„Werfen wir einen Blick auf die Lage in Deutschland, so scheinen die Herausforderungen größer denn je“, merkte Prof. Dr. Volker Großkopf, Kongress-Initiator, Geschäftsführer der PWG-Seminare und Herausgeber der „Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen“ in seiner Begrüßungsrede zum Auftakt des 17. Interdisziplinären WundCongress (IWC) in den Kölner Sartory-Sälen an. Das „Aus“ der Ampelkoalition im Bund und die damit verbundene politische Unsicherheit bezüglich der Gesetzesvorhaben, wie jenes zur Gründung des Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM), die nun auf der Strecke zu bleiben drohen, verschlechterten die Rahmenbedingungen deutlich.
Zudem steht in der Wundversorgung in aller Kürze, am 2. Dezember, das faktische „Aus“ für moderne Wundversorgungsprodukte wie beispielsweise Gele, honig- oder silberhaltige Verbandmittel an. Denn ab jenem Stichtag werden die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für diese Mittel höchstwahrscheinlich nicht mehr übernehmen, obwohl sie nach einstimmigen Anwenderaussagen einen zusätzlichen therapeutischen Nutzen gegenüber klassischen Verbänden und Pflastern erbringen. All diese Entwicklungen seien zwar besorgniserregend, so Großkopf, „zugleich werfen sie aber auch die Frage auf, wie wir unsere Versorgungsstrategien anpassen können.“
IWC 2024: Neuer Teilnehmerrekord
Neuerungen und Erfolg versprechende Ansätze, die Wundversorgung zu verbessern, standen im Zentrum des IWC-Programms. Rund 1.300 Teilnehmende, davon 1.100 live vor Ort und etwas über 200 online zugeschaltet, bedeuteten einen neuen Rekord in der Geschichte des seit 2008 stattfindenden Kongresses, der traditionsgemäß im etablierten Kölner Veranstaltungszentrum Sartory durchgeführt wurde. Das Präsenz-Kontingent war komplett ausverkauft; die online zugeschalteten Gäste nahmen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien, Spanien und sogar aus dem fernen Kanada teil.
Neben dem ganztägigen Hauptprogramm im großen Saal des Sartory fanden, verteilt über die übrigen Räume des Kongresszentrums und des räumlich verbundenen Mercure-Hotels, sieben Satellitensymposien statt. In sämtlichen Foyers sowie dem Ostermann-Saal, dem zweitgrößten Veranstaltungsraum des Sartory, lockte die branchenumfassende Industrieausstellung.
„Eine erfolgreiche Wundbehandlung braucht Empathie, Phantasie, Eigenverantwortung, Querfinanzierung – und einen kleinen Grenzverkehr“, proklamierte PD Dr. Gunnar Riepe, Facharzt für Chirurgie und Gefäßchirurgie sowie Chefarzt am Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein Heilig Geist Boppard, in seinem Vortrag „Wunden erkennen, Grenzen überwinden, Heilung fördern – Wundversorgung ist Teamarbeit“. „Das heißt, man muss manchmal Sachen machen, wo man gar nicht weiß, ob man sie darf. Das mit dem Gängeln klappt ja schon in der Politik nicht. Wieso sollte es bei der Arbeit mit Patienten funktionieren?“, so der humorige Mediziner, der im Schottenrock auftrat.
Er brachte mutige Fallbeispiele, wie das einer Seniorin, deren Unterschenkel durch eine klaffende Riesenwunde zur Hälfte verschwunden war, er es mit seinem Team aber schaffte, die Dame durch Zuwendung und Ansprache in ein funktionierendes Therapie-Regime einzubinden – und die katastrophale Wunde über die Jahre in einen erträglichen Zustand zurückzuversetzen. „Machen ist wie Wollen, nur krasser! Tun Sie es einfach, Sie werden es genießen“, so Riepe, der auch Mitentwickler der bekannten „Wund-Uhr“ ist.
