfachen wir mittels Kompetenzfeststellungsverfahren der zuständigen Praxisanleitungen.“
Die Anerkennung von ausländischen Ärzten und Pflegefachkräften soll vereinfacht werden. Im Praktischen Jahr (PJ) soll es eine Vergütung geben, die mindestens dem BAföG-Satz entspricht. Diverse Berufsgesetze, etwa für Ergo‑, Physiotherapie und Osteopathie, sollen „zügig und zukunftsfest“ reformiert werden. „Eine ausschließliche Voll-Akademiesierung lehnen wir ab“, heißt es allerdings.
Sonstiges (Organspende, Sucht, globale Gesundheit, krisenfeste Versorgung)
Die wahrscheinliche neue Koalition will die Zahl von Organ- und Gewerbespenden „deutlich erhöhen“ und dafür die Voraussetzungen durch mehr Aufklärung und Bereitschaft verbessern. Für Gesundheitssektor und Rettungsdienste soll es gesetzliche Rahmenbedingungen für den Zivilschutz‑, Verteidigungs- und Bündnisfall geben. „Wir investieren in die energetische Sanierung und Digitalisierung für die Krankenhaus‑, Hochschulklinik- und Pflegeinfrastruktur.“ Angestrebt ist mehr deutsche Gesundheits-Expertise in globalen Gremien wie WHO und UNAIDS sowie mehr Zusammenarbeit bei der Krankheitsbekämpfung im Globalen Süden.
Gezielt in den Blick nehmen will das Bündnis die Gefahr, die von neuen synthetischen Drogen herrührt. Um deren Folgen entgegenzuwirken ist eine „gemeinsame Kraftanstrengung“ mit Prävention, Hilfe und Substitution geplant. Um insbesondere Kinder und Jugendliche vor Alltagssüchten zu schützen, sind auch hier Präventionsmaßnahmen angedacht – ebenso eine Regelung zur Abgabe von Lachgas sowie GHB/GBL, den sogenannten „K.o.-Tropfen“.