Neue Versorgungsmodelle helfen, Wundbehandlung zu verbessern
Heike Senge, Gründerin und Geschäftsführerin der Pflegeakademie Niederrhein sowie Mitbetreiberin des, auf die Wundversorgung zugeschnittenen E‑Learning-Portals FIP kam in ihrem Vortrag „Die Zukunft der Wundversorgung – Umgang mit der Irrationalität“ ebenfalls auf die Bedeutung der Patienten-Kommunikation zu sprechen. „Da sitzt manchmal jemand mit schmerzverzerrtem Gesicht und behauptet, er habe keine Schmerzen – Schmerzskala Null. Das liegt mitunter daran, dass der Patient Angst vor der Intervention hat. Dies führt natürlich dazu, dass es zu einer Ungleichbehandlung zwischen den Patienten kommt“ – nämlich denen, die ihre Bedürfnisse klar benennen, und jenen, die dies nicht tun.
Ein weiteres wichtiges Thema seien interdisziplinäre Netzwerke und Teampraxen, die dabei helfen, die Versorgung zu verbessern. Dies tue dringend Not. „Der größte deutsche Pflegedienst wird von den Angehörigen zu Hause getragen. Sie sind es, die Hilfe brauchen.“
Hierzu liefen vielversprechende Pilotprojekte, wie das Netzwerk „Gesunde Kommune“ im niederrheinischen Kreis Viersen, die Gemeinde-Notfallsanitäter, die durch ihre Arbeit in den Kommunen Rettungswagen-Einsätze reduzierten und Notaufnahmen entlasteten, oder das Projekt „HÄPPI“-Teampraxis an der Universität Heidelberg, die allesamt darauf abziehlen, den wachsenden Versorgungsdruck durch interprofessionelle Zusammenarbeit zu bewältigen – unter anderem durch Delegation von medizinischen Aufgaben an nichtärztliches Personal. „Die Pflege ist in der Überzahl. Wir sollten uns darauf besinnen, was wir wollen und was wir können!“
Sexualität und chronische Wunden – ein heikles Thema
Dem Thema Sexualität von Menschen mit chronischen Wunden hat sich Gabriele Stern, Krankenschwester und Wundtherapeutin sowie Inhaberin eines Ambulanten Therapiezentrums im münsterländischen Bocholt gewidmet. Als sie mit ihren Forschungen zum Thema anfing, betrat sie komplettes Neuland, denn es habe weltweit keine Literatur über Sexualität bei chronischen Wunden gegeben. „Ich habe die erste Datenlage in Europa zu diesem Thema gemacht, es gab keine andere“, erzählte sie in ihrem Referat „Let’s talk about Sex – Sexualität mit chronischen Wunden: Eine Frage von Identität, Körpergefühl und Körperwahrnehmung“.
Sexualität gehöre zum Menschen, das sei nicht anders bei jenen, die unter chronischen Wunden leiden würden, betonte Stern, die durch ihre Pionierarbeit scherzhaft als „Erika Berger von Bocholt“ bekannt ist. Menschen mit chronischen Wunden könnten auf Partner oder sexuelle Bekanntschaften optisch abschreckend wirken, hinzu komme oft ein unangenehmer Wundgeruch sowie mögliche, durch die Verletzung bedingte Schmerzen während des sexuellen Akts.
Um so wichtiger sei es, mit den Patienten über das Thema zu reden, was aber vielen Behandlern schwerfalle. Ihrer Meinung nach geben Patienten, wenn sie ins Krankenhaus kommen, ihre Sexualität an der Pforte ab, sie haben auf einmal keine mehr. „Es ist aber wichtig, dem Thema Raum zu geben, auch in der Pflege“, so Stern. Das Sprechen mit Wundpatienten über ihre sexuellen Wünsche und Beschwerden helfe, viel Leid zu verhindern. Dies könne auch bedeuten, sich über alternative, schonendere Stellungs-Möglichkeiten auszutauschen oder gezielt mechanische beziehungsweise medizinische Hilfsmittel einzusetzen, um etwa das „Standvermögen“ zu verbessern oder das weibliche Geschlechtsorgan zu weiten.
Im weiteren Programm des IWC 2024 debattierte Prof. Dr. Volker Großkopf unter dem Titel „Das Wundmanagement im 21. Jahrhundert“ mit Protagonisten aus Pflege und Medizin über Effizienz und Sinnhaftigkeit gesetzlicher Maßnahmen in der Wundversorgung. Prof. Dr. Joachim Dissemond, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie am Universitätsklinikum Essen, gab einen Einblick in medizinische und rechtliche Fragen des Débridements und erläuterte die verschiedenen Techniken der Wundreinigung.
Den Abschluss machte Carsten Hampel-Kalthoff. Der Wundexperte und ausgewiesene Kenner der Versorgungsstrukturen berichtete in „Der spezialisierte Pflegedienst in der Versorgung chronischer Wunden – Durchbruch oder Fehlschlag?“ von seinen Erfahrungen als Geschäftsführer eines solchen Dienstes, den er nach Inkrafttreten der entsprechenden Regelungen 2021 in Dortmund gegründet hatte. Ausdrücklich begrüßte Hampel-Kalthoff die Etablierung der spezialisierten Einrichtungen in der Wundversorgung.
Wundversorgung konkret – komplexe Versorgungssituationen im Blick
Die Heidenheimer Paul Hartmann AG lud die Teilnehmer zu dem Symposium „Wunde in Balance“ ein, in dem die komplexen medizinischen Zusammenhänge der Ätiologien des Ulcus cruris venosum und des Diabetischen Fußulcus thematisiert wurden. Der ärztliche Wundexperte Dr. Tino Breitfeld belegte seine Behandlungserfolge mit eindrücklichen Fallbeispielen, während Dr. Alexander Risse sich in seinem Vortragsteil auf die Versorgung der Patienten mit einem „Charcot-Fuß“ konzentrierte. Zeynep Babadagi (M.Sc. Wound Care Management), Betreiberin eines ambulanten Pflegedienstes in Duisburg, der sich auf kultursensible Pflege spezialisiert hat, rundete das Thema mit einem empathischen Beitrag zur effektiven Gestaltung des multiprofessionellen Behandlungsteams ab.
Das Satellitensymposium von Smith&Nephew verdichtete das Wissen rund um die wundbezogene Therapie bei einem diabetischen Fußsyndrom mit einem Vortrag des praktizierenden Fachtherapeuten Wunde Michael Horst. Nach seine Ausführungen ist die Erkennung und das Management von Infektionen im Bereich der Füße eine der großen Herausforderungen für das medizinische Personal. Die WK-MedTec GmbH wiederum brachte in ihrem Workshop „Benebeln, heilen, verblüffen – Kaltplasma-Aerosol als Ergänzung in der Lokaltherapie“ die neuartige, vielversprechende Methode des Kaltplasma-Einsatzes in der Wundbehandlung den Gästen näher.
Dr. Sebastian Nilewski und Marc Heilfort von der URGO GmbH, die der gleichnamigen französischen Unternehmensgruppe angehört, stellten in ihrem gut besuchten Symposium ein ganzheitliches Behandlungskonzept zur Versorgung von Ulcus-cruris-Patienten vor, das auf den aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien basiert. Zentrale Elemente der Kausaltherapie sind nach ihren Ausführungen die Anwendung des Mehrkomponentensystems Urgo K1 zur Verbesserung des venösen Rückflusses und der lokaltherapeutische Einsatz der TLC-NOSF-Wundauflagen.
Der international führende Hersteller von Medizin- und Hygieneprodukten Lohmann&Rauscher aus dem rheinland-pfälzischen Rengsdorf stellte in seinem stark besuchten Symposium „Zeitenwende in der Wundversorgung und Kompressionstherapie“ seine therapeutischen Angebote zur Behandlung von Menschen mit Ödemen und Wunden im Bereich der unteren Extremitäten vor.
Claudia Schatz, Leitung der Abteilung „Wundmanagement“ am Münchener Klinikum rechts der Isar präsentierte der interessierten Zuhörerschaft in einem praxisorientierten Vortrag die korrekte Anwendung der Banadagierungstechnik, um den therapeutisch relevanten Druck zur Entstauung herzustellen. Nach Claudia Schatz werden die Hautkontakt‑, Polsterschicht- und Kompressionseigenschaften äußerst günstig in der neu entwickelten 3‑in 1‑Kurzzugbinde Rosidal vereint, wodurch eine effektive Therapie bei gleichzeitiger Reduktion der Anzahl benötigter Verbandmaterialien ermöglicht wird.
Rauchstopp von Wundpatienten lohnt sich – auch mit Alternativen zur Zigarette
Welchen günstigen Einfluss Nikotin-Alternativen zur Zigarette in der Wundbehandlung bieten können, zeigten Prof. Dr. Andreas Nüssler vom Universitätsklinikum Tübingen und Dr. Alexander Nussbaum, Head of Medical and Scientific Affairs bei der Philip Morris GmbH, bei einem weiterem Satellitensymposium: „Rauchen, eine Kontraindikation bei der Wundheilung – Rauchstopp als einzige Option?“ von Philip Morris International (PMI). Der Konzern, der Welt-Marktführer bei Zigaretten ist, will erklärtermaßen in mittlerer bis ferner Zukunft keine herkömmlichen Zigaretten mehr verkaufen und forciert Substitutionsprodukte wie E‑Zigaretten und Tabakerhitzer, die ohne Verbrennung und Tabakrauch auskommen.
Wie Nüssler in seinem wissenschaftlichen Vortrag mit der Auswertung von Laboruntersuchungen darlegte, hätten die Verbrennungsprodukte von Tabak einen massiv schädlichen Einfluss auf die Heilung eines Knochenbruchs sowie die Wundheilung, weil er unter anderem durch die Bildung von „Freien Radikalen“ oxidativen Stress im Körper erzeuge. Doch dieser Effekt zeige sich bei der Verwendung von pharmazeutischen Nikotin-Ersatzprodukten – z.B. Kaugummis oder Pflaster – in klinischen Studien nicht. Zigarettenalternativen wie E‑Zigaretten und Tabakerhitzer wiederum regten in Prof. Nüsslers Laboruntersuchungen die Bildung freier Radikale nur in sehr geringer Form im Verlgeich zum Zigarettenrauch an. Solche Alternativen könnten daher eine mögliche Option für orthopädische Raucherpatienten darstellen, die für die beste Option Rauchstopp nicht bereit sind.
Wenngleich das komplette Aufhören immer die beste Option sei, falle dies etlichen Rauchern eben zu schwer, es komme zu Rückfällen und man habe nichts gewonnen. „Wir versuchen das Konzept der Zigaretten-Substitution in der Klinik zu verfolgen, um eine bessere Heilung bei den Patienten herbeizuführen.“ Dr. Nussbaum, der seit 2016 für PMI tätig ist, betonte im Anschluss die Bedeutung von Zigaretten-Ersatzprodukten bei der Zurückdrängung des „klassischen“ Rauchens. Denn für den Rauchstopp ist aktuell nur eine Minderheit der Raucherinnen und Raucher in Deutschland motiviert.
Abgerundet wurde das diesjährige Kongressprogramm durch eine Begleitveranstaltung der Berufsgenossenschaft für die Gesundheitsdienste und Wohlfahrtspflege (BGW), in der unter dem Motto „Gesunde Pflege – Ein Widerspruch“ den Zuhörern Tipps und Tricks zur arbeitnehmerfreundlichen Gestaltung der Arbeitsplätze „Krankenhaus, Pflegeheim und ambulanter Pflegedienst“ an die Hand gereicht wurden. Ein Praxisbeispiel für eine intelligente Pflegedokumentation mittels Spracheingabe stellte Christian Potthoff von der Diakonie Michaelshoven der interessierten BGW-Zuhörerschaft vor.
Die nächste Auflage des Interdisziplinären WundCongress wird am Donnerstag, 27. November 2025 stattfinden, wiederum im Kölner Sartory. Das vorläufige Programm des IWC 2026 ist auf der Kongress-Website abrufbar.